Ödipus und Antigone waren nach langer Wanderung im Haine von Kolonos angelangt, wo die Athener die Erinyen [1] verehrten. Die Bewohner des nahe gelegenen Dorfes hatten große Ehrfurcht vor dem blinden Ödipus, der in seiner Verbannung noch so mächtig erschien. Darum ließen sie ihn und seine Töchter vorerst in Ruhe ausharren, obwohl der Ort geheiligt war.
Ödipus hatte aber einen Dorfbewohner zu Theseus geschickt, dem König von Athen. Dieser folgte der Bitte des Ödipus und kam herbei. Theseus ging freundlich und ehrenvoll auf den blinden Fremdling zu und sprach: "Armer Ödipus, mir ist dein trauriges Geschick wohl bekannt, und deine geblendeten Augen sagen mir, wen ich vor mir habe. Sage mir, was du hier in der Nähe von Athen suchst."
"Ich erkenne die Aufrichtigkeit in deinen Worten", antwortete Ödipus. "Darum will ich dir eine Bitte vortragen, die eigentlich eine Gabe ist. Ich schenke dir meinen leidgeprüften Leib. Dies ist ein unscheinbares Gut, und doch wird es für dich von großem Wert sein. Begrabe mich, und du wirst reichen Segen für deine Mildtätigkeit erhalten!"
"Fürwahr", gab Theseus zur Antwort, "diese Gunst, um welche du flehst, ist klein. Verlange etwas Besseres, etwas Höheres, und es soll Dein sein." "Die Gunst ist bei weitem nicht so leicht, wie du glaubst", fuhr Ödipus fort. "Du wirst einen Streit um meinen elenden Leib austragen müssen."
Dann erzählte Ödipus von seiner Verbannung und von den bösen Absichten seiner Verwandten, die ihn gewaltsam entführen wollten. Als dieses gesagt war, erfasste Ödipus die Hand von Theseus und bat ihn flehentlich um Beistand. Theseus hatte aufmerksam zugehört und sprach feierlich: "Mein Haus steht jedem ehrlichen Mann in Gastfreundschaft offen. Schon darum darf ich meine Hand nicht von dir nehmen. Und warum sollte ich dir die Hand verweigern, bist du doch mit Hilfe der Götter an meinen Herd gelangt!"
Theseus ließ Ödipus nun die Wahl, mit ihm nach Athen zu ziehen oder hier im Haine von Kolonos als Gast zu bleiben. Ödipus wählte das Letztere, weil ihm vom Schicksal vorbestimmt war, hier den Sieg über seine Feinde zu erringen und sein Leben rühmlich zu beschließen. Dann stellte Theseus ihn vor den versammelten Menge unter seinen königlichen Schutz und kehrte nach Athen zurück.
Erklärungen:
[1] Die Erinyen sind Rachegöttinnen. Sie verfolgen Mörder und Meineidige, und treiben diese mit ihrem fürchterlichen Anblick in den Wahnsinn. Bei den Römern sind es die Furien.