Endlich kam eine Antwort von den beiden alten Damen. Sie empfahlen sich bestens Mr. Copperfield und ließen ihm sagen, daß sie seinen Brief in reiflichste Erwägung gezogen hätten, und zwar mit Rücksicht auf »das Glück beider Teile«.
Der Ausdruck kam mir recht beunruhigend vor, nicht nur, weil sie ihn schon einmal bei ihrer Zwistigkeit mit ihrem Bruder gebraucht, sondern auch, weil bekanntlich herkömmliche Phrasen wie ein Feuerwerk sind, das leicht losgeht und die verschiedensten Gestalten und Formen annimmt, die man seinem ursprünglichen Aussehen nach nie vermutet hätte.
Die beiden Misses Spenlow fügten hinzu, sie müßten sich enthalten, auf »brieflichen Verkehr« hin ein Urteil über den Gegenstand von Mr. Copperfields Mitteilungen auszusprechen, aber daß sie sich glücklich schätzen würden, mit Mr. Copperfield über diesen Punkt persönlich zu sprechen, wenn er ihnen an einem bestimmten Tage, am liebsten in Begleitung eines vertrauenswürdigen Freundes, die Ehre seines Besuches erweisen wollte.
Auf dieses wertgeschätzte Schreiben antwortete Mr. Copperfield sofort mit der größten Ergebenheit, daß er sich die Ehre nehmen werde, an dem bestimmten Tag den Misses Spenlow seine Aufwartung zu machen, und zwar mit ihrer gütigen Erlaubnis in Gesellschaft seines Freundes Mr. Thomas Traddles vom innern Juristenkollegium.
Nach Absendung dieser Botschaft geriet Mr. Copperfield in die größte Gemütserregung und verblieb in derselben, bis der Tag gekommen war.
Meine Bedrängnisse wurden nicht wenig dadurch vermehrt, daß ich in dieser Krisis die unschätzbaren Dienste der Miss Mills entbehren mußte. Mr. Mills, der mir immer etwas zum Tort tat – wenigstens schien es mir so –, hatte seinem Benehmen die Krone aufgesetzt und den Entschluß gefaßt nach Ostindien zu reisen. Was wollte er in Indien! Nur mir zum Verdruß fuhr er nach Indien! Allerdings hatte er mit keinem andern Weltteil so viel zu tun wie mit diesem, denn er ging ganz im indischen Handel auf. Ich wußte weiter nichts vom indischen Handel und machte mir so eine phantastische Vorstellung von goldnen Schals und Elefantenzähnen.
Mr. Mills war in seiner Jugend in Kalkutta gewesen und wollte sich jetzt dort als Teilhaber eines Handelshauses niederlassen. Aber was ging das mich an! Julia sollte mit ihm gehen und war über Land gefahren, um von ihren Verwandten Abschied zu nehmen. Das Haus trug förmlich einen Mantel von Anzeigen, auf denen stand, was alles vermietet, verkauft oder versteigert werden sollte (auch der Hausrat, die Mangel mit eingeschlossen!).
So wurde ich abermals das Opfer eines Erdbebens, ehe ich mich noch von den Erschütterungen des ersten erholt hatte.
Ich schwankte, was ich an diesem wichtigen Tage anziehen sollte. Einesteils wollte ich einen möglichst vorteilhaften Eindruck machen, andererseits befürchtete ich etwas anzuziehen, was das Streng-Praktische meines Aussehens in den Augen der beiden Misses Spenlow hätte beeinträchtigen können. Ich bemühte mich, einen glücklichen Mittelweg ausfindig zu machen. Meine Tante billigte den Anzug, und Mr. Dick warf mir der guten Vorbedeutung wegen einen Schuh nach.
Ich kannte Traddles als vortrefflichen Freund und war ihm herzlich zugeneigt. Dennoch hätte ich bei dieser delikaten Gelegenheit gewünscht, daß er sich nie gewöhnt hätte, sein Haar so unglaublich in die Höhe zu bürsten. Es gab ihm ein so verwundertes Aussehen – ich möchte fast sagen, etwas Besenhaftes –, was, wie ich fürchtete, uns zum Unglück ausschlagen könnte.
Ich nahm mir die Freiheit, Traddles auf dem Wege nach Putney darauf aufmerksam zu machen und ihn zu bitten, ob er es nicht nur ein ganz klein wenig glattstreichen wollte.
»Mein lieber Copperfield«, sagte Traddles, indem er den Hut abnahm und sein Haar in allen Richtungen rieb, »nichts würde mir mehr Vergnügen bereiten, aber es will nicht.«
»Es will sich nicht glätten lassen?«
»Nein. Es läßt sich durch nichts dazu bewegen. Und wenn ich den ganzen Weg nach Putney einen halben Zentner drauf trüge, so würde es sich in demselben Augenblick wieder aufrichten, in dem man das Gewicht entfernt. Du kannst dir keine Vorstellung machen, wie eigenwillig mein Haar ist, Copperfield! Ich sehe immer aus wie ein gereiztes Stachelschwein.«
Ich muß gestehen, ich war ein wenig verdrießlich, obgleich mich seine Gutherzigkeit versöhnte. Ich sagte ihm, wie sehr ich ihn schätzte, und daß sein Haar offenbar allen Eigensinn aus seinem Charakter an sich gezogen haben müßte, da er so gar keine Spur davon besitze.
»Ja, das ist eine alte Geschichte mit meinem unglückseligen Haar«, lachte Traddles. »Die Frau meines onkels konnte es schon nicht ausstehen. Sie sagte, es brächte sie zur Verzweiflung. Auch bei meiner Werbung um Sophie war es mir anfangs sehr hinderlich. Sogar außerordentlich.«
»Hatte sie etwas dagegen?«
»Sie nicht, aber ihre älteste Schwester – die Schönheit – machte sich immer darüber lustig. Alle Schwestern lachen darüber.«
»Recht angenehm!« meinte ich.
»Ja«, bestätigte Traddles mit größter Harmlosigkeit. »Es ist für uns alle ein wahrer Spaß. Sie behaupten, Sophie besäße eine Locke davon in ihrem Schreibtisch und habe an dem Buch ein Schloß anbringen müssen, da es sonst nicht zuginge. Wir scherzen immer darüber.«
»Übrigens, lieber Traddles, vielleicht könnte deine Erfahrung mir von Nutzen sein. Als du dich verlobtest, machtest du da in der Familie einen regelrechten Heiratsantrag? Kam so etwas vor, wie wir zum Beispiel heute vorhaben?« fragte ich nervös.
»Die Wahrheit zu gestehen«, entgegnete Traddles, über dessen aufmerksames Gesicht sich jetzt ein Schatten von Nachdenklichkeit verbreitete, »war es bei mir eine ziemlich unangenehme Geschichte, Copperfield. Siehst du, Sophie ist für die Familie so unentbehrlich, daß niemand sich mit dem Gedanken, sie könne jemals heiraten, vertraut machen wollte. Sie hatten es geradezu unter sich abgemacht, daß sie niemals heiraten dürfte, und nannten sie nur die alte Jungfer. Als ich es daher mit der größten Vorsicht gegen Mrs. Crewler zur Sprache brachte – der Vater ist Reverend Horace Crewler –, schrie sie laut auf und fiel in Ohnmacht. Monatelang durfte ich das Thema nicht wieder berühren.«
»Aber endlich brachtest du es doch wieder zur Sprache?«
»Das tat Seine Ehrwürden selbst. Er ist ein ganz vortrefflicher Mann, musterhaft in jeder Hinsicht und er hielt seiner Gattin vor, daß sie sich als Christin mit dem Gedanken an das Opfer versöhnen müsse – um so mehr, als es ungewiß sei – und kein unchristliches Gefühl gegen mich hegen dürfte. Was mich betrifft, Copperfield, ich gebe dir mein Wort, ich kam mir der Familie gegenüber wie ein Raubvogel vor.«
»Aber die Schwestern nahmen doch deine Partei, hoffe ich, Traddles?«
»Nun, das kann ich gerade nicht sagen. Als wir Mrs. Crewler so halb und halb versöhnlich gestimmt hatten, mußten wir es Sara beibringen. Du weißt wohl noch, – Sara, die am Rückenmark leidet.«
»Ja, ich weiß.«
»Sie ballte beide Hände«, sagte Traddles, »sah mich zornig an, schloß die Augen, wurde bleifarben, dann ganz steif und genoß zwei Tage lang nichts als teelöffelweise Toast mit Wasser.«
»Was für ein unliebenswürdiges Mädchen, Traddles.«
»O nein. Ich bitte um Entschuldigung, Copperfield. Sie ist ein ganz entzückendes Mädchen und hat nur zu viel Gefühl. Das haben sie überhaupt alle! Sophie gestand mir später, daß die Selbstvorwürfe, die sie sich gemacht, als sie Sara pflegte, unbeschreiblich gewesen seien. Daß sie schmerzlich gewesen sein mußten, verrieten mir meine eignen Empfindungen, Copperfield, die denen eines Verbrechers glichen. Als Sara von dem Schlag wieder genesen war, hatten wir es noch den andern acht beizubringen, und es brachte auf sie die verschiedenartigsten Wirkungen rührendster Art hervor. Die beiden Kleinen, die Sophie erzieht, haben erst vor kurzem aufgehört mich zu verabscheuen.«
»Hoffentlich haben sie sich jetzt vollständig damit ausgesöhnt?«
»J-ja«, gab Traddles zögernd zu. »Im großen ganzen scheinen sie sich darein ergeben zu haben. Wir sprechen weiter nicht von der Sache, und die Ungewißheit meiner Aussichten ist für sie alle ein großer Trost. Wenn wir einmal heiraten, wird es eine klägliche Szene geben. Sie wird einem Leichenbegängnis eher ähnlicher sehen als einer Hochzeit. Und hassen werden sie mich alle, wenn ich sie mit fortnehme.«
Sein ehrliches Gesicht, wie er halb ernst, halb komisch den Kopf schüttelte, macht jetzt in der Erinnerung einen größern Eindruck auf mich als damals in Wirklichkeit, denn ich war in einen Zustand so übermäßiger Angst und Gedankenflucht geraten, daß ich meine Aufmerksamkeit nicht lange auf ein und denselben Gegenstand richten konnte. Als wir in die Nähe der Wohnung der Misses Spenlow kamen, stand es mit meinem Aussehen und meiner Geistesgegenwart so schlimm, daß Traddles ein Glas Ale als sanftes, mutbildendes Mittel in Vorschlag brachte. Nachdem ich einige Schlucke in einem benachbarten Wirtshaus genossen, ging ich, von ihm geleitet, schwankenden Schrittes zu den Misses Spenlow.
Ich hatte die unbestimmte Empfindung beobachtet zu werden, als das Mädchen die Tür öffnete und ich durch eine Vorhalle mit einem Wetterglas in ein stilles kleines Parterrezimmer mit der Aussicht auf einen niedlichen Garten wankte. Es kam mir so vor, als setzte ich mich auf ein Sofa, glaubte Traddles Haar, wie er seinen Hut abnahm, aufschnellen zu sehen gleich einer der gewissen kleinen Schreckfiguren, die aus Schnupftabakzauberdosen hervorspringen. Ich glaube, ich hörte eine altmodische Uhr auf dem Kaminsims ticken, und versuchte, das Geräusch mit meinem Herzklopfen in Takt zu bringen, aber es gelang nicht. Ich sah mich, glaube ich, im Zimmer nach einem Zeichen von Doras Anwesenheit um und erblickte nichts. Mir scheint, Jip bellte einmal in der Ferne und wurde sofort von jemand beschwichtigt.
Zuletzt fand ich mich in einer Situation wieder, in der ich Traddles rücklings in den Kamin drängte und mich in großer Verwirrung vor zwei vertrockneten ältlichen Damen verbeugte, die, schwarz gekleidet, auch in ihrem übrigen Aussehen lebhaft an den verstorbenen Mr. Spenlow erinnerten.
»Ich bitte«, sagte eine der beiden kleinen Damen, »nehmen Sie Platz.«
Als ich aufgehört hatte, über Traddles zu stolpern, und mich auf etwas gesetzt hatte – es war keine Katze, wie das erste Mal –, hellten sich meine Augen wenigstens so weit auf, um sehen zu können, daß die jüngere der beiden Schwestern, die sechs bis acht Jahre älter als Mr. Spenlow sein mochten, mit der Leitung der Konferenz beauftragt zu sein schien, denn sie hielt meinen Brief in der Hand und betrachtete ihn von Zeit zu Zeit durch ein Augenglas.
Beide waren gleich gekleidet, aber diese Dame trug sich etwas jugendlicher; ein wenig mehr Fransen, eine Brosche oder ein Armband oder andere Kleinigkeiten der Art verliehen ihr ein etwas lebhafteres Aussehen. Beide hielten sich sehr steif, waren zeremoniell, gefaßt und ruhig. Die ältere hatte die Arme verschränkt und saß da wie ein Götzenbild.
»Mr. Copperfield vermute ich«, sagte die Schwester mit dem Brief zu Traddles.
Das war ein schrecklicher Anfang. Traddles mußte auseinandersetzen, daß ich Mr. Copperfield wäre, stellte mich vor, und die Damen hatten sich von ihrer vorgefaßten Meinung, Traddles sei Mr. Copperfield, freizumachen, und alles war in trefflicher Konfusion. Um das Maß vollzumachen, hörte man Jip draußen deutlich bellen und wieder beschwichtigt werden.
»Mr. Copperfield!« wandte sich jetzt die Schwester mit dem Brief an mich.
Ich tat irgend etwas – verbeugte mich vermutlich – und war ganz Ohr, als die andere Dame einfiel:
»Meine Schwester Lavinia, die in Dingen dieser Art bewandert ist, wird klarlegen, was wir zur Förderung des Glückes beider Teile für das Geeignetste erachten.«
Ich entdeckte später, daß Miss Lavinia als Autorität in Herzensangelegenheiten galt, weil früher einmal ein gewisser Mr. Pidger im Hause einen kurzen Whist gespielt und sich angeblich dabei in sie verliebt haben sollte.
Meiner Meinung nach war dies eine willkürliche Annahme gewesen, denn Mr. Pidger hatte niemals ein Wort darüber verlauten lassen. Aber Miss Lavinia und Miss Clarissa lebten in dem Glauben, er sei nur deshalb von einer Liebeserklärung abgehalten worden, weil er durch den Tod in der Blüte seiner Jahre, nämlich im sechzigsten, infolge übermäßigen Trinkens und darauffolgenden massenhaften Genusses der Heilquellen von Bath, der Welt entrissen wurde. Sie hegten den Verdacht, er sei an unterdrückter Liebe gestorben. Sein Porträt im Hause stellte ihn mit einer leuchtendroten Nase dar, und ich vermochte darin nicht das Zeichen heimlicher Liebesleidenschaft zu sehen.
»Wir wollen nicht von der Vergangenheit sprechen«, sagte Miss Lavinia. »Der Tod unseres armen Bruders Francis enthebt uns dessen.«
»Wir standen mit unserm Bruder Francis nicht in häufigem Verkehr«, unterbrach Miss Clarissa, »aber ausgesprochene Uneinigkeit herrschte nie zwischen uns. Francis schlug seinen Weg ein, und wir den unsrigen. Wir erachteten das für das Glück aller Beteiligten als das beste. Und das war es auch.«
Jede der beiden Schwestern bog sich stets ein wenig beim Sprechen vor, nickte dann und saß wieder steif aufrecht, wenn sie schwieg. Miss Clarissa bewegte die Arme nie. Manchmal trommelte sie mit ihren Fingern – Menuette und Märsche, wie es schien.
»Die Lage unserer Nichte oder besser gesagt, ihre vermeintliche Lage, hat sich durch das Ableben unseres Bruders Francis sehr verändert«, sagte Miss Lavinia, »und deshalb erachten wir die Meinung unseres Bruders über ihre Lage ebenfalls für verändert. Wir haben keinen Grund zu bezweifeln, Mr. Copperfield, daß Sie ein junger Gentleman von guten Eigenschaften und ehrenwertem Charakter sind, noch auch, daß Sie eine Neigung – wenigstens Ihrer Überzeugung nach – zu unserer Nichte gefaßt haben.«
Ich erwiderte wie immer, wenn sich Gelegenheit dazu bot, daß noch nie ein Mensch so geliebt habe wie ich. Traddles kam mir mit einem bekräftigenden Gemurmel zu Hilfe.
Miss Lavinia wollte fortfahren, aber Miss Clarissa, immerwährend von dem Verlangen beseelt, über ihren Bruder Francis zu sprechen, fiel ihr ins Wort:
»Wenn Doras Mama gleich bei ihrer Verheiratung mit unserm Bruder Francis festgestellt hätte, daß für die Familie kein Platz am Mittagstisch sei, wäre es für das Glück aller Beteiligten besser gewesen!«
»Schwester Clarissa«, sagte Miss Lavinia. »Vielleicht brauchen wir davon jetzt nicht zu sprechen.«
»Liebe Schwester Lavinia, es gehört zur Sache! In den Teil der Angelegenheit, von dem du allein zu sprechen berechtigt bist, nehme ich mir nicht heraus dreinzureden. Aber in dem eben erwähnten habe ich eine Stimme und eine Meinung. – Es wäre besser gewesen für das Wohl aller Beteiligten, wenn Doras Mama gleich bei ihrer Verheiratung mit unserm Bruder Francis ihre Ansicht offen herausgesagt hätte. Wir wären informiert gewesen und hätten gesagt: Bitte, dann ladet uns überhaupt nicht ein, und jede Möglichkeit eines Mißverständnisses wäre unterblieben.«
Als Miss Clarissa mit Kopfnicken fertig war, fing Miss Lavinia wieder an, nachdem sie meinen Brief abermals durch ihr Augenglas betrachtet hatte.
Sie hatten beide kleine, helle, runde, funkelnde Augen und überhaupt ganz das Wesen von lebhaften, putzigen, federschüttelnden Kanarienvögeln.
Miss Lavinia fuhr also fort:
»Sie bitten meine Schwester und mich um Erlaubnis, Mr. Copperfield, als erklärter Bewerber unserer Nichte hier verkehren zu dürfen.«
»Wenn unser Bruder Francis«, fiel Miss Clarissa ein, »sich schon mit einer Atmosphäre von Doctors' Commons und nur von Doctors' Commons zu umgeben wünschte, wie konnten wir etwas dagegen einwenden? Wir hatten kein Recht dazu und sind immer weit entfernt gewesen, uns jemand aufdrängen zu wollen. Aber warum sagte er es nicht offen heraus? Unser Bruder Francis und seine Gattin sollen sich ihre Gesellschaft ruhig aussuchen. Meine Schwester Lavinia und ich finden unsern Verkehr auch ohne ihn, hoffe ich.«
Da sie sich mit diesen Worten an Traddles und mich zu wenden schien, gaben sowohl er als ich eine Art Antwort. Traddles Worte waren unhörbar. Ich glaube, ich äußerte mich, daß es für alle Teile höchst ehrenvoll sei. Was ich damit sagen wollte, wußte ich selbst nicht.
»Liebe Schwester Lavinia«, sagte Miss Clarissa, die jetzt ihr Herz erleichtert hatte, »bitte weiter.«
Miss Lavinia fuhr fort:
»Mr. Copperfield, meine Schwester Clarissa und ich haben Ihren Brief in sorgfältigste Erwägung gezogen und haben es nicht getan, ohne auch schließlich mit unserer Nichte darüber zu sprechen. Wir bezweifeln nicht, daß Sie sie sehr zu lieben glauben.«
»O, glauben! Maam«, hob ich ganz begeistert an. »O –«
Aber da mir Miss Clarissa einen vogelartigen Blick zuwarf, als wolle sie nicht, daß ich das Orakel unterbräche, so bat ich um Verzeihung.
»Liebe«, sagte Miss Lavinia und ersuchte ihre Schwester mit einem Blick um Beistimmung, die diese auch mit einem Kopfnicken nach jedem Satz erteilte, »Liebe, gereifte Zuneigung, Hingebung, Verehrung sprechen nicht mit lautem Ton! Ihre Stimmen sind leise. Sie sind bescheiden, liegen sozusagen im Hinterhalt und warten und warten. So sind die gereiften Früchte. Manchmal gleitet ein Leben hinweg, und immer noch reifen sie im Schatten.«
Natürlich verstand ich damals noch nicht diese Anspielung auf den unglücklichen Mr. Pidger, aber ich erkannte aus dem Ernst, mit dem Miss Clarissa mit dem Kopf nickte, daß Großes in diesen Worten verborgen lag.
»Die leichten – denn ich nenne sie im Vergleich mit solchen Empfindungen leicht – die leichten Neigungen der ganz jungen Leute«, fuhr Miss Lavinia fort, »sind dagegen wie Staub, verglichen mit Felsen. Weil es nun so schwer ist zu erkennen, ob sie von Dauer sind oder auf echtem Grunde stehen, waren meine Schwester Clarissa und ich lange unentschlossen, Mr. Copperfield, und Mr. –«
»Traddles«, ergänzte mein Freund, als er den Blick der Dame auf sich ruhen fühlte.
»Ich bitte um Entschuldigung. Vom innern Juristenkollegium, glaube ich?« Sagte Miss Clarissa und sah wieder in den Brief.
»So ist es«, bestätigte Traddles und wurde ziemlich rot.
Obwohl ich bisher noch keinerlei Aufmunterung zu hören bekommen hatte, so glaubte ich doch in den beiden kleinen Schwestern und vornehmlich in Miss Lavinia eine große Neigung zu erkennen, dieses neue vielversprechende Thema häuslichen Interesses zu genießen und nach Möglichkeit auszuspinnen, was mir ziemlich viel Hoffnung erweckte. Mir schien es, als ob Miss Lavinia außerordentliche Lust darin fände, zwei junge Liebende wie Dora und mich am Gängelbande zu führen, und es Miss Clarissa nicht weniger Genuß bereitete, diese Leitung mitanzusehen und sich in ihrer Art einzumischen, je nachdem sie der Geist dazu trieb.
Die Wahrnehmung flößte mir den Mut ein auf das lebhafteste zu beteuern, daß ich Dora mehr liebe, als ich sagen könnte; daß alle meine Freunde wüßten, wie sehr es der Fall sei; daß meine Tante, Agnes, Traddles und jeder, der mich kenne, wüßten, wie sehr ich Dora liebte und wie ernst mich diese Liebe gemacht hätte. Zur Bestätigung wandte ich mich immer an Traddles. Und Traddles wurde so lebhaft, als ob er mitten in einer parlamentarischen Debatte stünde, und benahm sich geradezu großartig. Er bestätigte meine Rede in festen, klaren Worten und mit einer einfachen, verständigen Art, die offenbar einen günstigen Eindruck machte.
»Ich spreche wie jemand, der eine gewisse Erfahrung in solchen Dingen hat«, sagte Traddles, »denn ich selbst bin mit einer jungen Dame verlobt – einer von zehn Schwestern unten in Devonshire – und sehe bis jetzt noch keine Möglichkeit, wann unser Brautstand zu einem Abschluß kommen kann.«
»Sie werden also gewiß bestätigen können, Mr. Traddles, was ich vorhin sagte von der Liebe, die bescheiden und zurückhaltend wartet und wartet«, bemerkte Miss Lavinia, meinen Freund mit erneutem Interesse ansehend.
»Vollkommen, Maam!«
Miss Clarissa warf Miss Lavinia einen Blick zu und nickte ernst mit dem Kopf. Miss Lavinia erwiderte den Blick mit Selbstbewußtsein und seufzte leise.
»Liebe Schwester Lavinia«, sagte Miss Clarissa, »nimm mein Riechfläschchen.«
Miss Lavinia belebte sich mit ein paar Zügen an dem Fläschchen, während Traddles und ich mit großer Teilnahme zusahen, und fuhr dann mit etwas schwacher Stimme fort:
»Meine Schwester und ich haben lange geschwankt, Mr. Traddles, was wir angesichts der Neigung – der vielleicht bloß eingebildeten Neigung – von zwei so ganz jungen Leuten, wie Ihr Freund Mr. Copperfield und unsere Nichte sind, tun sollten.«
»Unseres Bruders Francis Kind!« fiel Miss Clarissa wieder ein. »Wenn unseres Bruders Francis Gattin es zu ihren Lebzeiten für passend gefunden hätte – sie konnte doch selbstverständlich ganz nach Belieben handeln –, die Familie zu ihrer Mittagstafel einzuladen, so würden wir unseres Bruders Francis Kind gegenwärtig besser kennen. Liebe Schwester Lavinia, bitte weiter.«
Miss Lavinia drehte meinen Brief um und blickte durch ihr Augenglas auf ein paar Notizen, die sie dort aufgeschrieben hatte.
»Ich glaube, wir tun gut, Mr. Traddles, es auf eine Beobachtungsprobe ankommen zu lassen. Deshalb sind wir geneigt, insoweit auf Mr. Copperfields Vorschlag einzugehen, daß wir seine Besuche hier gestatten.«
»Niemals werde ich Ihnen Ihre Güte vergessen, meine verehrten Damen!« rief ich. Es war mir ein Stein vom Herzen gefallen.
»Aber«, fuhr Miss Lavinia fort, »wir wünschen, daß diese Besuche vorderhand so angesehen werden, Mr. Traddles, als ob sie uns gälten. Wir müssen uns hüten, eine formelle Verlobung zwischen Mr. Copperfield und unserer Nichte anzuerkennen, ehe wir nicht Gelegenheit gehabt haben –«
»Ehe du nicht Gelegenheit gehabt hast, liebe Schwester Lavinia!«
»Sei es«, stimmte Miss Lavinia mit einem Seufzer bei. »Ehe ich nicht Gelegenheit gehabt habe sie zu beobachten.«
»Copperfield«, wandte sich Traddles zu mir, »du siehst gewiß ein, daß nichts verständiger oder billiger sein kann.«
»Nichts!« rief ich aus. »Ich bin unendlich dankbar dafür.«
»Bei dieser Sachlage«, fuhr Miss Lavinia fort und zog weiter ihre Notizen zu Rate, »und da wir seine Besuche unter einer andern Bedingung nicht gestatten können, müssen wir von Mr. Copperfield die bestimmte Zusage auf Ehrenwort verlangen, daß er mit unserer Nichte in keiner andern Weise und ohne unser Wissen in Verkehr tritt, – daß kein Plan, wie beschaffen er auch immer sei, in bezug auf unsere Nichte entworfen wird, ohne daß man ihn zuerst uns unterbreitet.«
»Dir, Schwester Lavinia!«
»Sei es so, Clarissa, –« sagte Miss Lavinia mit Resignation, »– also mir! Wir müssen dies zu einer ausdrücklichen und ernstlichen Bedingung machen, die um keinen Preis verletzt werden darf. Wir wünschten Mr. Copperfield heute mit einem vertrauten Freunde bei uns zu sehen«, – mit einer Verbeugung gegen Traddles, der sie erwiderte, – »damit über diese Sache kein Zweifel oder Mißverständnis entsteht. Wenn Mr. Traddles oder Sie, Mr. Copperfield, den mindesten Anstand nehmen dieses Versprechen zu geben, so bitte ich Sie, sich die Sache erst zu überlegen.«
In höchster Begeisterung rief ich aus, daß keine Sekunde Überlegung nötig sei. Ich legte das verlangte Versprechen in der leidenschaftlichsten Weise ab, rief Traddles zum Zeugen an und nannte mich den verabscheuungswürdigsten Menschen, wenn ich es jemals auch nur im mindesten verletzte.
»Halt!« rief Miss Lavinia und hielt abwehrend die Hand empor. »Ehe wir das Vergnügen hatten die beiden Herren zu empfangen, beschlossen wir, sie zur Erwägung dieses Punktes eine Viertelstunde allein zu lassen. Gestatten Sie, daß wir uns zurückziehen.«
Vergebens beteuerte ich, daß keine Überlegung notwendig sei. Die Damen bestanden darauf, sich auf eine Viertelstunde zu entfernen.
Dann hüpften die beiden kleinen Vögel mit großer Würde hinaus und ließen mich mit Traddles im Zimmer zurück.
Ich nahm die Glückwünsche meines Freundes entgegen und schwebte in einem Gefühl, als wäre ich in die Regionen ewiger Glückseligkeit versetzt. Genau nach Ablauf einer Viertelstunde traten die Damen mit Würde wieder ein. Sie waren fortgerauscht, als ob ihre Kleider aus Herbstblättern bestünden, und rauschten in derselben Weise wieder herein.
Ich verpflichtete mich feierlich von neuem, an den vorgeschriebenen Bedingungen festzuhalten.
»Liebe Schwester Clarissa«, sagte Miss Lavinia, »das Übrige ist deine Sache.«
Miss Clarissa löste jetzt zum ersten Mal ihre verschränkten Arme, ergriff den Brief und warf einen Blick auf die Notizen.
»Wir werden uns glücklich schätzen«, sagte sie, »Mr. Copperfield jeden Sonntag zum Essen bei uns zu sehen, wenn es ihm paßt. Wir speisen um drei Uhr.«
Ich verbeugte mich.
»Im Lauf der Woche«, fuhr Miss Clarissa fort, »werden wir uns glücklich schätzen, Mr. Copperfield beim Tee zu sehen. Unsere Stunde ist halb sieben.«
Ich verbeugte mich abermals.
»Zweimal in der Woche als Regel, nicht öfter.«
Ich verbeugte mich wiederum.
»Miss Trotwood, von der in Mr. Copperfields Briefe Erwähnung geschieht, wird uns vielleicht auch besuchen. Wenn Besuche für das Glück aller Beteiligten angezeigt erscheinen, empfangen wir gern Besuche und erwidern sie auch. Wenn es besser ist für das Glück aller Beteiligten, daß keine stattfinden – wie es bei unserm Bruder Francis und seiner Familie der Fall war –, so ist das etwas ganz anderes.«
Ich beteuerte, daß meine Tante sich stolz und glücklich schätzen würde, die Bekanntschaft der Damen zu machen, – obgleich ich nicht ganz sicher war, daß sie gut zusammenpassen würden. Da die Bedingungen jetzt festgestellt waren, sprach ich meinen Dank in der wärmsten Weise aus und ergriff zuerst Miss Clarissas und hierauf Miss Lavinias Hand und drückte sie an die Lippen.
Miss Lavinia stand dann auf, bat Mr. Traddles, uns einen Augenblick zu entschuldigen, und forderte mich auf, ihr zu folgen. Ich gehorchte zitternd vor Aufregung und trat mit ihr in das anstoßende Zimmer. Dort fand ich meinen kleinen Liebling hinter der Tür, sich die Ohren zuhaltend und das liebliche Gesichtchen der Wand zugekehrt, während Jip im Tellerwärmer saß, den Kopf mit einem Handtuch zugebunden.
O, wie schön war sie in ihrem schwarzen Hauskleid! Wie schluchzte sie anfangs und weinte und wollte nicht hinter der Türe hervor. Und wie lieb wir einander hatten, als sie endlich hervorkam, und wie selig ich war, als wir Jip aus dem Tellerwärmer herausholten und ihn, stark niesend, dem Lichte wieder schenkten und dann alle drei beisammen saßen.
»Liebste Dora! Jetzt bist du für immer mein!«
»O, bitte nicht«, flehte Dora, »bitte.«
»Bist du denn nicht für immer mein, Dora?«
»O ja, natürlich! Aber ich bin so erschrocken.«
»Erschrocken, mein Herz?«
»O ja. Ich kann ihn nicht ausstehn. Warum geht er nicht fort.«
»Wer denn, Herzensschatz?«
»Dein Freund. Es geht ihn doch gar nichts an! Wie dumm er sein muß!«
»Aber liebe Dora« – nichts konnte entzückender sein als ihre kindische Art – »er ist das beste Geschöpf von der Welt.«
»Aber wir brauchen keine besten Geschöpfe«, schmollte Dora.
»Du wirst ihn bald besser kennenlernen, Liebling, und er wird dir gefallen. Und meine Tante kommt auch bald her, und auch an ihr wirst du viel Gefallen finden, sobald du sie näher kennst.«
»O, bitte nein, bringe sie nicht her«, sagte Dora, gab mir schnell und erschrocken einen Kuß und faltete die Hände. »O, bitte nicht! Ich weiß, sie ist eine böse, Unheil stiftende, alte Frau. Bringe sie nicht her –, Doady!« was eine Abkürzung für David sein sollte.
Ich sah wohl, Vorstellungen halfen jetzt nichts. So lachte ich und war sehr verliebt und sehr glücklich. Sie zeigte mir Jips neuestes Kunststück, wie er in einer Ecke auf den Hinterbeinen stehen konnte; – er tat es etwa so lange, wie ein Blitz aufleuchtet, und fiel dann wieder zusammen, und ich weiß nicht, wie lange ich dageblieben wäre, ohne an Traddles zu denken, wenn Miss Lavinia mich nicht holen gekommen wäre.
Miss Lavinia hatte Dora sehr gern (sie sähe ganz so aus, wie sie selbst einst in diesem Alter ? Miss Lavinia mußte sich unglaublich verändert haben) und behandelte sie immer wie ein Spielzeug. Ich wollte Dora überreden sich Traddles vorstellen zu lassen, aber kaum brachte ich es heraus, da lief sie fort in ihr Zimmer und schloß sich ein. So begab ich mich wieder zu Traddles ohne sie und ging mit ihm fort wie auf Wolken wandelnd.
»Befriedigender konnte es nicht ausfallen«, sagte Traddles. »Es sind wirklich ein paar sehr angenehme alte Damen. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn du Jahre vor mir heiratest, Copperfield.«
»Spielt deine Sophie ein Instrument, Traddles?« fragte ich, Stolz im Herzen.
»Sie spielt Piano grade gut genug, um es ihren kleinen Schwestern lehren zu können«, sagte Traddles.
»Singt sie auch?«
»Manchmal singt sie Balladen, um die andern etwas aufzuheitern, wenn sie schlechter Laune sind. Aber sie hat keine geschulte Stimme.«
»Begleitet sie sich mit der Gitarre?« fragte ich.
»O Gott, nein.«
»Malt sie?«
»Auch das nicht.«
Ich versprach Traddles, daß er Dora singen hören und ihre Blumenmalerei sehen sollte. Er sagte, es würde ihm viel Freude machen, und wir gingen in der vortrefflichsten Stimmung Arm in Arm nach Haus. Ich ermunterte ihn, mir von Sophie zu erzählen, und sah, mit welcher Liebe er auf sie vertraute. Ich verglich sie innerlich mit Dora und fühlte mich bei dem Vergleich nicht wenig befriedigt. Aber ich begriff auch, was für ein vortreffliches Mädchen sie für Traddles sein mußte.
Natürlich setzte ich meine Tante sofort von dem erfolgreichen Ausgang der Konferenz mit allen Details in Kenntnis. Sie war froh, mich so glücklich zu sehen, und versprach, unverzüglich Doras Tanten einen Besuch abzustatten. Aber sie machte an diesem Abend einen so langen Spaziergang durch unser Zimmer, während ich an Agnes schrieb, daß es schien, als sollte er bis zum Morgen dauern.
Mein Brief an Agnes war innig und dankbar, und ich erzählte ihr, welche gute Wirkungen ihr Rat für mich gehabt hatte. Sie antwortete umgehend, und ihr Brief war hoffnungsvoll, innig und heiter.
Ich hatte jetzt mehr zu tun als je. Mit Rücksicht auf meine täglichen Wanderungen nach Highgate bedeutete Putney einen weiteren Ausflug, und ich wünschte natürlich so oft wie möglich dort zu sein. Da die vorgeschlagnen Teebesuche ganz unausführbar waren, erhielt ich von Miss Lavinia die Erlaubnis, statt dessen jeden Samstagnachmittag einen langen Besuch machen zu dürfen. So wurde mir der Schluß jeder Woche eine köstliche Zeit, und die sehnsüchtige Erwartung half mir über die übrigen Tage hinweg.
Einen großen Trost gewährte es mir, daß meine Tante mit den zwei Damen viel besser auskam, als ich erwartet hatte. Sie stattete ihren versprochenen Besuch wenige Tage nach der Konferenz ab, und nicht lange später besuchten Doras Tanten sie in aller Form. Ähnliche Zusammenkünfte freundschaftlichen Charakters fanden später jedesmal in Zwischenräumen von drei bis vier Wochen statt.
Allerdings entsetzte meine Tante die beiden Damen sehr dadurch, daß sie alle Fiaker verschmähte und zu den ungewöhnlichsten Zeiten nach Putney ging oder ihren Hut so trug, wie es ihr gerade beliebte, ohne sich im geringsten um die Vorurteile der Zivilisation zu bekümmern. Doras Tanten waren sich bald darüber einig, in Miss Trotwood eine exzentrische und etwas männliche, mit einem starken Verstände ausgestattete Dame zu sehen, und wenn sie auch gelegentlich durch ketzerische Meinungsäußerung über verschiedne Punkte der Etikette gekränkt waren, so kam doch immer wieder eine allgemeine Harmonie zustande, da meine Tante aus Liebe zu mir einige ihrer kleinen Eigenheiten aufopferte.
Jip war das einzige Mitglied unserer kleinen Gesellschaft, das sich durchaus den Umständen nicht anpassen wollte. Sooft er meine Tante sah, ließ er sofort jeden Zahn im Maule sehen, zog sich unter einen Stuhl zurück und knurrte rastlos. Nur dann und wann unterbrach er sich mit einem kläglichen Geheul, als ob wirklich seinen Gefühlen zu viel zugemutet würde.
Alles wurde an ihm versucht, Liebkosen, Schelten, Schläge, und einmal brachte man ihn sogar in die Buckingham-Straße, wo er zum Schrecken aller Zusehenden sofort auf die beiden Katzen losfuhr. Aber nie konnte er sich überwinden die Gesellschaft meiner Tante zu ertragen. Manchmal schien es, als habe er seine Abneigung überwunden; dann war er ein paar Minuten ganz liebenswürdig, aber plötzlich schnupperte er mit seinem Stumpfnäschen in die Luft und heulte so jämmerlich, daß nichts übrigblieb, als ihm die Augen zu verbinden und ihn in den Tellerwärmer zu setzen. Später band ihn Dora regelmäßig in ein Tuch ein und steckte ihn in den Tellerwärmer, sooft sie meine Tante von weitem kommen sah.
Etwas machte mir große Sorge, als wir so in stillem Glück dahinlebten. Nämlich, daß Dora, wie auf allgemeinen Beschluß, wie ein hübsches Spielzeug behandelt wurde. Meine Tante, mit der sie nach und nach vertraut wurde, nannte sie immer nur »Blümchen«, und Miss Lavinia fand ihr einziges Vergnügen darin, sie zu verhätscheln, ihr das Haar zu locken, Putz für sie zu nähen und sie wie ein Schoßkind zu behandeln. Und die Schwester folgte natürlich Miss Lavinias Beispiel.
Ich nahm mir vor, mit Dora darüber zu sprechen, als wir einmal zusammen spazierengingen. Wir hatten nämlich nach einiger Zeit die Erlaubnis bekommen, allein auszugehen.
»Mein Liebling«, stellte ich ihr vor, »du bist doch kein kleines Kind!«
»Da haben wirs«, sagte Dora. »Jetzt wirst du wild.«
»Wild, meine Liebe?«
»Sie sind doch so gut gegen mich«, sagte Dora, »und ich fühle mich so glücklich!«
»Das ist herrlich, aber mein Liebling«, sagte ich, »du könntest doch sehr glücklich sein und dabei vernünftig behandelt werden.«
Dora warf mir einen allerliebsten vorwurfsvollen Blick zu, fing dann an zu schluchzen und fragte, warum ich mich denn mit ihr verlobt hätte, wenn ich sie nicht ausstehen könnte.
Was konnte ich anderes tun, als ihr die Tränen wegküssen und ihr beteuern, wie sehr ich sie liebte.
»Ich bin so liebebedürftig«, sagte Dora, »und du solltest nicht so hart gegen mich sein, Doady.«
»Ich hart, Herzensschatz? Als ob ich um eine ganze Welt hart gegen dich sein wollte oder könnte.«
»Dann schilt mich nicht immer aus!« sagte Dora und machte eine Rosenknospe aus ihren Lippen, »und ich will wieder gut sein.«
Es freute mich unendlich, daß sie mich gleich darauf aus freien Stücken bat, ihr das früher erwähnte Kochbuch zu bringen und ihr zu zeigen, wie man Rechnung führte.
Ich brachte bei meinem nächsten Besuch das Buch mit und ließ es vorher hübsch einbinden, damit es einladender aussähe. Und beim Spaziergang zeigte ich ihr ein altes Haushaltungsbuch meiner Tante und schenkte ihr einen Satz Schreibtäfelchen und ein Kästchen Bleistifte, damit sie sich üben könnte.
Aber das Kochbuch machte Dora Kopfweh und die Zahlen brachten sie zum Weinen. Sie gingen nicht zu addieren, sagte sie; deshalb löschte sie sie aus und zeichnete die Täfelchen mit lauter kleinen Sträußchen und Porträts von mir und Jip voll.
Dann versuchte ich wie im Scherz, einen mündlichen Unterricht in Haushaltungssachen zu beginnen. Wenn wir an einem Fleischerladen vorübergingen, fragte ich zum Beispiel: »Denke einmal, Schatz, wir wären verheiratet, und du wolltest zum Mittagessen eine Hammelkeule kaufen. Wie würdest du das wohl machen?« Das Gesicht meiner hübschen, kleinen Dora wurde betrübt, und sie machte wieder eine Rosenknospe aus ihrem Munde.
»Würdest du wissen, wie man sie kauft?« wiederholte ich dann vielleicht, wenn ich besonders unbeugsam gestimmt war.
Dora pflegte in einem solchen Fall ein wenig nachzudenken und triumphierend zu antworten:
»Aber der Fleischer weiß doch, wie er sie zu verkaufen hat, was brauche ich es da zu wissen! O Gott, was bist du für ein närrischer Junge!«
Ein ander Mal, als ich Dora fragte, was sie wohl tun würde, wenn wir verheiratet wären und ich möchte gern ein delikates irisches Ragout, gab sie zur Antwort, sie würde der Köchin auftragen es zu bereiten. Und dann faltete sie ihre kleinen Hände auf meinem Arm und lachte so entzückend, daß sie bezaubernder war als je.
Die Hauptverwendung des Kochbuchs bestand darin, daß Dora es in eine Ecke legte, damit Jip darauf aufwarten könnte. Sie freute sich unendlich, als er das schließlich erlernt hatte und dabei den Bleistift im Maul hielt.
Wir kamen schließlich wieder auf die Gitarre zurück und das Blumenmalen und die Lieder vom unaufhörlichen Tanzen – tarala – und waren so glücklich, wie die Woche lang war. Manchmal wünschte ich, ich könnte mir das Herz fassen, Miss Lavinia zu sagen, sie behandle das Kleinod meines Herzens zu sehr wie ein Spielzeug. Und dann ertappte ich mich immer wieder, daß ich es selber nicht anders gemacht hatte.