Es war Winter geworden, Weihnacht war vorüber, man schrieb Januar, Januar 1875. Der Schnee, der die Bürgersteige als eine festgetretene, mit Sand und Asche untermischte Masse bedeckte, lagerte zu beiden Seiten der Fahrdämme in hohen Haufen, die beständig grauer, zerklüfteter und poröser wurden, denn es waren Wärmegrade in der Luft. Das Pflaster war naß und schmutzig, und von den grauen Giebeln troff es. Aber darüber spannte sich der Himmel zartblau und makellos, und Milliarden von Lichtatomen schienen wie Kristalle in dem Azur zu flimmern und zu tanzen …
Im Zentrum der Stadt war es lebendig, denn es war Sonnabend und Markttag. Unter den Spitzbogen der Rathaus-Arkaden hatten die Fleischer ihre Stände und wogen mit blutigen Händen ihre Ware ab. Auf dem Marktplatze selbst aber, um den Brunnen herum, war Fischmarkt. Dort saßen, die Hände in halb enthaarten Pelzmüffen und die Füße an Kohlenbecken wärmend, beleibte Weiber, die ihre naßkalten Gefangenen hüteten und die umherwandernden Köchinnen und Hausfrauen mit breiten Worten zum Kaufe einluden. Es war keine Gefahr, betrogen zu werden. Man konnte sicher sein, etwas Frisches zu erhandeln, denn die Fische lebten fast alle noch, die fetten, muskulösen Fische … Einige hatten es gut. Sie schwammen, in einiger Enge zwar, aber doch guten Mutes, in Wassereimern umher und hatten nichts auszustehen. Andere aber lagen mit fürchterlich glotzenden Augen und arbeitenden Kiemen, zählebig und qualvoll auf ihrem Brett und schlugen hart und verzweifelt mit dem Schwanze, bis man sie endlich packte und ein spitzes, blutiges Messer ihnen mit Knirschen die Kehle zerschnitt. Lange und dicke Aale wanden und schlängelten sich zu abenteuerlichen Figuren. In tiefen Bütten wimmelte es schwärzlich von Ostseekrabben. Manchmal zog ein starker Butt sich krampfhaft zusammen und schnellte sich in seiner tollen Angst weit vom Brette fort auf das schlüpfrige, von Abfällen verunreinigte Pflaster, so daß seine Besitzerin ihm nachlaufen und ihn unter harten Worten der Mißbilligung seiner Pflicht wieder zuführen mußte …
In der Breiten Straße herrschte um Mittag reger Verkehr. Schulkinder, die Ränzel auf dem Rücken, kamen daher, erfüllten die Luft mit Lachen und Geplapper und warfen einander mit dem halb zertauten Schnee. Junge Kaufmannslehrlinge aus guter Familie, mit dänischen Schiffermützen oder elegant nach englischer Mode gekleidet, Portefeuilles in den Händen, gingen nicht ohne Würde vorüber, stolz, dem Realgymnasium entronnen zu sein. Gesetzte, graubärtige und höchlichst verdiente Bürger stießen mit dem Gesichtsausdruck unerschütterlich nationalliberaler Gesinnung ihre Spazierstöcke vor sich her und blickten aufmerksam zu der Glasurziegelfassade des Rathauses hinüber, an dessen Portal die Doppelwache aufgezogen war. Denn der Senat war versammelt. Die beiden Infanteristen schritten in ihren Mänteln, das Gewehr auf der Schulter, die ihnen zugemessene Strecke ab, indem sie kaltblütig durch die kotige und halbflüssige Schneemasse am Boden stampften. Sie begegneten sich in der Mitte vorm Eingang, sahen sich an, wechselten ein Wort und gingen nach beiden Seiten wieder auseinander. Manchmal, wenn mit emporgeklapptem Paletotkragen und beide Hände in den Taschen, ein Offizier sich näherte, der den Spuren irgendeines Mamsellchens folgte und sich gleichzeitig von den jungen Damen aus großem Hause bewundern ließ, stellte sich jeder vor sein Schilderhaus, besah sich selbst von oben bis unten und präsentierte … Es hatte noch gute Weile, bis sie den Senatoren beim Herauskommen zu salutieren haben würden. Die Sitzung dauerte erst drei Viertelstunden. Sie würden wohl vorher noch abgelöst werden …
Da aber, plötzlich, vernahm der eine der beiden Soldaten ein kurzes, diskretes Zischen im Innern des Gebäudes, und im selben Augenblick leuchtete im Portal der rote Frack des Ratsdieners Uhlefeldt auf, welcher mit Dreispitz und Galanteriedegen, in äußerster Geschäftigkeit zum Vorschein kam, ein leises »Achtung!« hervorstieß und sich eilfertig wieder zurückzog, während drinnen auf den hallenden Fliesen schon nahende Schritte sich hören ließen …
Die Infanteristen machten Front, sie zogen die Absätze zusammen, steiften das Genick, blähten die Brust, setzten das Gewehr bei Fuß und präsentierten es mit ein paar prompt zusammenklappenden Griffen. Zwischen ihnen hindurch schritt ziemlich geschwind, mit gelüftetem Zylinder, ein kaum mittelgroßer Herr, der eine seiner hellen Brauen ein wenig emporgezogen hielt, und dessen weißliche Wangen von den lang ausgezogenen Schnurrbartspitzen überragt wurden. Senator Thomas Buddenbrook verließ heute lange vor Schluß der Sitzung das Rathaus.
Er bog rechts ab und schlug also nicht den Weg zu seinem Hause ein. Korrekt, tadellos sauber und elegant ging er mit dem etwas hüpfenden Schritte, der ihm eigen war, die Breite Straße entlang, indem er beständig nach allen Seiten zu grüßen hatte. Er trug weiße Glacéhandschuhe und hielt seinen Stock mit silberner Krücke unter dem linken Arm. Hinter den dicken Revers seines Pelzes sah man die weiße Frackkrawatte. Aber sein sorgfältig hergerichteter Kopf sah übernächtig aus. Verschiedene Leute bemerkten im Vorübergehen, daß ihm plötzlich die Tränen in die geröteten Augen stiegen, und daß er die Lippen auf eine ganz sonderbare, behutsame und verzerrte Weise geschlossen hielt. Manchmal schluckte er hinunter, als habe sein Mund sich mit Flüssigkeit gefüllt; und dann konnte man an den Bewegungen der Muskeln an Wangen und Schläfen beobachten, daß er die Kiefer zusammenbiß.
»Was nun, Buddenbrook, du schwänzst die Sitzung? Das ist mal was Neues!« sagte am Anfang der Mühlenstraße jemand zu ihm, den er nicht hatte kommen sehen. Es war Stephan Kistenmaker, der plötzlich vor ihm stand, sein Freund und Bewunderer, der sich in öffentlichen Fragen jede seiner Meinungen zu eigen machte. Er besaß einen rundgeschnittenen, ergrauenden Vollbart, furchtbar dicke Augenbrauen und eine lange, poröse Nase. Vor ein paar Jahren hatte er sich, nachdem er ein gutes Stück Geld verdient, von dem Weingeschäft zurückgezogen, das nun sein Bruder Eduard auf eigene Hand weiterführte. Seitdem lebte er als Privatier; da er sich dieses Standes im Grunde aber ein wenig schämte, so tat er beständig, als habe er unüberwindlich viel zu tun. »Ich reibe mich auf!« sagte er und strich mit der Hand über seinen grauen, mit der Brennschere gewellten Scheitel. »Aber wozu ist der Mensch auf der Welt, als um sich aufzureiben?« Stundenlang stand er mit wichtigen Gebärden an der Börse, ohne dort das geringste zu suchen zu haben. Er bekleidete eine Menge von gleichgültigen Ämtern. Kürzlich hatte er sich zum Direktor der Städtischen Badeanstalt gemacht. Er fungierte emsig als Geschworener, als Makler, als Testamentsvollstrecker und wischte sich den Schweiß von der Stirn …
»Es ist doch Sitzung, Buddenbrook«, wiederholte er, »und du gehst spazieren?«
»Ach, du bist es«, sagte der Senator leise und mit widerwillig sich bewegenden Lippen … »Ich kann minutenlang nichts sehen. Ich habe wahnsinnige Schmerzen.«
»Schmerzen? Wo?«
»Zahnschmerzen. Seit gestern schon. Ich habe in der Nacht kein Auge zugetan … Ich war noch nicht beim Arzt, weil ich heute vormittag im Geschäft zu tun hatte und dann die Sitzung nicht versäumen wollte. Nun konnte ich es doch nicht aushalten und bin auf dem Wege zu Brecht …«
»Wo sitzt es denn?«
»Hier unten links … Ein Backenzahn … Er ist natürlich hohl … Es ist unerträglich … Adieu, Kistenmaker! Du begreifst, daß ich Eile habe …«
»Ja, meinst du, daß ich keine habe? Fürchterlich viel zu tun … Adieu! Gute Besserung übrigens! Laß ihn ausziehen! Immer gleich raus damit, das ist das beste …«
Thomas Buddenbrook ging weiter und biß die Kiefer zusammen, obgleich dies die Sache nur verschlimmerte. Es war ein wilder, brennender und bohrender Schmerz, eine boshafte Pein, die sich von einem kranken Backenzahn aus der ganzen linken Seite des Unterkiefers bemächtigt hatte. Die Entzündung pochte darin mit glühenden Hämmerchen und machte, daß ihm die Fieberhitze ins Gesicht und die Tränen in die Augen schossen. Die schlaflose Nacht hatte seine Nerven schrecklich angegriffen. Er hatte sich eben beim Sprechen zusammennehmen müssen, damit seine Stimme sich nicht breche.
In der Mühlenstraße betrat er ein mit gelbbrauner Ölfarbe gestrichenes Haus und stieg zum ersten Stockwerk empor, woselbst an der Tür auf einem Messingschild »Zahnarzt Brecht« zu lesen war. Er sah das Dienstmädchen nicht, das ihm öffnete. Auf dem Korridor roch es warm nach Beefsteak und Blumenkohl. Dann plötzlich atmete er die scharfriechende Luft des Wartezimmers, in das man ihn nötigte. »Nehmen Sie Platz … einen Momang!« schrie die Stimme eines alten Weibes. Es war Josephus, der im Hintergrunde des Raumes in seinem blanken Bauer saß und ihm mit kleinen, giftigen Augen schief und tückisch entgegenstarrte.
Der Senator setzte sich an den runden Tisch und versuchte, die Witze in einem Band »Fliegender Blätter« auf sich wirken zu lassen, schlug dann aber das Buch mit Ekel zu, drückte das kühle Silber seiner Stockkrücke gegen die Wange, schloß seine brennenden Augen und stöhnte. Rings war alles still, und nur Josephus biß mit Knacken und Knirschen in das ihn umgebende Gitter. Herr Brecht war es sich schuldig, auch wenn er unbeschäftigt war, eine Weile warten zu lassen.
Thomas Buddenbrook stand hastig auf und trank an einem Tischchen aus einer dort aufgestellten Karaffe ein Glas Wasser, das nach Chloroform roch und schmeckte. Dann öffnete er die Tür zum Korridor und rief mit gereizter Betonung hinaus, wenn nicht dringende Abhaltung vorhanden sei, möge Herr Brecht die Güte haben, sich ein wenig zu beeilen. Er habe Schmerzen.
Gleich darauf erschien der graumelierte Schnurrbart, die Hakennase und die kahle Stirn des Zahnarztes in der Tür zum Operationszimmer. »Bitte«, sagte er. »Bitte!« schrie auch Josephus. Der Senator folgte der Einladung ohne zu lachen. Ein schwerer Fall! dachte Herr Brecht und verfärbte sich …
Sie gingen beide rasch durch das helle Zimmer zu dem großen, verstellbaren Stuhl mit Kopfpolster und grünplüschenen Armlehnen, der vor einem der beiden Fenster stand. Während er sich niederließ, erklärte Thomas Buddenbrook kurz, um was es sich handele, legte den Kopf zurück und schloß die Augen.
Herr Brecht schrob ein wenig an dem Stuhle und machte sich dann mit einem Spiegelchen und einem Stahlstäbchen an dem Zahne zu schaffen. Seine Hand roch nach Mandelseife, sein Atem nach Beefsteak und Blumenkohl.
»Wir müssen zur Extraktion schreiten«, sagte er nach einer Weile und erblich noch mehr.
»Schreiten Sie nur«, sagte der Senator und schloß die Lider noch fester.
Nun trat eine Pause ein. Herr Brecht präparierte an einem Schranke irgend etwas und suchte Instrumente hervor. Dann näherte er sich dem Patienten aufs neue.
»Ich werde ein bißchen pinseln«, sagte er. Und sogleich begann er, diesen Entschluß zur Tat zu machen, indem er das Zahnfleisch ausgiebig mit einer scharf riechenden Flüssigkeit bestrich. Hierauf bat er leise und herzlich, stille zu halten und den Mund sehr weit zu öffnen, und begann sein Werk.
Thomas Buddenbrook hielt mit beiden Händen die Sammetarmpolster fest erfaßt. Er empfand kaum das Ansetzen und Zugreifen der Zange, bemerkte dann aber an dem Knirschen in seinem Munde sowie an dem wachsenden, immer schmerzhafter und wütender werdenden Druck, dem sein ganzer Kopf ausgesetzt war, daß alles auf dem besten Wege sei. Gott befohlen! dachte er. Nun muß es seinen Gang gehen. Dies wächst und wächst bis ins Maßlose und Unerträgliche, bis zur eigentlichen Katastrophe, bis zu einem wahnsinnigen, kreischenden, unmenschlichen Schmerz, der das ganze Gehirn zerreißt … Dann ist es überstanden; ich muß es nun abwarten.
Es dauerte drei oder vier Sekunden. Herrn Brechts bebende Kraftanstrengung teilte sich Thomas Buddenbrooks ganzem Körper mit, er wurde ein wenig auf seinem Sitze emporgezogen und hörte ein leise piependes Geräusch in der Kehle des Zahnarztes … Plötzlich gab es einen furchtbaren Stoß, eine Erschütterung, als würde ihm das Genick gebrochen, begleitet von einem kurzen Knacken und Krachen. Er öffnete hastig die Augen … Der Druck war fort, aber sein Kopf dröhnte, der Schmerz tobte heiß in dem entzündeten und mißhandelten Kiefer, und er fühlte deutlich, daß dies nicht das Bezweckte, nicht die wahre Lösung der Frage, sondern eine verfrühte Katastrophe sei, die die Sachlage nur verschlimmerte … Herr Brecht war zurückgetreten. Er lehnte am Instrumentenschrank, sah aus wie der Tod und sagte: »Die Krone … Ich dachte mir's.«
Thomas Buddenbrook spie ein wenig Blut in die blaue Schale zu seiner Seite, denn das Zahnfleisch war verletzt. Dann fragte er halb bewußtlos: »Was dachten Sie sich? Was ist mit der Krone?«
»Die Krone ist abgebrochen, Herr Senator … Ich fürchtete es … Der Zahn ist außerordentlich defekt … Aber es war meine Pflicht, das Experiment zu wagen …«
»Was nun?«
»Überlassen Sie alles mir, Herr Senator …«
»Was muß geschehen?«
»Die Wurzeln müssen entfernt werden. Vermittels des Hebels … Es sind vier an der Zahl …«
»Vier? Also ist viermaliges Ansetzen und Ziehen nötig?«
»Leider.«
»Nun, für heute ist es genug!« sagte der Senator und wollte sich rasch erheben, blieb aber trotzdem sitzen und legte den Kopf zurück.
»Lieber Herr, Sie dürfen nur Menschliches verlangen«, sagte er. »Ich stehe nicht auf den festesten Füßen … Für diesmal bin ich jedenfalls fertig … Wollen Sie die Güte haben, das Fenster da einen Augenblick zu öffnen.«
Dies tat Herr Brecht und dann erwiderte er: »Es wäre mir vollkommen lieb, Herr Senator, wenn Sie morgen oder übermorgen zu einer beliebigen Stunde wieder vorsprechen möchten und wir die Operation bis dahin verschöben. Ich muß gestehen, ich selbst … Ich werde mir jetzt erlauben, noch eine Spülung und eine Pinselung vorzunehmen, um den Schmerz vorläufig zu lindern …«
Er nahm die Spülung und die Pinselung vor, und dann ging der Senator, begleitet von dem bedauernden Achselzucken, an das der schneebleiche Herr Brecht seine letzten Kräfte verausgabte.
»Einen Momang … bitte!« schrie Josephus, als sie das Wartezimmer passierten, und er schrie es noch, als Thomas Buddenbrook schon die Treppe hinunterstieg.
Vermittels des Hebels … ja, ja, das war morgen. Was nun? Nach Hause und ruhen, zu schlafen versuchen. Der eigentliche Nervenschmerz schien betäubt; es war nur ein dunkles, schweres Brennen in seinem Munde. Nach Hause also … Und er ging langsam durch die Straßen, mechanisch Grüße erwidernd, die ihm dargebracht wurden, mit sinnenden und ungewissen Augen, als dächte er darüber nach, wie ihm eigentlich zumute sei.
Er gelangte zur Fischergrube und begann das linke Trottoir hinunterzugehen. Nach zwanzig Schritten befiel ihn eine Übelkeit. Ich werde dort drüben in die Schänke treten und einen Kognak trinken müssen, dachte er, und beschritt den Fahrdamm. Als er etwa die Mitte desselben erreicht hatte, geschah ihm folgendes. Es war genau, als würde sein Gehirn ergriffen und von einer unwiderstehlichen Kraft mit wachsender, fürchterlich wachsender Geschwindigkeit in großen, kleineren und immer kleineren konzentrischen Kreisen herumgeschwungen und schließlich mit einer unmäßigen, brutalen und erbarmungslosen Wucht gegen den steinharten Mittelpunkt dieser Kreise geschmettert … Er vollführte eine halbe Drehung und schlug mit ausgestreckten Armen vornüber auf das nasse Pflaster.
Da die Straße stark abfiel, befand sich sein Oberkörper ziemlich viel tiefer als seine Füße. Er war aufs Gesicht gefallen, unter dem sofort eine Blutlache sich auszubreiten begann. Sein Hut rollte ein Stück des Fahrdammes hinunter. Sein Pelz war mit Kot und Schneewasser bespritzt. Seine Hände, in den weißen Glacéhandschuhen, lagen ausgestreckt in einer Pfütze.