Eines Tages brachte der beste Dramatiker der Stadt sein Stück zur Theaterintendanz. Übrigens war er zugleich auch der schlechteste seiner Art, weil kein anderer dramatischer Schriftsteller in dem Städtchen lebte.
Das Stück war langweilig und schwach. Der Regisseur las es durch, schüttelte den Kopf und sagte zum Direktor:
»Sollen wir diesen Mist aufführen?«
»Wir wollen doch als nächste Novität den ›Sommernachtstraum‹ bringen?« bemerkte der Direktor.
»Was bietet uns der Autor des ›Sommernachtstraums‹? Ist er etwa gar tot?«
»Ja, er ist tot.«
»Hm – dann hat er also keine Freunde, keine Verwandten in unserer Stadt?«
»Nein.«
»Na, sehen Sie. Unser Dramatiker Asralow aber wird alle seine Bekannten, Verwandten, Kusinen und Tanten ins Theater locken. Wir werden zumindest fünf ausverkaufte Häuser haben.«
»Aber das Stück ist schwach.«
»Das weiß ich.«
»Gut – führen wir es also auf.«
So wurde das Stück »Die leidende Dulderin« am Theater angenommen.
*
Als das Publikum im Theater erschien, lenkte sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf die erste Reihe.
Dort saß ein biederer, älterer Herr mit struppigem Bart und großen Händen. Er trug einen alten, unmodernen Gehrock und fragte jeden vorbeigehenden Theaterdiener:
»Sag, wann beginnt die Vorstellung?«
»Die Vorstellung beginnt pünktlich um acht Uhr. Jetzt ist es dreiviertel acht.«
»Also um acht Uhr geht der Vorhang hoch?«
»Ja, mein Herr.«
Um acht Uhr sah das Publikum auf der Bühne einen Salon, dessen Rückwand das Innere eines allen Schlosses zeigte.
Die Heldin lag auf einem Sofa, blickte zur Decke und sprach: »Sechsundzwanzig Jahre leiden, und nicht ein einziger Lichtblick – oh, Wladimir, wo ist er jetzt? Irgendwo weit – in der lärmenden Hauptstadt. Und er fühlt nicht, wie ich hier in den Armen des ungeliebten Mannes leide! Dieses Ungeheuer hat mich zugrunde gerichtet.«
Sie nahm ein winziges Taschentuch und wischte sich die Augen ab.
Der Herr aus der ersten Reihe schüttelte bedauernd sein Haupt und seufzte laut, so daß man ringsum die Köpfe nach ihm wandte.
»Ja, so ist das Leben!« sagte er.
»Ruhe! – Sie stören die Vorstellung!«
»Aber meine Dame – da quält sich ein Mensch und Sie sehen ruhig zu? Das arme Ding!«
»Schweigen Sie!«
Auf der Bühne öffnete sich die Seitentür und ein alter Diener trat ein.
»Gnädige Frau!« sagte der Diener. »Warum weinen Sie schon wieder?«
»Was willst du, Hippolyt?« fragte die Heldin.
»Der Herr hat nach Ihnen gefragt. Er will eine Hypothek auf das Gut aufnehmen.«
»Ist er allein auf seinem Zimmer?«
»Nein. Mit der Schnapsflasche. Seit dem frühen Morgen trinkt er Wodka. Wir Diener wissen alles!«
Im Publikum lachte man. Der Herr in der ersten Reihe war begeistert. »Ein lustiger Kerl!« rief er aus.
»Schweigen Sie!«
»Bitte sehr!«
Die Heldin ging, vom Diener begleitet, durch die linke Tür ab. Die Bühne blieb einen Augenblick lang leer.
»Warum sind sie alle fortgegangen?« rief nervös der Herr aus der ersten Reihe. Er beruhigte sich aber sofort, als ein eleganter Mann ins Zimmer trat.
»Das ist sicher Wladimir!« rief er. »Na, jetzt wird der Wirbel losgehen!«
Wladimir begann: »Endlich bin ich hier, in diesen heiligen Räumen, wo sie leidet, wo sie vielleicht an mich denkt! Viele freudlose Jahre! Oh, Ludmilla – wo ist sie? Ah, ich höre Stimmen. Tss – ein rauher Baß und eine zarte, helle Frauenstimme – sie streiten. Das ist gewiß ihr Mann!«
»Gewiß!« rief der Herr aus der ersten Reihe.
»Schweigen Sie!«
»Bitte sehr!«
Wladimir fuhr fort:
»Wie könnte ich sie wissen lassen, daß ich in ihrer Nähe bin? Ah – eine Idee! Ich werde meine Visitenkarte in ein Taschentuch einwickeln und werde es auf den Diwan legen. Sie wird es finden und alles erraten. Ich werde später wiederkommen. Tss – ich höre Schritte!«
Der junge Mann führte sein Vorhaben aus und lief davon.
Der Herr aus der ersten Reihe schaute gespannt auf die Bewegungen des schönen Wladimir.
Jetzt kam die Heldin mit ihrem Gatten zurück.
»Und ich sage dir, du mußt eine Hypothek aufnehmen!«
»Unter keinen Umständen! Es würde uns zugrunde richten.«
»Ah, du weigerst dich?« rief wütend der Mann. »Wart nur!« Und er packte die Heldin am Arm.
»Lassen Sie mich! Sie tun mir weh – ich schreie! Hilfe! Hilfe!«
Der Herr aus der ersten Reihe stand auf, ging zur Bühne und sagte zum Gatten:
»Herr, gehen Sie nicht zu weit! Verstehen Sie – Herr!«
Im Publikum begann man zu lachen.
Der Theaterdiener näherte sich dem Herrn aus der ersten Reihe, führte ihn sacht an seinen Platz zurück und sagte:
»Im Theater muß man sich anständig aufführen. Man darf keinen Skandal machen.«
»Skandal? Und das ist kein Skandal? Eine schwache, hilflose Frau wird mißhandelt, und alle schauen gleichgültig zu!«
Er schüttelte mißmutig den Kopf und setzte sich. Gleich darauf begann er zu lächeln, als er sah, daß der böse Gatte vom eintretenden Diener zurückgehalten wurde.
»Gnädiger Herr – Sie mißhandeln neuerlich Ihre Frau. Lassen Sie das!«
Der Herr in der ersten Reihe begann stürmisch zu applaudieren und rief dem Diener zu:
»Bravo, Alter!«
»Werden Sie endlich den Mund halten?«
»Ich schweige ja!«
Der Gatte entfernte sich, die Dame ließ sich auf das Sofa nieder und begann zu weinen. Gedankenlos ergriff sie das Taschentuch Wladimirs und wischte sich die Tränen ab.
Der Herr in der ersten Reihe wurde immer erregter, er wollte der Heldin etwas zurufen, aber als der Theaterdiener sich ihm näherte, hielt er sich zurück und sagte nur halblaut:
»Mein Gott, sie bemerkt die Visitenkarte nicht. Warum macht sie bloß das Taschentuch nicht auf?«
Die Heldin erhob sich weinend und ging auf und ab. Das Taschentuch entfiel ihrer Hand und blieb in der Mitte der Bühne liegen. Sie sagte schmerzlich:
»Braucht er mich denn? Er braucht mein Gut, mein Geld.«
Der Herr aus der ersten Reihe erzitterte, als er das Taschentuch fallen sah. Die Dame hatte den Türgriff schon gefaßt, als er sich halb von seinem Sitz erhob und ihr zurief:
»Gnädige Frau, Sie haben Ihr Taschentuch verloren! Heben Sie es auf, sonst ist das Unglück da!«
Die Heldin hörte seine warnende Stimme nicht. Sie lief eilig aus dem Zimmer.
Im Zuschauerraum ertönte Lachen, das immer mehr um sich griff. Man schaute kaum mehr zur Bühne, sondern beobachtete den temperamentvollen Herrn aus der ersten Reihe mit Wohlgefallen.
Neben ihm stand wieder der Theaterdiener und sprach auf ihn ein.
»Herr, beruhigen Sie sich. Man wird Sie sonst zwingen, das Theater zu verlassen.«
»Belästigen Sie mich nicht! Ich wollte die Dame bloß warnen. Sie hat ihr Taschentuch verloren und bemerkt es nicht.«
»Herr, ich sage es Ihnen zum letztenmal. Verhalten Sie sich anständig!«
Der Gatte trat ein. Er ging suchend im Zimmer umher. Plötzlich bemerkte er das Taschentuch.
»Wie? Was? Dieses Tuch! Eine Visitenkarte! Wladimir? Ah, Verruchte, jetzt hast du dich verraten!«
Er blickte sich wütend um und rief:
»Ludmilla!«
Die Heldin trat ein.
»Also, er ist hier!« rief der Gatte. »Ich weiß alles. Ihr seid in meiner Hand. Kein Wort der Rechtfertigung! Halt, ich höre Schritte. Setz dich auf den Diwan, und ich werde mich hinter der Portiere verstecken!«
Als Wladimir eintrat, bekam der Herr in der ersten Reihe beinahe einen Tobsuchtsanfall. Er deutete auf die Portiere, er hustete so laut, daß nur ein Tauber keine Gefahr merken konnte.
Aber Wladimir bemerkte nichts.
Er bewegte sich nachdenklich auf und ab, dann hob er sein Haupt, bemerkte Ludmilla und rief:
»Mein Gott – Ludmilla, Täubchen, ich bin zu dir auf den Flügeln der Liebe geeilt. Jetzt liege ich zu deinen Füßen. Warum schweigst du? Liebst du mich nicht mehr?«
Hinter der Portiere erschien der Mann. Er hielt einen Dolch in der Hand, aber Wladimir sah den Mann nicht und wußte nicht, in welcher Gefahr er schwebte.
Für seine Sicherheit sorgte der Herr aus der ersten Reihe. Er sprang auf wie besessen und schrie mit wilder Stimme:
»Wladimir, retten Sie sich! Hinter Ihnen steht der Mann mit dem Dolch. Retten Sie sich!«
Ein Lachsturm durchbrauste das ganze Theater, nur der verlegene Wladimir rief von der Bühne dem Theaterdiener zu:
»Diener, führen Sie den Herrn hinaus!«
»Laßt ihn doch!« riefen Stimmen aus dem Publikum. »Er amüsiert den ganzen Saal.«
»Polizei!« rief der Herr aus der ersten Reihe, »man will einen Menschen töten! Polizei!«
Der Vorhang fiel.
Der Theaterdiener führte den Herrn aus der ersten Reihe hinaus.
*
Als der zweite Akt begann, rief eine Stimme:
»Wo ist denn der Herr aus der ersten Reihe?«
»Man hat ihn aus dem Theater gewiesen, weil er die Vorstellung gestört hat«, erwiderte ein anderer.
»Hinausgeworfen? Dann gehen wir.«
Am Ende des zweiten Aktes verließ ein Teil der Zuschauer den Saal, und zu Anfang des dritten waren kaum noch fünfundzwanzig Personen anwesend.
Das Stück fiel durch.
»So ein Lump!« sagte der Regisseur zum Direktor. »Er hat uns das ganze Stück verdorben.«
»Hm«, meinte der Direktor. »Wenn aber dieser Lump bereit ist, für ein entsprechendes Honorar jeden Tag seine Komödie im Publikum aufzuführen, würden wir mindestens zehn ausverkaufte Häuser haben.«
»Damit wird der Autor nicht einverstanden sein.«
»Na, sehen Sie! Damals sagten Sie, daß ein lebender Dichter besser sei. Hätten wir aber den ›Sommernachtstraum‹ angesetzt, dann könnten wir uns den Spaß erlauben. Auf den Autor brauchten wir dann jedenfalls keine Rücksicht zu nehmen!«