Später.
Das Meer hatte während eines ganzen Jahres geebbt und geflutet. Ein ganzes Jahr waren die Winde gekommen und gegangen; die Zeit hatte ihre rastlose Arbeit getan in Sturm und Sonnenschein. Während eines ganzen Jahres waren die Fluten menschlicher Zufälligkeiten in den ihnen angewiesenen Strömungen fortgegangen. Während eines ganzen Jahres hatte das berühmte Haus Dombey und Sohn einen Lebenskampf gekämpft gegen widrige Zufälle, zweifelhafte Gerüchte, verunglückte Wagnisse und ungünstige Zeiten, am meisten aber gegen die Betörung seines Hauptes, das seine Unternehmungen nicht um eine Haaresbreite beschränken und nie dem warnenden Winke Gehör schenken wollte, das so hart gegen den Sturm gedrängte Schiff sei schwach und vermöge ihn nicht auszuhalten. Das Jahr war um, und das große Haus fiel.
An einem Sommernachmittag, nicht völlig ein Jahr nach der Hochzeit in der Citykirche, summte und flüsterte man auf der Börse von einem großen Bankrott. Ein dort wohlbekannter, kalter, stolzer Mann war nicht zugegen und auch durch niemand vertreten. Am nächsten Tage verbreitete sich da« Gerücht, Dombey und Sohn habe seine Zahlungen eingestellt, und am Abend darauf stand dieser Name obenan auf der Liste der Bankrotten.
Die Welt war in der Tat jetzt sehr geschäftig und wußte gar viel zu sagen. Es war eine unschuldige, leichtgläubige, eine viel mißhandelte Welt – eine Welt, in der es nie Bankrotte anderer Art gegeben hatte. Man erblickte darin keine Personen, die weit und breit auf mürben Ufern von Religion, Patriotismus, Tugend und Ehre Geschäfte machen. Es gab keinen auch nur des Zeitungspapiers werten Betrag, von dem dieser und jener sich recht hübsch durchbrachte – wir meinen, einen Betrag von Tugenden, der wohl versprochen, aber nicht bezahlt wird. Es gab nirgends und in nichts eine Verkürzung, als im Gelde. Die Welt war in der Tat sehr aufgebracht, und namentlich zeigten sich diejenigen besonders entrüstet, die in einer schlechteren Welt selbst des moralischen Bankrotts verdächtig gewesen wären.
Für den armen Spielball der Umstände, Mr. Perch, den Ausläufer, gab es jetzt neue Verlockung zu einem ungeregelten Leben. Das Schicksal schien diesen Mann dazu bestimmt zu haben, daß er stets aufwachen und sich berühmt finden mußte. Man möchte sagen, kaum gestern hatte es ihm das Verklingen des Rufs, den er der Entführung und den darauffolgenden Umständen verdankte, möglich gemacht, wieder in seinem ruhigen Gang fortzuwandeln, und nun wurde er durch den Bankrott zu einem bedeutsameren Mann als je. Wenn Mr. Perch von dem Trippel im Außenkontor, von wo aus er jetzt die fremden Gesichter der Rechnungsprüfer und anderer Personen musterte, die rasch fast alle alten Buchhalter verdrängten, herunterglitt, brauchte er sich nur im Hof draußen oder höchstens in der Schenkstube des Königswappens zu zeigen, um augenblicklich mit einer Menge Fragen überschüttet zu werden, unter denen die, was er zu trinken wünsche, obenan stand. Er pflegte dann über die Stunden bitterer Unruhe zu lamentieren, die er und Mrs. Perch in Balls Pond draußen erlitten hätten, seit zum erstenmal der Argwohn in ihnen aufgetaucht sei, »daß es schief gehe«. Dann eröffnete er den gaffenden Zuhörern mit gedämpfter Stimme, als ob die Leiche des gefallenen Hauses unbeerdigt im nächsten Zimmer liege, wie Mrs. Perch zuerst auf die Mutmaßung gekommen sei, daß es wirklich nicht richtig sein müsse, weil sie ihn im Schlaf hatte stöhnen hören: »Zwölf Schilling und neun Pence am Pfund, zwölf Schilling und neun Pence am Pfund.« Diese somnambulische Prophezeiung mußte wohl, wie er meinte, von dem Eindruck herrühren, den der Wechsel von Mr, Dombeys Gesicht auf ihn gemacht habe. Sodann teilte er seinem Auditorium mit, wie er einmal gesagt habe: »Darf ich mir wohl die Freiheit nehmen zu fragen, Sir, ob Ihr Euch im Gemüt bedrückt fühlt?« und wie Mr. Dombey darauf erwiderte: »Mein treuer Perch – aber nein, es kann nicht sein!« Und mit diesen Worten sei er mit der Hand über seine Stirn gefahren und habe gesagt: »Laßt mich allein, Perch!« Mit einem Wort: Mr. Perch, ein Opfer seiner Stellung, pflegte Lügen aller Art vorzubringen, rührte sich dabei selbst bis zu Tränen und glaubte am Ende wirklich, die Erfindungen von gestern seien durch die öftere Wiederholung heute zu einer Art Wahrheit geworden.
Mr. Perch schloß solche Konferenzen stets mit der bescheidenen Bemerkung, daß es natürlich, welchen Argwohn er auch gehabt haben möge (als ob er je einen gehabt hätte!), ihm nicht zustehe, das in ihn gesetzte Vertrauen zu verraten – eine Gesinnung, die, weil nie Gläubiger anwesend waren, unter Anerkennung der Ehrenhaftigkeit seiner Gefühle aufgenommen wurde. So brachte er in der Regel ein beruhigtes Gewissen wieder fort und hinterließ einen angenehmen Eindruck, wenn er wieder nach seinem Trippel zurückkehrte, um die fremden Gesichter der Rechnungssteller und anderer zu beobachten, die so frei mit den großen Geheimnissen der Bücher umgingen. Hin und wieder schlich er dann auf den Zehen in Mr. Dombeys leeres Zimmer, um das Feuer zu schüren, oder schöpfte Luft unter der Tür und plauderte mit irgendeinem vorübergehenden Bekannten über die klägliche Geschichte. Auch ließ er es nicht daran fehlen, dem Hauptrechnungssteller unterschiedliche kleine Aufmerksamkeiten zu erweisen und sich denselben dadurch günstig zu stimmen: denn er hoffte, der besagte Gentleman werde ihm, wenn die Angelegenheiten des Hauses abgeschlossen seien, zu einem Ausläuferposten bei einer Feuerversicherungs-Gesellschaft verhelfen.
Für Major Bagstock war der Bankrott eine richtige Kalamität. Der Major war kein sympathischer Charakter, da sich seine Aufmerksamkeit ganz auf J. B. konzentrierte, und auch keinen lebhaften Erregungen ausgesetzt, wenn wir von der physischen des Keuchens und Erstickenwollens absehen. Er hatte jedoch im Klub mit seinem Freund Dombey so groß getan, ihn den Mitgliedern desselben im allgemeinen so an den Kopf geworfen und den Reichtum des großen Mannes stets so nachdrücklich behauptet, daß der Klub, der nur ein menschlicher war, ein Entzücken darin fühlte, sich an dem Major zu rächen, indem er ihn mit dem Anschein großer Teilnahme fragte, ob dieser furchtbare Schlag überhaupt erwartet worden sei und wie sein Freund Dombey ihn ertrage. Auf solche Fragen pflegte der Major, der dabei ganz purpurrot wurde, zu antworten, es sei ganz und gar eine schlechte Welt, Sir, und Joe wisse ein und das andere, aber es sei jetzt aus mit ihm, Sir, aus wie mit einem Kinde: wenn man dies J. Bagstock vorausgesagt hätte, Sir, als er mit Dombey auf Reisen ging und jenem Vagabunden durch Frankreich auf und ab nachjagte, so würde J. Bagstock einem jeden, der etwas Derartiges behauptet hätte, ins Gesicht gehustet – ja, ins Gesicht gehustet haben, Sir – so wahr Gott lebt! Joe sei getäuscht, sei angeführt und geblendet worden, Sir, habe aber jetzt seine Augen wieder weit offen, in der Tat so weit, Sir, daß, wenn Joes eigener Vater morgen aus dem Grab aufstünde, er dem alten Kunden keinen Penny anvertrauen, sondern zu ihm sagen würde, sein Sohn Josh sei ein zu alter Soldat, um sich noch einmal über den Löffel barbieren zu lassen. Er sei ein argwöhnischer, schwieriger, vorsichtiger, aufgebrauchter J. B.-Heide, Sir, und wenn es sich mit der Würde eines rauhen und zähen alten Majors von der alten Schule, der die Ehre hatte, von Ihren königlichen Hoheiten, den Herzogen von Kent und Jork, ausgezeichnet zu werden, vertrüge, so würde er sich, bei Gott, in ein Faß zurückziehen und darin leben. Er würde sich morgen in Pall Mall ein Faß anschaffen, Sir, um damit seine Verachtung vor der Menschheit auszudrücken.
Solcher Vorträge mit allerlei Variationen über das gleiche Thema entledigte sich der Major mit so vielen schlagflüssigen Symptomen, einem so einschüchternden Rollen des Kopfes und einem so ungestümen Brummen des Ärgers über seine mißbrauchte Persönlichkeit, daß die jüngeren Mitglieder des Klubs auf die Vermutung kamen, er habe bei dem Hause seines Freundes Dombey Geld angelegt und es verloren, obschon die älteren Soldaten und die schlaueren Männer, die Joe besser kannten, nichts von dergleichen hören wollten. Der unglückliche Eingeborene, der keine Ansicht ausdrückte, litt furchtbar, nicht bloß in seinen moralischen Gefühlen, die von dem Major jede Stunde des Tages mit einem regelmäßigen Feuer bearbeitet wurden, sondern auch körperlich durch Püffe und Stöße, so daß er keinen Augenblick zu einer leiblichen Ruhe kommen konnte. Sechs volle Wochen nach dem Bankrott lebte der unglückliche Ausländer in einer Regenzeit von Stiefelziehern und Bürsten.
Über den schrecklichen Umschwung der Dinge hatte Mrs. Chick drei Vorstellungen. Die erste war, daß sie ihn nicht begreifen könne, die zweite, daß ihr Bruder keine Anstrengung gemacht habe, und die dritte, daß dies, wie sie schon damals gesagt habe, nie hätte vorkommen können, wenn sie an dem bewußten ersten Tag zum Diner eingeladen worden wäre.
Die Ansicht von niemand trat auf die Seite des Unglücks, erleichterte es oder machte es schwerer. Man wußte, die Angelegenheiten des Hauses würden so gut, als es gehen wolle, zum Abschluß kommen, und Mr. Dombey habe freiwillig auf all sein Eigentum verzichtet, ohne sich von irgend jemand eine Gunst zu erbitten. Von einer Wiederaufnahme des Geschäfts könne keine Rede sein, da er von keinem gütlichen Vergleich, dessen Möglichkeit in Aussicht stehe, etwas wissen wolle; auch habe er alle Posten des Vertrauens und der Auszeichnung, die ihm als einem unter den Kaufleuten geachteten Mann übertragen worden, abgegeben. Die einen erklärten, er sei todkrank, die andern wollten wissen, die Schwermut habe ihm den Verstand verwirrt, alle aber vereinigten sich dahin, daß er ein zugrunde gerichteter Mann sei.
Die Angestellten zerstreuten sich nach einem kleinen Beileids-Diner, das durch Possenlieder belebt wurde, und fanden wunderbar guten Abgang. Einige nahmen Plätze im Ausland an, andere erhielten ein Unterkommen in englischen Häusern, wieder einige erinnerten sich plötzlich, daß sie eine besondere Vorliebe für gewisse Bekanntschaften im Land hätten, und andere boten ihre Dienste in den Zeitungen an. Nur Mr. Perch blieb in dem Hause und betrachtete sich von seinem Trippel aus die Rechnungssteller oder stürzte von seinem Posten herunter, um den Hauptrechner, der ihn bei der Feuerversicherungs-Gesellschaft unterbringen sollte, für sich zu gewinnen. Das Kontor sah bald sehr schmutzig und vernachlässigt aus. Der Hauptpantoffel- und Hundehalsband-Verkäufer an der Ecke des Hofs hatte seine Bedenken, ob er nicht eine Ungebühr begehe, wenn er bei Mr. Dombeys Heraustreten auch nur seinen Zeigefinger an den Rand seines Hutes lege, und der Zettelträger mit den Händen unter der weißen Schürze moralisierte in sehr nüchterner Weise über das Sprichwort, daß Hochmut vor dem Fall komme.
Mr. Morfin, der braunäugige Junggeselle mit dem graugesprenkelten Haar und Bart, war vielleicht in der Atmosphäre des Hauses die einzige Person – natürlich den Prinzipal ausgenommen – dem das hereingebrochene Unglück tief und schwer zu Herzen ging. Er hatte Mr. Dombey durch eine Reihe von Jahren mit der gebührenden Achtung behandelt, aber nie seinen natürlichen Charakter verheimlicht oder zu Förderung selbstsüchtiger Zwecke mit der Leidenschaft seines Herrn ein Spiel getrieben, weshalb es denn auch bei ihm keine Mißachtung zu rächen, überhaupt keine lang angespannten Federn gab, die mit einem raschen Rückprall sich losmachten. Er arbeitete früh und spät, um die verwickelten oder schwierigen Verhältnisse des Hauses zu entwirren, war stets bereit, etwa verlangte Auskunft zu erteilen, blieb bisweilen bis tief in die Nacht hinein auf dem alten Kontorstübchen, um sich so weit in die Verhältnisse hineinzuarbeiten, daß er Mr. Dombey den Schmerz einer persönlichen Vernehmung ersparen konnte, und ging dann nach seiner Wohnung in Islington, wo er vor Schlafengehen seinen Geist durch die ungeheuerlichsten Töne, die er seinem Violoncello entlockte, zu beruhigen suchte.
Er unterhielt sich eines Abends mit diesem melodischen Gekratze und holte, da er den Tag über sehr niedergeschlagen gewesen, sich Trost aus den tiefsten Baßtönen seines Instruments, als seine Hauswirtin, die zum Glück nicht gut hörte und von künstlerischen Leistungen ihres Mieters keinen andern Eindruck erhielt, als ob etwas in ihren Knochen knarre, den Besuch einer Dame ankündigte.
»In Trauer«, sagte sie.
Der Violoncellobogen hörte augenblicklich auf zu streichen, und nachdem der Musiker mit großer Sorgfalt sein Instrument auf ein Sofa gelegt hatte, deutete er durch ein Zeichen an, daß die Dame kommen könne. Zugleich ging er zur Tür hinaus, um den Besuch zu empfangen, und traf Harriet Carker auf der Treppe.
»Allein«, sagte er; »und John war heute morgen hier? Ist etwas vorgefallen, meine Liebe? Doch nein«, fügte er hinzu; »Euer Gesicht läßt mich etwas ganz anderes lesen.«
»Dann fürchte ich, Ihr findet darin nur eine selbstsüchtige Enthüllung«, antwortete sie.
»Jedenfalls eine sehr angenehme«, sagte er, »und ist sie selbstsüchtig, so wird sie noch obendrein zu einer Neuigkeit, die man nicht leicht bei Euch zu hören bekommt. Ich glaube es übrigens nicht.«
Er hatte ihr inzwischen einen Stuhl angeboten und nahm ihr gegenüber Platz, während das Violoncello behaglich zwischen ihnen auf dem Sofa lag.
»Ihr werdet Euch nicht wundern, daß ich allein komme oder daß John von meinem beabsichtigten Besuche nichts gegenüber Euch erwähnt hat«, sagte Harriet, »wenn ich Euch mitteile, weshalb ich hier bin? Darf ich?«
»Ihr könnt nichts Besseres tun.«
»Ihr waret nicht beschäftigt?«
Er deutete nach dem auf dem Sofa liegenden Violoncello und sagte:
»Ich war's den ganzen Tag. Hier ist mein Zeuge. Ihm habe ich alle meine Sorgen vertraut. Wollte Gott, ich hätte ihm keine als meine eigenen mitzuteilen.«
»Ist's mit dem Haus zu Ende?« fragte Harriet dringlich.
»Völlig zu Ende.«
»Und wird nie wieder aufgenommen werden?«
»Nie.«
Der glänzende Ausdruck ihres Gesichtes wurde nicht überschattet, als ihre Lippen leise das Wort wiederholten. Er schien dies mit einer unwillkürlichen kleinen Überraschung zu bemerken und fuhr fort:
»Nie. Ihr erinnert Euch, was ich Euch sagte. Es ist unmöglich gewesen, ihn zu überzeugen, unmöglich, ihm Vernunft beizubringen, bisweilen sogar unmöglich, ihm nur nahezukommen. Das Schlimmste ist eingetroffen und das Haus gefallen, um nicht wieder aufgerichtet zu werden.«
»Und ist Mr. Dombey persönlich zugrunde gerichtet?«
»Ja.«
»Wird denn kein Privatvermögen übrig bleiben? Nichts?«
Eine gewisse Hast in ihrer Stimme und ein Ausdruck in ihrem Gesicht, der fast freudig zu sein schien, überraschte ihn noch mehr, und zwar nicht in angenehmer Weise, da seine eigenen Gefühle dadurch widerlich berührt wurden. Er trommelte mit den Fingern der einen Hund auf den Tisch, blickte sie fragend an, schüttelte den Kopf und sagte nach einer Pause:
»Ich weiß nicht genau, wie weit sich Dombeys Hilfsquellen erstrecken, aber wenn sie auch ohne Zweifel sehr groß sind, stehen ihnen doch ungeheure Verbindlichkeiten gegenüber. Er ist ein Gentleman von Ehre und hoher Rechtschaffenheit. Mancher in seiner Lage hätte sich retten können und würde sich auch gerettet haben durch Anbieten von Bedingungen, die die Verluste der Geschäftsfreunde nur gering, fast unmerklich vergrößert und ihm doch noch einen Rest gelassen hätten, von dem er leben kann. Aber er ist entschlossen, bis auf den letzten Heller seines Vermögens Zahlung zu leisten. Seine eigenen Worte lauten, sein Haus werde dadurch zwar geleert oder nahezu geleert werden, indes könne im schlimmsten Fall niemand viel verlieren. Ach, Miß Harriet, es würde uns nicht schaden, wenn wir öfters daran dächten, daß Laster bisweilen nur übertriebene Tugenden sind. Wir sehen hierin wieder seinen Stolz.«
Sie hörte ihn mit geringem oder gar keinem Wechsel in dem Ausdruck ihres Gesichts und mit einer geteilten Aufmerksamkeit an, die zeigte, daß ihr Inneres mit etwas anderem beschäftigt war. Als er schwieg, fragte sie ihn abermals:
»Habt Ihr ihn in letzter Zeit gesehen?«
»Er läßt niemand vor. Wenn dieser Wendepunkt seiner Angelegenheiten es nötig macht, sein Haus zu verlassen, so zeigt er sich, geht wieder nach Hause und sperrt sich gegen jedermann ab. Er hat mir ein Schreiben zugehen lassen, in dem er unsere frühere gegenseitige Beziehung höher anschlägt, als sie es verdiente, und von mir Abschied nimmt. Das Zartgefühl verbietet mir, mich ihm jetzt aufzudringen, da ich in besseren Zeiten nie viel Verkehr mit ihm hatte; aber gleichwohl habe ich einen Versuch dazu gemacht. Ich schrieb ihm, ging zu ihm und bat ihn um Gehör, aber völlig vergeblich.«
Er sah sie an, in der Hoffnung, sie dürfte eine größere Teilnahme kundgeben, als sie bisher an den Tag gelegt hatte. Obschon er ernst und gefühlvoll gesprochen, als wolle er den Tatbestand ihr näher ans Herz legen, ließ sich doch kein Wechsel in ihr bemerken.
»Doch lassen wir das, Miß Harriet«, sagte er mit der Miene getäuschter Erwartung: »es führt zu nichts. Ihr seid nicht hierhergekommen, um dies zu hören. Es liegt Euch ein anderer, angenehmerer Gegenstand auf dem Herzen. Laßt mich teilnehmen daran, und wir werden unter gleicheren Verhältnissen uns besprechen können.«
»Nein, es ist derselbe Gegenstand«, entgegnete Harriet mit unverhohlenem Erstaunen. »Warum sollte dies nicht der Fall sein? Ist es nicht natürlich, daß John und ich in letzter Zeit oft und viel an die kürzlichen großen Veränderungen dachten und davon sprachen? Mr. Dombey, dem er so viele Jahre gedient hat – Ihr wißt, unter welchen Verhältnissen – so heruntergekommen, wie Ihr sagt, und wir dagegen eigentlich reich.« So gut und ehrlich auch ihr Gesicht war und so lieblich es Mr. Morfin, dem braunäugigen Junggesellen, seit der Zeit geworden sein mochte, als er es zum erstenmal erblickte, gefiel es ihm in diesem Moment, in dem ein Strahl von Freude darüber hinblitzte, weniger als je zuvor.
»Ich brauche Euch nicht daran zu erinnern«, sagte Harriet, nach ihrem schwarzen Gewand niederbückend, »durch welche Mittel unsere Umstände so verändert wurden. Ihr habt nicht vergessen, daß unser Bruder James an jenem schrecklichen Tage kein Testament und außer uns keine Verwandten hinterließ.«
Das Gesicht kam ihm jetzt wieder lieblicher vor, obschon es blaß und schwermütig aussah. Er schien freier aufzuatmen.
»Ihr kennt unsere Geschichte«, sagte sie, »die Geschichte meiner beiden Brüder in ihrer Beziehung zu dem unglücklichen Gentleman, von dem Ihr eben mit so viel Wärme gesprochen habt. Ihr wißt, wie wenig wir – John und ich – bedürfen und wie wir nach der Lebensweise, die wir so viele Jahre gemeinschaftlich geführt haben, keinen großen Aufwand nötig haben: auch verdankt er Eurer gütigen Verwendung einen Posten, dessen Ertrag für uns vollständig ausreicht. Ihr könnt Euch jetzt wohl denken, um welcher Bitte willen ich zu Euch gekommen bin?«
»Ich weiß es kaum. Vor einer Minute meinte ich, es mir denken zu können, jetzt aber glaube ich, daß ich in einem Irrtum befangen war.«
»Von meinem verstorbenen Bruder will ich nicht sprechen. Wüßte der Tote, was wir tun – aber Ihr versteht mich. Von meinem lebenden Bruder könnte ich viel sagen: doch wozu bedarf es einer weiteren Erklärung, als daß die pflichtmäßige Handlung, bei der wir Eure Mithilfe nicht entbehren können, von ihm ausgeht, und daß er weder rasten noch ruhen kann, bis sie erfüllt ist!«
Sie erhob abermals ihren Blick, und das Licht der Freude auf ihrem Gesicht erschien wunderlieblich in den Augen dessen, der es betrachtete.
»Mein teurer Sir«, fuhr sie fort, »es muß in aller Stille und Heimlichkeit geschehen. Eure Erfahrung und Sachkenntnis wird Euch ein Mittel an die Hand geben, uns dabei behilflich zu sein. Man kann vielleicht Mr. Dombey den Glauben beibringen, von den Trümmern seiner Habe sei unerwarteterweise etwas gerettet worden; es handle sich dabei um einen freiwilligen Zoll, der von einem seiner bedeutenderen früheren Geschäftsfreunde seinem ehrenhaften und aufrichtigen Charakter gebracht werde, oder um eine alte für verloren gegebene Schuld, für welche Zahlung einlief. O, es gibt viele Arten, die Sache einzuleiten, und ich weiß, Ihr werdet die beste wählen. Nur bitte ich Euch um die Gunst, in Eurer eigenen freundlichen, ehrenhaften und rücksichtsvollen Weise für uns zu handeln. Sprecht mit John nicht davon, denn er fühlt sich am glücklichsten, wenn dieser Akt der Rückerstattung im geheimen, unbekannt und ohne Lob geschieht. Nur ein sehr kleiner Teil der Erbschaft soll uns vorbehalten bleiben, Mr. Dombey aber die Nutznießung des übrigen für Lebenszeit bekommen. Aber Ihr müßt treulich unser Geheimnis bewahren – ich bin überzeugt, daß Ihr es werdet, und von Stunde an wollen auch wir beide darüber schweigen, denn ich sehe nur einen neuen Grund darin, dem Himmel zu danken und auf meinen Bruder stolz zu sein.«
Solch ein frohlocken mag sich auf den Gesichtern der Engel ausdrücken, wenn unter neunundneunzig Gerechten der einzige reuige Sünder in den Himmel eingeht. Es wurde nicht getrübt oder gemindert durch die frohen Tränen, die ihre Augen füllten, sondern erschien dadurch nur um so glänzender.
»Meine teure Harriet«, sagte Mr. Morfin nach einer Pause, »hierauf war ich nicht vorbereitet. Wenn ich Euch recht verstehe, so wünscht Ihr Euren eigenen Anteil an der Erbschaft ebensogut Einem schönen Zweck dienstbar zu machen als den Eures Bruders John?«
»Ja«, entgegnete sie. »Nachdem wir so lange Zeit alles miteinander geteilt haben und uns keine weitere Sorge oder Hoffnung vorbehalten bleibt, hatte ich mich wohl von der Beteiligung ausschließen können? Darf ich nicht verlangen, bis auf den letzten Augenblick in allem seine Gesellschafterin und Teilhaberin zu sein?«
»Verhüte der Himmel, daß ich dies bestreite!« erwiderte er.
»Wir dürfen uns also auf Eure freundliche Beihilfe verlassen?« sagte sie. »Ich wußte wohl, daß ich keine Fehlbitte tun werde.«
»Ich wäre ein schlechterer Mensch, als – ich hoffentlich bin oder zu sein glaube, wenn ich Euch nicht aus vollem Herzen und von ganzer Seele diese Versicherung gäbe. Zählt unbedingt auf mich. Bei meiner Ehre, ich will Euer Geheimnis bewahren, und stellt sich wirklich heraus, daß Mr. Dombey so weit herabgekommen ist, als ich besorge, so soll Euch bei Ausführung des Plans, zu dem Ihr Euch mit Eurem Bruder verbunden habt, mein ganzer Einfluß zur Seite stehen.«
Sie gab ihm ihre Hand und dankte ihm mit herzlichem, glücklichem Gesicht.
»Harriet«, fuhr er fort, die ihm dargebotene Rechte festhaltend, »es wäre eitel und anmaßend, mit Euch über den Wert irgendeines Opfers, das Ihr jetzt bringen könnt, namentlich aber eines bloßen Geldopfers sprechen zu wollen, und mein Inneres sagt mir, daß jede Aufforderung, Euer Vorhaben noch einmal zu überlegen oder ihm engere Grenzen zu stecken, die gleiche Bezeichnung verdiente. Ich habe kein Recht, das großartige Ende einer großen Geschichte durch eine Aufdrängung meines eigenen schwachen Ichs zu verderben, sondern muß mein Haupt beugen vor dem, was Ihr mir vertraut, in der festen Überzeugung, daß es aus einer höheren und besseren Begeisterungsquelle stammt, als mein armes weltliches Wissen zu bieten vermag. Laßt mich nur noch hinzufügen, daß ich Euer getreuer Verwalter sein werde. Da ich nicht Ihr selbst sein kann, so ziehe ich es allem in der Welt vor, von Euch zum Freund gewählt worden zu sein.«
Sie dankte ihm abermals herzlich und wünschte ihm gute Nacht.
»Geht Ihr nach Hause?« fragte er. »Erlaubt mir, Euch zu begleiten.«
»Nein, heute nicht. Ich gehe nicht nach Hause, sondern habe noch einen Besuch zu machen. Wollt Ihr morgen kommen?«
»Ja, ja, ich komme morgen«, versetzte er. »Inzwischen will ich mir die Sache überlegen und sehen, wie sie sich am besten einleiten läßt. Vielleicht denkt Ihr gleichfalls darüber nach, teure Harriet, und – und denkt dabei auch ein wenig an mich.«
Er geleitete sie nach der Kutsche hinunter, die vor der Tür wartete, und wenn seine Hauswirtin nicht halb taub gewesen wäre, so hätte sie, als er nach Abfahrt des Wagens wieder die Treppe hinaufstieg, wohl hören müssen, wie er vor sich hin murmelte, wir seien doch schlimme Gewohnheitsgeschöpfe, und am meisten ärgere ihn die Gewohnheit, daß es alte Junggesellen gebe.
Da das Violoncell zwischen den beiden Stühlen auf dem Sofa lag, so nahm er es auf, ohne den leeren Sitz beiseite zu rücken, und begann auf den Saiten zu streichen, während er zugleich lange, lange Zeit mit dem Kopf nach dem verlassenen Stuhle nickte. Der Ausdruck, den er anfänglich in die Töne seines Instrumentes legte, war zwar ungeheuerlich und pathetisch genug, aber doch nichts gegen den, den er dem leeren Sitze gegenüber seinem eigenen Gesichte mitteilte, denn es lag darin eine so große Aufrichtigkeit, daß er mehr als einmal zu Kapitän Cuttles Hilfsmittel seine Zuflucht nehmen mußte. Allmählich glitt jedoch, im Einklang mit seiner eigenen Gemütsstimmung, das Violoncell melodisch in den fröhlichen Hammerschmied über, den er wieder und wieder spielte, bis sein rötliches, heiteres Gesicht ganz wie das metall auf dem Ambos eines wahrhaftigen Hammerschmiedes glühte. Mit einem Wort, das Violoncell und der leere Stuhl waren bis fast um Mitternacht die Gefährten seines Junggesellenstandes, und als er sein Instrument, geschwellt von der verborgenen Harmonie einer ganzen Gießerei voll lustiger Hammerschmiede, in die Sofaecke legte, um sein Nachtessen einzunehmen, schien ihn der leere Stuhl in ungemein vielsagender Weise aus seinen gekrümmten Augen anzugucken.
Nachdem Harriet das Haus verlassen hatte, schlug der Kutscher eine Richtung ein, die ihm augenscheinlich keine neue war. Es ging auf Nebenwegen durch einen Teil der Vorstädte, bis er einen offenen Grund erreichte, wo einige ruhige alte Häuschen in den Gärten standen. An einem Gartentürchen machte der Kutscher halt, und Harriet stieg aus.
Ihr leichter Zug an der Klingel rief ein kläglich aussehendes Weib mit blasser Gesichtsfarbe, hochgezogenen Augenbrauen und seitwärts gesenktem Kopfe herbei, die bei ihrem Anblick knixte und sie durch den Garten nach dem Hause fühlte.
»Wie geht es heute abend Eurer Kranken, Wärterin?« fragte Harriet.
»Ich fürchte, schlimm, Miß. O wie erinnert sie mich bisweilen cm meines onkels Betsey Jane!« entgegnete die Frau mit der blassen Gesichtsfarbe in einer Art melancholischen Entzückens.
»In welcher Beziehung?« fragte Harriet.
»In allen Beziehungen, Miß«, versetzte die andere, »den einzigen Umstand ausgenommen, daß sie erwachsen ist, und Betsey Jane, als sie am Tor des Todes stand, nur ein Kind war.«
»Ihr habt mir aber erzählt, das Kind sei mit dem Leben davongekommen«, bemerkte Harriet mild; »es ist daher um so mehr Grund zur Hoffnung vorhanden, Mrs. Wickam.«
»Ach, Miß, die Hoffnung ist wohl etwas Schönes für solche, die heiter genug sind, um sich damit zu tragen«, sagte Mrs. Wickam, den Kopf schüttelnd. »Ich beneide diejenigen, welche so gesegnet sind, denn mein Geist kann sich nicht so weit erheben, obschon ich nicht darüber murre.«
»Ihr solltet es versuchen, ob Ihr Euch nicht aufheitern könnt«, versetzte Harriet.
»Danke schön, Miß«, entgegnete Mrs. Wickam grämlich. »Wenn ich auch Lust dazu hätte, so würde die Einsamkeit dieses Platzes – Ihr entschuldigt mich, daß ich so frei spreche – mir es in vierundzwanzig Stunden verleiden. Dies ist übrigens bei mir nicht der Fall, und ich lasse den Versuch lieber ganz und gar. Das bißchen Heiterkeit, da« ich je besaß, wurde mir vor einigen Jahren zu Brighton genommen, und ich denke, es ist mir um deswillen jetzt nur wohler.«
In der Tat war die Sprecherin dieselbe Mrs. Wickam, die Mrs. Richards in der Pflege des kleinen Paul verdrängt hatte und durch den fraglichen Verlust unter dem Dach der liebenswürdigen Pipchin gewonnen zu haben glaubte. Das ausgezeichnete und verständige, durch lange Vorschrift geheiligte alte System, das gewöhnlich die traurigsten und unleidlichsten Personen, die nur aufzutreiben sind, zu Jugend- Erziehern, Tugend-Weisern, Ermahnern, Krankenwärtern und dergleichen auswählt, hatte Mrs. Wickam auf dem Boden der Krankenpflege zu einem recht guten Geschäft verholfen und dazu Anlaß gegeben, daß ihre ernsten Eigenschaften von vielen Bewunderern ganz besonders löblich gefunden wurden.
Die Augenbrauen aufgezogen und den Kopf auf die eine Seite geneigt, leuchtete Mrs. Wickam die Treppe hinauf nach einem reinlichen Zimmer, das nach einem matt erhellten Zimmer mit einem Bette führte. In dem ersten Zimmer saß ein altes Weib, das vor dem offenen Fenster mechanisch in die Dunkelheit hinausstierte; im zweiten aber lag, auf dem Bette ausgestreckt, der Schatten einer Gestalt, die in einer bekannten Winternacht dem Wind und Regen Trotz geboten hatte, jetzt aber kaum an etwas anderem zu erkennen war, als an dem langen dunkeln Haar, das gegen das farblose Gesicht und das weiße Bettzeug auffallend abstach.
O, die großen Augen und der hinfällige Körper! die Augen, die sich so hastig und funkelnd der Tür zuwandten, als Harriet hereinkam – der schwache Kopf, der sich nicht aufrichten konnte und so langsam auf dem Kissen sich umdrehte!
»Alice«, sagte der Besuch mit milder Stimme, »komme ich heute spät?«
»Ihr scheint immer spät zu kommen, kommt aber stets früh.«
Harriet hatte sich neben dem Bett niedergelassen und die auf der Decke liegende abgezehrte Hand mit der ihrigen erfaßt.
»Geht es besser?«
Mrs. Wickam, die wie ein trostloses Gespenst unten an dem Bett stand, schüttelte entschieden und nachdrücklich den Kopf, um die Frage zu verneinen.
»Es liegt sehr wenig daran«, versetzte Alice mit einem matten Lächeln. »Heute besser oder schlimmer, es macht nur den Unterschied eines Tages aus – vielleicht nicht so viel.«
Mrs. Wickam drückte als ernster Charakter ihre Zustimmung in einem Seufzer aus. Dann befühlte sie die Füße der Patientin, die sie eiskalt zu finden erwartete, und klapperte unter den Arzneiflaschen auf dem Tisch umher, als wollte sie sagen: »Weil's doch einmal so ist, so wollen wir die Mixtur wie bisher wiederholen.«
»Ein elendes Leben«, fuhr Alice flüsternd zu ihrem Besuch fort, »Gewissensbisse, das Umherziehen, Mangel und Unwetter, Sturm innen und Sturm von außen haben mein Leben aufgezehrt. Es wird nicht lange mehr währen.«
Sie zog bei diesen Worten Harriets Hand an sich und legte ihr Gesicht dagegen.
»Wenn ich so daliege, denke ich bisweilen, ich möchte wohl noch eine Weile am Leben bleiben, um Euch zu zeigen, wie dankbar ich sein könnte! Doch dies ist eine Schwäche, die bald vorüber geht. Für Euch ist's besser so, wie es ist – und auch besser für mich!«
Wie ganz anders hielt sie jetzt die Hand fest, wenn man dabei an die Art denkt, wie sie dieselbe an dem kalten Winterabend neben dem Kamin ergriffen hatte! Geringschätzung, Wut, Trotz und Sorglosigkeit – schaut her! Dies ist das Ende.
Mrs. Wickam, die nun genug mit den Flaschen geklirrt hatte, brachte die Arznei. Als die Kranke sie nahm, sah sie mit aufgeworfenem Mund und in die Höhe gezogenen Augenbrauen zu, indem sie zugleich den Kopf schüttelte, als wollte sie sagen, nicht einmal die Folter sei imstande, sie zu überzeugen, daß dies ein hoffnungsloser Fall sei. Sie sprengte dann mit der Miene einer weiblichen Totengräberin, die Asche auf Asche, Staub auf Staub streut – denn sie war ein ernster Charakter – eine kühlende Feuchtigkeit im Zimmer umher und entfernte sich, um drunten gewisse leichenhaft gebackene Speisen zu sich zu nehmen.
»Wie lange ist es«, frug Alice, »seit ich zu Euch kam, um Euch zu sagen, was ich getan hatte – ich meine die Zeit, als man Euch versicherte, es sei zu spät, um einem gewissen Menschen zu folgen?«
»Es ist ein Jahr und darüber,« antwortete Harriet.
»Ein Jahr und darüber«, sagte Alice, gedankenvoll zu ihrem Gesicht aufblickend, »Und schon Monate und Monate, seit Ihr mich hierher gebracht habt!«
Harriet antwortete mit einem »Ja«.
»Mich hierher gebracht durch die Gewalt der Güte und Freundlichkeit. Mich!« sagte Alice, ihr Gesicht hinter der Hand verbergend. »Und mich durch die Blicke und Worte eines Weibes und durch die Handlungen eines Engels menschlich gemacht!«
Harriet beugte sich über sie nieder und suchte sie zu beruhigen. Alice hatte, die Hand noch immer an ihr Gesicht drückend, ihre frühere Lage wieder eingenommen und bat, man möchte ihre Mutter herbeirufen.
Harriet tat dies mehr als einmal, aber die Alte war an dem offenen Fenster so in die Nacht vertieft, daß sie nicht hörte. Erst als Harriet hinausging und sie berührte, richtete sie sich auf und kam herein.
»Mutter,« sagte Alice, die Hand wieder ergreifend und ihre glänzenden Augen mit Innigkeit auf Harriet heftend, während sie die Anwesenheit der Alten nur mit einer Bewegung des Fingers anerkannte, »sagt ihr, was Ihr wißt.«
»Heute, mein Herzchen?«
»Ja, Mutter«, antwortete Alice mit matter, aber feierlicher Stimme, »heute!«
Die Alte, deren Verstand durch Schrecken, Gewissensbisse oder Kummer irregeworden zu sein schien, schlich an der andern Seite des Bettes hin, kniete nieder, so daß ihr welkes Gesicht in gleicher Höhe mit der Decke war, streckte ihre Hand aus, um den Arm ihrer Tochter zu berühren, und begann:
»Mein schönes Mädel –«
Himmel, welch ein Schrei war das, mit dem sie innehielt, wahrend sie die klägliche Gestalt auf dem Bette ansah.
»Schon längst verändert, Mutter! schon längst hingewelkt«, sagte Alice, ohne sie anzusehen. »Grämt Euch jetzt nicht darüber.«
»Meine Tochter«, stotterte die Alte – »mein Mädel – sie wird bald besser werden und alle mit ihrem guten Aussehen beschämen.« Alice lächelte wehmütig zu Harriet hin und drückte die Hand inniger an sich, sprach aber nichts.
»Ich sage, sie wird bald besser werden«, wiederholte die Alte, mit der abgezehrten Faust in die leere Luft drohend, »und wird alle durch ihr gutes Aussehen beschämen. Ja, das wird sie – das soll sie!«
Sie rief es, als liege sie in leidenschaftlichem Kampf mit irgendeinem unsichtbaren Feind neben dem Bett, der ihr widersprach.
»Man hat sich von meiner Tochter abgewandt und sie verstoßen, aber sie könnte sich doch der Verwandtschaft mit stolzen Leuten rühmen, wenn sie wollte! Ah! diese stolzen Leute! Es gibt eine Verwandtschaft ohne eure Pfaffen und eure Trauringe – sie können sie machen, aber nicht brechen – und meine Tochter ist von gutem Blute. Zeigt mir Mrs. Dombey, und ich will Euch ein Geschwisterkind meiner Alice zeigen.«
Harriet blickte von der Alten nach den glänzenden Augen, die so angelegentlich auf ihrem Gesichte hafteten, und fand darin die Bestätigung dieser Worte.
»Was meint Ihr?« rief die Alte, den nickenden Kopf in unheimlicher Eitelkeit aufwerfend, »Obschon ich jetzt alt und häßlich bin, – viel älter durch das, was ich durchgemacht habe, als den Jahren nach – so war ich doch einmal so jung als eine. Ja, und obendrein so hübsch wie viele! Ich war meiner Zeit eine frische Landdirne, mein Schätzchen«, sie streckte über das Bett herüber ihren Arm nach Harriet aus, »und mein Aussehen war darnach. In meiner Gegend drunten waren Mrs. Dombeys Vater und sein Bruder die lebenslustigsten Gentlemen, die beliebtesten unter denen, die von London auf Besuch kamen – freilich sind sie jetzt längst tot! O Himmel, wie lange schon! Der Bruder, der der Vater meiner Ally war, am längsten von beiden.«
Sie richtete den Kopf ein wenig auf und blickte in das Gesicht ihrer Tochter, als führe sie die Erinnerung an ihre eigene Jugend auf die von der Jugend ihres Kindes. Dann drückte sie plötzlich ihr Gesicht auf das Bett nieder und verbarg ihren Kopf mit den Händen und Armen.
»Sie waren sich so ähnlich«, fuhr die Alte, ohne aufzublicken, fort, »wie Ihr nur zwei Brüder sehen könnt, auch fast gleichaltrig – soviel ich mich erinnere, nicht mehr als ein Jahr zwischen ihnen – und wenn Ihr mein Mädel hättet sehen können, wie ich sie einmal gesehen habe, Seite an Seite mit der Tochter des andern, so hättet Ihr trotz des Unterschieds in der Kleidung und Lebensweise bemerken müssen, daß sie einander glichen. O, ist diese Ähnlichkeit denn ganz dahin und mußte mein Mädel – nur mein Mädel – sich so verändern!«
»Es kommt an alle die Reihe des Anderswerdens«, sagte Alice.
»Die Reihe?« rief die Alte. »Aber warum kommt sie nicht ebenso bald an sie wie an mein Mädel? Die Mutter muß sich verändert haben – sie sah so alt aus wie ich und war ebenso runzlig, ungeachtet ihrer Schminke – aber sie war schön. Was habe ich getan, ich – was habe ich Schlimmeres getan als sie, daß nur mein Mädel so hinschwindend daliegt!«
Mit demselben Schrei wie früher eilte sie in das äußere Zimmer hinaus, kehrte aber in ihrer verwirrten Stimmung augenblicklich wieder zurück, kroch zu Harriet heran und sagte:
»Dies ist's, was Alice mir Euch mitzuteilen auftrug, mein Schatz. Dies ist alles. Ich machte die Entdeckung, als ich eines Sommers mich in Warwickshire nach ihr und ihren Verhältnissen erkundigte. Damals waren solche Verwandte nicht gut für mich. Sie würden mich nicht anerkannt haben und hatten nichts zu verschenken. Nachher hätte ich sie vielleicht um ein bißchen Geld angehen können, wenn meine Alice nicht gewesen wäre; aber ich glaube, sie würde mich fast umgebracht haben, wenn ich's getan hätte. Sie war in ihrer Art so stolz wie die andere«, sagte die Alte, furchtsam das Gesicht ihrer Tochter berührend und ihre Hand wieder zurückziehend, »obschon sie jetzt so ruhig ist. Aber sie wird sie noch mit ihrem guten Aussehen beschämen. Ha, ha. Meine schöne Tochter wird sie noch beschämen.«
Das Lachen, mit dem sie sich zurückzog, war noch schlimmer als ihr Schrei, schlimmer als der Ausbruch kleinmütigen Wehklagens, mit dem es endigte, schlimmer als das faselnde Gesicht, mit dem sie ihren alten Platz wieder einnahm und in die Dunkelheit hinausstierte.
Alice hatte diese ganze Zeit über kein Auge von Harriet verwandt und ihre Hand unablässig festgehalten.
»Wie ich so dalag«, sagte sie jetzt, »kam mir der Gedanke, es dürfte gut sein, wenn Ihr dies erfahrt. Es wird vielleicht einen Umstand erklären, der dazu mithalf, mich zu verhärten. Wenn ich unrecht tat, mußte ich so viel von Pflichtübertretung hören, daß der Glaube in mir Wurzel griff, an mir sei die Pflicht verabsäumt worden, und wie man säe, so müsse auch die Ernte ausfallen. Ich kam irgendwie auf die Ansicht, wenn vornehme Frauen schlimme Mütter und eine schlimme Heimat hätten, so gingen sie wohl auch in ihrer Art auf unrechten Pfaden, aber doch nicht auf so schlimmen, wie der meinige war, und sie hatten Ursache, Gott dafür zu danken. Doch das ist jetzt vorbei. Es kommt mir vor wie ein Traum, dessen ich mich nicht ganz erinnere, den ich nicht recht verstehen kann. Es wurde mir mit jedem Tag mehr und mehr zum Traum, seit Ihr mich zu besuchen und mir vorzulesen anfinget. Ich sage Euch dies nur, wie es eben in meiner Erinnerung ist. Wollt Ihr mir noch ein wenig vorlesen?«
Harriet wollte ihre Hand zurückziehen, um das Buch zu öffnen, aber Alice hielt sie noch einen Augenblick fest.
»Ihr werdet meine Mutter nicht vergessen? Ich vergebe ihr, wenn ich Ursache dazu habe, und weiß, daß sie mir verzeiht – daß ihr Herz traurig ist. Ihr werdet sie nicht vergessen?«
»Nein, Alice!«
»Noch einen Augenblick. Legt meinen Kopf so, daß ich, wenn Ihr lest, in Eurem lieben Gesicht die Worte sehen kann.«
Harriet entsprach ihrem Wunsch und las – las das ewige Buch für alle Müden und Schwerbeladenen, für alle Unglücklichen, Gefallenen und Verwahrlosten auf Erden, las die heilige Geschichte, in der der blinde und lahme Bettler, der Verbrecher, das mit Schande befleckte Weib und der von unserem ekeln Staub Gemiedene seinen Anteil findet, den weder menschlicher Stolz noch die Gleichgültigkeit oder Sophistik aller Jahrhunderte irdischen Bestands hinwegnehmen oder auch nur um das Gewicht eines Sonnenstäubchens verkürzen kann – las von dem Wirken dessen, der durch die ganze Runde des menschlichen Lebens mit seinen Hoffnungen und Schmerzen von der Geburt an bis zum Tode und von der Kindheit bis ins hohe Alter, für jede Szene und Abstufung desselben, für jeden Kummer und jedes Leid die innigste Teilnahme empfand.
»Ich will morgen sehr früh wiederkommen«, sagte Harriet, als sie das Buch zumachte.
Die glänzenden, noch immer auf ihr Antlitz gehefteten Augen schlossen sich für einen Moment und öffneten sich wieder. Alice küßte die Leidende und sprach einen Segenswunsch über sie.
Dieselben Augen folgten ihr bis zur Tür, die sich hinter der Abgehenden schloß; in ihrem Glanze und auf dem ruhigen Gesichte lag ein Lächeln.
Sie wandten sich nicht wieder ab. Die Kranke legte ihre Hand auf die Brust, murmelte den heiligen Namen, von dem ihr vorgelesen worden war, und das Leben wich aus ihrem Antlitz wie ein erlöschendes Licht.
Es lag nichts mehr da als die Trümmer der irdischen Hütte, auf die der Regen niedergefallen war, und das schwarze Haar, das im winterlichen Winde geflattert hatte.