Der Tag darauf war ein Sonntag. Die Kinder, die an der Halde wohnten, mußten nach Beckenried hinunter zur Kirche. Trotz des langen Weges gingen die Kinder jeden Sonntag zum Religionsunterricht, denn der Herr Pfarrer hielt fest an der alten Ordnung. So kam eben jetzt die ganze Schar den Berghang herunter, und bald saßen sie alle mit anderen Kindern so ruhig wie möglich auf den langen Bänken, und der Herr Pfarrer konnte beginnen. Er sagte, er habe ihnen das letztemal von einem zukünftigen Leben gesprochen, und da sein Blick eben auf den This fiel, fuhr er fort: “Ich will dich auch einmal wieder etwas fragen, das wirst du wohl beantworten können, wenn man dir auch nicht viel zutrauen kann. Sag mir: Wo wird es denn einmal auch dem Ärmsten und Geringsten unter uns, wenn er ein frommes Leben geführt hat, so wohl werden, daß er kein Leid verspürt?”
“Bei der Schwemmebachsennhütte”, antwortete der This ohne Zögern. Jetzt entstand ein solches Kichern, daß der This ganz scheu um sich schaute. Ringsum waren spöttische Blicke auf ihn gerichtet, und alle Kinder wollten vor verhaltenem Lachen ersticken. Der This beugte sich so stark vornüber, als wollte er in den Boden hineinkriechen. Von dem, was der Herr Pfarrer das letztemal erklärte, hatte er nichts gehört, weil er sich immer gegen heimliche Angriffe wehren mußte. Jetzt hatte er auf die Frage ganz nach seiner eigenen Erfahrung geantwortet.
Der Herr Pfarrer schaute ihn fest an. Als er aber sah, daß es dem This gar nicht zum Lachen war, sondern daß er vor Scheu ganz erschrocken und zusammengeduckt dasaß, da schüttelte der Herr Pfarrer nur ganz bedenklich den Kopf und sagte: “Es ist nichts mit ihm zu machen.”
Als aber die Religionsstunde zu Ende war, da stürzte die ganze Schar hinter dem This her, alle lachten überlaut und schrien durcheinander: “This, sind dir auf einmal in der Kirche die Käsfische in den Sinn gekommen?”
“This, warum hast du nicht auch etwas von den Käsfischen gesagt?” Der This lief wie ein gejagtes Kaninchen davon, um nur endlich dem Geschrei zu entfliehen, rannte keuchend den Berghang hinauf. Oben wurde er nun nicht mehr verfolgt. Denn die anderen wollten den schönen Sonntagabend unten im Dorf genießen.
Der This lief immer weiter hinauf. Er hatte bei allem Leid jetzt einen Trost im Herzen. Er konnte zur Schwemmebachsennhütte hinaufflüchten und dort das freundliche Gesicht des Franz Anton sehen. Ganz still konnte er dort an seinem verborgenen Plätzchen sitzen und vor Verfolgung sicher sein. Nun saß er wieder unter den Tannen und über ihm sang der Vogel sein Lied. Die Schneeberge glitzerten in der Sonne, und über den grünen Hängen floß da und dort ein klares Bächlein friedlich ins Tal hinab. Dem This wurde es so wohl, daß er allen Spott vergaß und nur den einzigen Wunsch empfand, gar nicht mehr weggehen zu müssen.
Von Zeit zu Zeit erblickte er auch den Franz Anton, nach dem er beständig ausschaute. Dann duckte er sich aber so tief wie möglich nieder. Denn er hatte das Gefühl, wenn der Franz Anton ihn wieder hier sehe, so könnte er meinen, er sei gekommen, um wieder ein Butterbrot zu bekommen. Und er kam doch nur, weil er der erste und einzige Mensch war, der freundlich und liebevoll zu ihm gewesen, und in dessen Nähe es ihm so wohl und sicher zumute war, wie sonst nirgends auf der Welt. Der Senn entdeckte ihn auch heute nicht, und This saß an seinem schönen Plätzchen, bis die Sterne am Himmel standen und der Franz Anton wieder wie gestern vor seine Hütte hinaustrat und ausrief: “Gute Nacht geb euch Gott!” Dann erst lief der This wieder davon, und spät wie gestern kam er auf sein Lager, diesmal recht hungrig, denn seit dem Morgen hatte er ja nichts mehr gegessen. Aber das war dem Buben heute ganz gleich, er hatte sich ja so wohl gefühlt dort oben.
So ging es eine ganze Woche. Tag für Tag, sobald er einen Augenblick fand, da niemand ihn sehen und vermissen konnte, lief der This die Alm hinauf und setzte sich unter seine Tannenzweige. Von da beobachtete er die ganze Tätigkeit des Sennen von einer Minute zur anderen. Und nie verließ er seinen friedlichen Aufenthalt, bis der Franz Anton gesagt hatte: “Gute Nacht geb euch Gott!” Es war ihm jetzt immer, als sei der Nachtsegen auch für ihn gedacht.
Es waren ausnahmsweise heiße Tage. An dem wolkenlosen Himmel stieg jeden Morgen die Sonne wieder so hell empor, wie sie am Abend niedergegangen war. Das Futter war besonders kräftig, und Franz Anton bekam so schöne, fette Milch von den Alpenkühen, daß er die prächtigsten Käse daraus herstellen konnte. Das machte ihm Freude, und schon frühmorgens konnte man ihn voller Vergnügen in seiner Sennhütte pfeifen hören, so auch am Samstag dieser Woche. Da hörte man ihn noch viel früher als sonst, denn es war einer der Tage, an dem der Senn seine drei oder vier fertigen Käse an den See hinunterbrachte. Dort wurden sie in eines der Schiffe verladen. Bald hatte er sie auf seinem Rücken festgebunden und wanderte nun wohlgemut talabwärts, den dicken Bergstock in der Hand, die schwere Last auf dem Rücken. Es war der heißeste Tag des ganzen Sommers.
Je weiter hinunter er gelangte, je mehr plagte ihn die übermäßige Hitze, und oft sagte er zu sich: “O wie will ich froh sein, heute abend wieder zu meiner Hütte hinauf in die kühle Luft zu kommen, hier unten ist’s wie in einem Backofen.” Jetzt war er unten angelangt, gerade als das Schiff herankam, das die Käse mitnehmen sollte. Bald war alles verladen, und Franz Anton stand einen Augenblick unschlüssig da, ob er gleich wieder den Berg hinaufsteigen, oder erst hier unten etwas zu sich nehmen wollte. Aber er fühlte keinen Appetit, sein Kopf war schwer und heiß, er wünschte sich nur hinaufzukommen. Da zog ihn jemand am Arm. Es war einer der Schiffsangestellten, der eben beim Einladen geholfen hatte. “Komm, Franz Anton, heute ist’s heiß, wir wollen ein Glas Wein im Schatten trinken”, sagte er und zog den Senn zu dem Wirtshaus.
Der Franz Anton war durstig und weigerte sich nicht, hier ein wenig im Schatten zu sitzen. Er trank sein Glas in einem Zug aus. Dann aber stand er bald auf und sagte, es werde ihm ganz unwohl hier unten in der schweren, heißen Luft und er sei an kalte Milch und Wasser, nicht an den Wein gewöhnt. Damit verabschiedete er sich und ging mit großen Schritten auf den Berghang zu. Aber so schwer war ihm das Steigen in seinem Leben noch nie gefallen. Die Mittagsonne brannte heiß auf seinen Kopf, alle seine Pulse hämmerten, die Füße wurden ihm so schwer, daß er sie nur mit Mühe heben konnte. Je steiler die Alm wurde, je größer wurden seine Schritte. Und er spornte sich selbst mit der Aussicht an, daß nur noch eine Stunde, dann nur noch eine halbe, jetzt nur noch eine Viertelstunde heißer Mühe vor ihm liege. Dann würde er oben sein und könne sich zum Ausruhen auf das frische Heu werfen.
Jetzt war er am letzten steilen Aufstieg angekommen. Die Sonne brannte wie Feuer auf seinen Kopf. Plötzlich wurde es ihm völlig schwarz vor den Augen, er schwankte, und schwer stürzte er auf den Boden nieder. Er hatte das Bewußtsein verloren.
Als am Abend der Melker mit seiner Milch in die Stube trat, sah er, daß der Franz Anton noch nicht zurückgekehrt war. Er stellte seine Milch in eine Ecke und ging fort. Er dachte nicht daran, nach dem Senn auszuschauen.
Es war aber noch jemand da oben, der hatte schon lange auf den Franz Anton gewartet, das war der This. Schon seit ein paar Stunden hatte er an seinem verborgenen Plätzchen gesessen. Er kannte jeden Schritt, den der Senn tat. Er wußte, wie eine Beschäftigung auf die andere folgte, so daß er sich nicht genug wundern konnte, wie lange heute der Franz Anton seine Milch stehen ließ. Sonst goß er sie immer gleich in die verschiedenen Gefäße. Die eine kam zum Buttern in die großen, runden Becken, wo sie stehenblieb, bis aller Rahm schön dick obenauf lag. Die andere wurde in den Käsekessel gegossen, das hatte der This durch die offene Hüttentür alles genau beobachten können. Der Senn kam immer noch nicht. Der Junge fühlte, daß irgend etwas geschehen sein mußte. Er kam jetzt leise aus seinem Versteck heraus und ging zur Sennhütte. Da war es still und leer unten im Hüttenraum und oben auf dem Heuboden. Kein Feuer prasselte unter dem Kessel, kein Laut war zu hören, alles wie ausgestorben. Ängstlich lief der This jetzt um die Hütte herum, einmal hinunter, dann wieder herauf und dann in einer anderen Richtung wieder hinab. Jetzt auf einmal—dort unten erblickte er den Franz Anton, der am Boden lag. This sprang hinzu—da lag sein Freund mit geschlossenen Augen und stöhnte und lechzte wie ein Sterbender. Er sah glühend heiß aus, und seine Lippen waren ganz vertrocknet.
Der This stand einen Augenblick still und starrte, bleich vor Schrecken, auf seinen Wohltäter. Dann stürzte er in schnellem Lauf den Berg hinunter. Franz Anton hatte viele Stunden lang bewußtlos am Boden gelegen. Ein schreckliches Fieber hatte ihn ergriffen. Er litt an einem verzehrenden Durst. Von Zeit zu Zeit kam es ihm in seinem brennenden Verlangen vor, er komme zum Wasser und wolle sich bücken und trinken. Und von der Anstrengung erwachte er für einen Augenblick, denn es war nur ein Fiebertraum gewesen.
Er lag immer noch auf dem Boden und konnte sich nicht rühren. Vergebens lechzte er nach einem Tropfen Wasser. Dann schwand ihm das Bewußtsein wieder, und er träumte, er liege unten im Sumpfloch, wo er heute früh im Vorübergehen noch die schönen Erdbeeren gesehen hatte. Da standen sie noch. Oh, wie sehnte er sich danach! Er wollte die Hand ausstrecken, aber vergeblich, er konnte keine greifen. Aber jetzt hatte er plötzlich eine im Mund. Ein Engel kniete da und hatte sie ihm gegeben—und noch eine und noch eine. Oh, wie tat ihm der Saft gut in dem ausgetrockneten Gaumen! Der Franz Anton schlürfte und schluckte, es war ein unsägliches Labsal. Er erwachte. War das alles Wirklichkeit? Es war kein Traum. Da kniete neben ihm der Engel und steckte ihm wieder eine große saftige Erdbeere in den Mund.
“O du guter Engel, noch eine”, sagte leise der Franz Anton. Aber nicht nur eine, fünf, sechs steckte ihm der Engel in den Mund. Auf einmal flog ein stechender Schmerz über sein Gesicht. Er legte die Hand an die Stirn und konnte nur noch leise sagen: “Wasser”, dann war ihm das Bewußtsein wieder völlig entschwunden. Er konnte nicht einmal mehr die letzte Erdbeere genießen. Jetzt träumte er ganz schreckliche Dinge. Sein Kopf wurde so groß wie sein allergrößtes Butterfaß und dann immer noch größer und so furchtbar schwer, daß er mit Schrecken dachte: “Den kannst du nie mehr allein tragen, man muß starke, hölzerne Stützen unterstellen, wie unter die Apfelbäume, wenn sie zuviel Äpfel tragen.” Und jetzt fühlte er deutlich, daß der Kopf ganz voll Schießpulver war, das hatte einer von hinten angezündet. Nun brannte es da drinnen wie loderndes Feuer, und gleich mußte alles zerspringen. Aber dann kam plötzlich ganz kalt und belebend der Schwemmebach über seine Stirn, über das ganze Gesicht und in den Mund hineingeflossen, und Franz Anton schluckte und schluckte und erwachte.
Es war wahr, eiskalt kam ein Guß nach dem anderen auf Stirn und Gesicht. Dann kam etwas an seinen Mund, und er schlurfte gierig den kühlenden Trank ein. Über ihm standen die funkelnden Sterne, das sah der Franz Anton deutlich. Er wußte auch, daß er noch am Boden lag draußen auf der freien Alm. Aber das konnte doch nicht der Schwemmebach sein, was so über ihn floß und ihn so ordentlich trinken ließ. Er konnte nicht begreifen, was es war, aber es war so wohltuend, so erlösend von dem schweren Traum und dem schrecklichen Feuer. Voller Dank sagte er nur halblaut: “Ach, lieber Gott, wie danke ich dir für deine Güte und die hilfreichen Engel!”
Das erquickende Wasserbad hörte nicht auf, und zuletzt fühlte der Franz Anton eine kalte Masse auf seiner Stirn, so schützend und wohltuend, daß er sagte: “Da kann kein Feuer mehr durch.” Und beruhigt schlief er jetzt ganz sanft ein und träumte nicht mehr.