Die Ehe, aus welcher der kleine Johann hervorgegangen war, hatte, als Gesprächsgegenstand genommen, in der Stadt niemals an Reiz verloren. So gewiß wie jedem der beiden Gatten etwas Extravagantes und Rätselhaftes eigen war, so gewiß trug diese Ehe selbst den Charakter des Ungewöhnlichen und Fragwürdigen. Hier ein wenig hinters Licht zu kommen und, abgesehen von den dürftigen, äußeren Tatsachen, dem Verhältnis ein wenig auf den Grund zu gehen, schien eine schwierige, aber lohnende Aufgabe … Und in Wohn- und Schlafstuben, in Klubs und Kasinos, ja selbst an der Börse sprachen die Leute über Gerda und Thomas Buddenbrook desto mehr, je weniger sie von ihnen wußten.
Wie hatten diese beiden sich gefunden, und wie standen sie zueinander? Man erinnerte sich der jähen Entschlossenheit, mit der vor achtzehn Jahren der damals dreißigjährige Thomas Buddenbrook zu Werke gegangen war. »Diese oder keine«, das war sein Wort gewesen, und es mußte sich mit Gerda wohl ähnlich verhalten haben, denn sie hatte in Amsterdam bis zu ihrem siebenundzwanzigsten Jahre Körbe ausgeteilt und diesen Bewerber alsbald erhört. Eine Liebesheirat also, dachten die Leute in ihrem Sinne; denn so schwer es ihnen wurde, mußten sie einräumen, daß Gerdas Dreihunderttausend doch wohl nur eine Rolle zweiten Ranges bei der Sache gespielt hatten. Allein von Liebe wiederum, von dem, was man unter Liebe verstand, war zwischen den beiden von Anbeginn höchst wenig zu spüren gewesen. Von Anbeginn vielmehr hatte man nichts als Höflichkeit in ihrem Umgang konstatiert, eine zwischen Gatten ganz außerordentliche, korrekte und respektvolle Höflichkeit, die aber unverständlicherweise nicht aus innerer Fernheit und Fremdheit, sondern aus einer sehr eigenartigen, stummen und tiefen gegenseitigen Vertrautheit und Kenntnis, einer beständigen gegenseitigen Rücksicht und Nachsicht hervorzugehen schien. Daran hatten die Jahre nicht das geringste geändert. Die Änderung, die sie hervorgebracht hatten, bestand nur darin, daß jetzt der Altersunterschied der beiden, so selten geringfügig er den Jahren nach war, anfing, in auffälliger Weise hervorzutreten …
Man sah die beiden an und fand, daß dies ein stark alternder, schon ein bißchen beleibter Mann, mit einer jungen Frau zur Seite, war. Man fand, daß Thomas Buddenbrook verfallen aussah – ja, dies war trotz der nachgerade ein wenig komisch wirkenden Eitelkeit, mit der er sich zurechtstutzte, das einzig richtige Wort für ihn – während Gerda sich in diesen achtzehn Jahren fast gar nicht verändert hatte. Sie erschien gleichsam konserviert in der nervösen Kälte, in der sie lebte und die sie ausströmte. Ihr dunkelrotes Haar hatte genau seine Farbe behalten, ihr schönes, weißes Gesicht genau sein Ebenmaß und die Gestalt ihre schlanke und hohe Vornehmheit. In den Winkeln ihrer etwas zu kleinen und etwas zu nahe beieinander liegenden braunen Augen lagerten immer noch die bläulichen Schatten … Man traute diesen Augen nicht. Sie blickten seltsam, und was etwa in ihnen geschrieben stand, vermochten die Leute nicht zu entziffern. Diese Frau, deren Wesen so kühl, so eingezogen, verschlossen, reserviert und ablehnend war und die nur an ihre Musik ein wenig Lebenswärme zu verausgaben schien, erregte unbestimmte Verdächte. Die Leute holten ihr bißchen verstaubte Menschenkenntnis hervor, um sie gegen Senator Buddenbrooks Gattin anzuwenden. Stille Wasser waren oft tief. Mancher hatte es faustdick hinter den Ohren. Und da sie doch wünschten, sich die ganze Sache ein Stückchen näher zu bringen und überhaupt irgend etwas davon zu wissen und zu verstehen, so führte ihre bescheidene Phantasie sie zu der Annahme, es könne wohl nicht anders sein, als daß die schöne Gerda ihren alternden Mann nun ein wenig betröge.
Sie gaben wohl acht, und es dauerte nicht lange, bis sie einig darüber waren, daß Gerda Buddenbrook in ihrem Verhältnis zu Herrn Leutnant von Throta gelinde gesagt die Grenzen des Sittsamen überschritt.
Renee Maria von Throta, aus den Rheinlanden gebürtig, stand als Sekondeleutnant bei einem der Infanteriebataillone, die in der Stadt garnisonierten. Der rote Kragen nahm sich gut aus zu seinem schwarzen Haar, das seitwärts gescheitelt und rechts in einem hohen, dichten und gelockten Kamm von der weißen Stirn zurückgestrichen war. Aber obwohl er groß und stark von Gestalt erschien, rief seine ganze Erscheinung, seine Bewegungen sowohl wie seine Art zu sprechen und zu schweigen, einen äußerst unmilitärischen Eindruck hervor. Er liebte es, eine Hand zwischen die Knöpfe seines halb offenen Interimsrockes zu schieben oder dazusitzen, indem er die Wange gegen den Handrücken lehnte; seine Verbeugungen entbehrten jeglicher Strammheit, man hörte nicht einmal seine Absätze dabei zusammenschlagen, und er behandelte die Uniform an seinem muskulösen Körper genau so nachlässig und launisch wie einen Zivilanzug. Selbst sein schmales, schräg zu den Mundwinkeln hinablaufendes Jünglings-Schnurrbärtchen, dem nicht Spitze noch Schwung hätte gegeben werden können, trug dazu bei, diesen unmartialischen Gesamteindruck zu verstärken. Das merkwürdigste an ihm aber waren die Augen: große, außerordentlich glänzende und so schwarze Augen, daß sie wie unergründliche, glühende Tiefen erschienen, Augen, welche schwärmerisch, ernst und schimmernd auf Dingen und Gesichtern ruhten …
Ohne Zweifel war er wider Willen oder doch ohne Liebe zur Sache in die Armee eingetreten, denn trotz seiner Körperstärke war er untüchtig im Dienste und unbeliebt bei seinen Kameraden, deren Interessen und Vergnügungen – die Interessen und Vergnügungen junger Offiziere, die vor kurzem von einem siegreichen Feldzuge zurückgekehrt waren – er zu wenig teilte. Er galt für einen unangenehmen und extravaganten Sonderling unter ihnen, der einsame Spaziergänge machte, der weder Pferde noch Jagd, noch Spiel, noch Frauen liebte, und dessen ganzer Sinn der Musik zugewandt war, denn er spielte mehrere Instrumente und war, mit seinen glühenden Augen und seiner unmilitärischen, zugleich saloppen und schauspielerhaften Haltung, in allen Opern und Konzerten zu sehen, während er Klub und Kasino mißachtete.
Wohl oder übel erledigte er die notwendigsten Visiten in den hervorragenden Familien; aber er lehnte beinahe alle Einladungen ab und verkehrte eigentlich nur im Hause Buddenbrook … zuviel, wie die Leute meinten, zuviel, wie auch der Senator selber meinte …
Niemand ahnte, was in Thomas Buddenbrook vorging, niemand durfte es ahnen, und gerade dies: alle Welt über seinen Gram, seinen Haß, seine Ohnmacht in Unwissenheit zu erhalten, war so fürchterlich schwer! Die Leute fingen an, ihn ein wenig lächerlich zu finden, aber vielleicht hätten sie Mitleid verspürt und solche Gefühle unterdrückt, wenn sie im entferntesten vermutet hätten, mit welcher angstvollen Reizbarkeit er vor dem Lächerlichen auf der Hut war, wie er es längst von weitem hatte nahen sehen und es vorausempfunden hatte, bevor noch ihnen irgend etwas davon in den Sinn gekommen war. Auch seine Eitelkeit, diese vielfach bespöttelte »Eitelkeit«, war ja zum guten Teile aus dieser Sorge hervorgegangen. Er war der erste gewesen, der das beständig hervortretende Mißverhältnis zwischen seiner eigenen Erscheinung und Gerdas sonderbarer Unberührtheit, der die Jahre nichts anhatten, mit Argwohn ins Auge gefaßt hatte, und jetzt, seit Herr von Throta in sein Haus gekommen war, mußte er seine Besorgnis mit dem Rest seiner Kräfte bekämpfen und verstecken, mußte es, um nicht durch das Kundwerden dieser Besorgnis schon seinen Namen dem allgemeinen Lächeln preiszugeben.
Gerda Buddenbrook und der junge, eigenartige Offizier hatten einander, wie sich versteht, auf dem Gebiete der Musik gefunden. Herr von Throta spielte Klavier, Geige, Bratsche, Violoncell und Flöte – alles vortrefflich – und oft ward dem Senator der kommende Besuch im voraus angekündigt, dadurch, daß Herr von Throtas Bursche, den Cellokasten auf dem Rücken schleppend, an den grünen Fenstervorsätzen des Privatkontors vorüberging und im Hause verschwand … Dann saß Thomas Buddenbrook an seinem Schreibtisch und wartete, bis er auch ihn selbst, den Freund seiner Frau, in sein Haus eintreten sah, bis über ihm im Salon die Harmonien aufwogten, die unter Singen, Klagen und übermenschlichem Jubeln gleichsam mit krampfhaft ausgestreckten, gefalteten Händen emporrangen und nach allen irren und vagen Ekstasen in Schwäche und Schluchzen hinsanken in Nacht und Schweigen. Mochten sie doch rollen und brausen, weinen und jauchzen, einander aufschäumend umschlingen und sich so übernatürlich gebärden wie sie nur wollten! Das Schlimme, das eigentlich Qualvolle war die Lautlosigkeit, die ihnen folgte, die dann dort oben im Salon so lange, lange herrschte, und die zu tief und unbelebt war, um nicht Grauen zu erregen. Kein Schritt erschütterte die Decke, kein Stuhl ward gerückt; es war eine unlautere, hinterhältige, schweigende, verschweigende Stille … Dann saß Thomas Buddenbrook und ängstigte sich so sehr, daß er manchmal leise ächzte.
Was fürchtete er? Wieder hatten die Leute Herrn von Throta in das Haus eintreten sehen, und mit ihren Augen gleichsam, so, wie es sich ihnen darstellte, sah er dies Bild: sich selbst, den alternden, abgenutzten und übellaunigen Mann unten im Kontor am Fenster sitzen, während droben seine schöne Frau mit ihrem Galan musizierte und nicht nur musizierte … Ja, so erschienen ihnen die Dinge, er wußte es. Und dennoch wußte er auch, daß das Wort »Galan« für Herrn von Throta eigentlich sehr wenig bezeichnend war. Ach, er wäre beinahe glücklich gewesen, wenn er ihn so hätte nennen und auffassen dürfen, ihn als einen windigen, unwissenden und ordinären Jungen hätte verstehen und verachten können, der seine normale Portion von Übermut in ein wenig Kunst ausströmen läßt und damit Frauenherzen gewinnt. Er ließ nichts unversucht, ihn zu einer solchen Figur zu stempeln. Er rief einzig und allein zu diesem Behufe die Instinkte seiner Väter in sich wach: das ablehnende Mißtrauen des seßhaften und sparsamen Kaufmannes gegenüber der abenteuerlustigen, leichtfertigen und geschäftlich unsicheren Kriegerkaste. In Gedanken sowohl wie in Gesprächen nannte er Herrn von Throta beständig mit geringschätziger Betonung »der Leutnant«; und dabei fühlte er allzu gut, daß dieser Titel nach allen am schlechtesten geeignet war, das Wesen dieses jungen Mannes auszudrücken …
Was fürchtete Thomas Buddenbrook? Nichts … Nichts Nennbares. Ach, hätte er sich gegen etwas Handgreifliches, Einfaches und Brutales zur Wehr setzen dürfen! Er neidete den Leuten dort draußen die Schlichtheit des Bildes, das sie sich von der Sache machten; aber während er hier saß und, den Kopf in den Händen, qualvoll horchte, wußte er allzu wohl, daß »Betrug« und »Ehebruch« nicht Laute waren, um die singenden und abgründig stillen Dinge bei Namen zu nennen, die sich dort oben begaben.
Manchmal, wenn er hinaus auf die grauen Giebel und die vorübergehenden Bürger blickte, wenn er seine Augen auf der vor ihm hängenden Gedenktafel, dem Jubiläumsgeschenk, den Porträts seiner Väter ruhen ließ und der Geschichte seines Hauses gedachte, so sagte er sich, daß all dies das Ende von allem sei, und daß nur dies, was jetzt vorgehe, noch gefehlt habe. Ja, es hatte nur gefehlt, daß seine Person zum Gespött werde und sein Name, sein Familienleben in das Geschrei der Leute komme, damit allem die Krone aufgesetzt würde … Aber dieser Gedanke tat ihm fast wohl, weil er ihm einfach, faßlich und gesund, ausdenkbar und aussprechbar erschien im Vergleich mit dem Brüten über diesem schimpflichen Rätsel, diesem mysteriösen Skandal zu seinen Häupten …
Er ertrug es nicht länger, er schob den Sessel zurück, verließ das Kontor und stieg in das Haus hinauf. Wohin sollte er sich wenden? In den Salon, um Herrn von Throta unbefangen und ein wenig von oben herab zu begrüßen, ihn zum Abendessen zu bitten und, wie schon mehrere Male, eine abschlägige Antwort entgegenzunehmen? Denn es war das eigentlich Unerträgliche, daß der Leutnant ihn vollständig mied, fast alle offiziellen Einladungen ablehnte und nur an dem privaten und freien Verkehr mit der Senatorin festzuhalten beliebte …
Warten? Irgendwo, vielleicht im Rauchzimmer, warten, bis er fortginge, und dann vor Gerda treten und sich mit ihr aussprechen, sie zur Rede stellen? – Man stellte Gerda nicht zur Rede, man sprach sich mit ihr nicht aus. Worüber? Das Bündnis mit ihr war auf Verständnis, Rücksicht und Schweigen gegründet. Es war nicht nötig, sich auch vor ihr noch lächerlich zu machen. Den Eifersüchtigen spielen, hieße den Leuten dort draußen recht geben, den Skandal proklamieren, ihn laut werden lassen … Empfand er Eifersucht? Auf wen? Auf was? Ach, weit entfernt! Etwas so Starkes weiß Handlungen hervorzubringen, falsche, törichte vielleicht, aber eingreifende und befreiende. Ach nein, nur ein wenig Angst empfand er, ein wenig quälende und jagende Angst vor dem Ganzen …
Er ging in sein Ankleidekabinett hinauf, um sich die Stirn mit Eau de Cologne zu waschen, und stieg dann wieder zum ersten Stockwerk hinunter, entschlossen, das Schweigen im Salon um jeden Preis zu brechen. Aber als er den schwarzgoldenen Griff der weißen Tür schon erfaßt hielt, setzte mit einem stürmischen Aufbrausen die Musik wieder ein, und er wich zurück.
Er ging über die Gesindetreppe ins Erdgeschoß hinab, über die Diele und den kalten Flur bis zum Garten, kehrte wieder zurück und machte sich auf der Diele mit dem ausgestopften Bären und auf dem Absatz der Haupttreppe mit dem Goldfischbassin zu schaffen, unfähig, irgendwo zur Ruhe zu kommen, horchend und lauernd, voll Scham und Gram, niedergedrückt und umhergetrieben von dieser Furcht vor dem heimlichen und vor dem öffentlichen Skandal …
Einstmals, in solcher Stunde, als er im zweiten Stockwerk an der Galerie lehnte und durch das lichte Treppenhaus hinunterblickte, wo alles schwieg, kam der kleine Johann aus seinem Zimmer, die Stufen des »Altans« herab und über den Korridor, um sich in irgendeiner Angelegenheit zu Ida Jungmann zu begeben. Er wollte, indem er mit dem Buche, das er trug, die Wand entlangstrich, mit gesenkten Augen und einem leisen Gruße an seinem Vater vorübergehen; aber der Senator redete ihn an.
»Nun, Hanno, was treibst du?«
»Ich arbeite, Papa; ich will zu Ida, um ihr vorzuübersetzen …«
»Wie geht es? Was hast du auf?«
Und immer mit gesenkten Wimpern, aber rasch und sichtlich angestrengt, mit einer korrekten, klaren und geistesgegenwärtigen Antwort aufzuwarten, erwiderte Hanno, nachdem er eilig hinuntergeschluckt hatte: »Wir haben eine Nepos-Präparation, eine kaufmännische Rechnung ins reine zu schreiben, französische Grammatik, die Flüsse von Nordamerika … deutsche Aufsatzkorrektur …«
Er schwieg, unglücklich darüber, daß er zuletzt nicht »und« gesagt und die Stimme mit Entschiedenheit gesenkt hatte; denn nun wußte er nicht mehr zu nennen, und die ganze Antwort war wieder abrupt und ungeschlossen hervorgebracht. – »Mehr nicht«, sagte er, so bestimmt er konnte, wenn auch ohne aufzublicken. Aber sein Vater schien nicht darauf zu achten. Er hielt Hannos freie Hand in seinen Händen und spielte damit, zerstreut und augenscheinlich ohne etwas von dem Gesagten aufgefangen zu haben, fingerte unbewußt und langsam an den zarten Gelenken und schwieg.
Und dann, plötzlich, vernahm Hanno über sich etwas, was in gar keinem Zusammenhange mit dem eigentlichen Gespräche stand, eine leise, angstvoll bewegte und beinahe beschwörende Stimme, die er noch nie gehört, die Stimme seines Vaters dennoch, welche sagte: »Nun ist der Leutnant schon zwei Stunden bei Mama … Hanno …«
Und siehe da, bei diesem Klange schlug der kleine Johann seine goldbraunen Augen auf und richtete sie so groß, klar und liebevoll wie noch niemals auf seines Vaters Gesicht, dieses Gesicht mit den geröteten Lidern unter den hellen Brauen und den weißen, ein wenig gedunsenen Wangen, die von den lang ausgezogenen Spitzen des Schnurrbartes starr überragt wurden. Gott weiß, wieviel er begriff. Das eine aber war sicher, und sie fühlten es beide, daß in diesen Sekunden, während ihre Blicke ineinander ruhten, jede Fremdheit und Kälte, jeder Zwang und jedes Mißverständnis zwischen ihnen dahinsank, daß Thomas Buddenbrook, wie hier, so überall, wo es sich nicht um Energie, Tüchtigkeit und helläugige Frische, sondern um Furcht und Leiden handelte, des Vertrauens und der Hingabe seines Sohnes gewiß sein konnte.
Er achtete dessen nicht, er sträubte sich, dessen zu achten. Strenger als jemals zog er Hanno in dieser Zeit zu praktischen Vorübungen für sein künftiges, tätiges Leben heran, examinierte er seine Geisteskräfte, drang er in ihn nach entschlossenen Äußerungen der Lust zu dem Beruf, der seiner harrte, und brach in Zorn aus bei jedem Zeichen des Widerstrebens und der Mattigkeit … Denn es war an dem, daß Thomas Buddenbrook, achtundvierzig Jahre alt, seine Tage mehr und mehr als gezählt betrachtete und mit seinem nahen Tode zu rechnen begann.
Sein körperliches Befinden hatte sich verschlechtert. Appetit- und Schlaflosigkeit, Schwindel und jene Schüttelfröste, zu denen er immer geneigt hatte, zwangen ihn mehrere Male, Doktor Langhals zu Rate zu ziehen. Aber er gelangte nicht dazu, des Arztes Verordnungen zu befolgen. Seine Willenskraft, in Jahren voll geschäftiger und gehetzter Tatenlosigkeit angegriffen, reichte nicht aus dazu. Er hatte begonnen, am Morgen sehr lange zu schlafen, obgleich er jeden Abend den zornigen Entschluß faßte, sich früh zu erheben, um den anbefohlenen Spaziergang vorm Tee zu machen. In Wirklichkeit führte er dies zwei- oder dreimal aus … und so ging es in all und jeder Sache. Die beständige Anspannung des Willens ohne Erfolg und Genugtuung zehrte an seiner Selbstachtung und stimmte ihn verzweifelt. Er war weit entfernt, sich den betäubenden Genuß der kleinen, scharfen, russischen Zigaretten zu versagen, die er, seit seiner Jugend schon, täglich in Massen rauchte. Er sagte dem Doktor Langhals ohne Umschweife in sein eitles Gesicht hinein: »Sehen Sie, Doktor, mir die Zigaretten zu verbieten, ist Ihre Pflicht … eine sehr leichte und sehr angenehme Pflicht, wahrhaftig! Das Verbot innezuhalten, ist meine Sache! dabei dürfen Sie zusehen … Nein, wir wollen zusammen an meiner Gesundheit arbeiten, aber die Rollen sind zu ungerecht verteilt, mir fällt ein zu großer Anteil an dieser Arbeit zu! Lachen Sie nicht … Das ist kein Witz … Man ist so fürchterlich allein … Ich rauche. Darf ich bitten?«
Und er präsentierte ihm sein Tula-Etui …
Alle seine Kräfte nahmen ab; was sich in ihm verstärkte, war allein die Überzeugung, daß dies alles nicht lange währen könne, und daß sein Hintritt nahe bevorstehe. Es kamen ihm seltsame und ahnungsvolle Vorstellungen. Einige Male befiel ihn bei Tische die Empfindung, daß er schon nicht mehr eigentlich mit den Seinen zusammensitze, sondern, in eine gewisse, verschwommene Ferne entrückt, zu ihnen hinüberblicke … Ich werde sterben, sagte er sich, und er rief abermals Hanno zu sich und sprach auf ihn ein: »Ich kann früher dahingehen, als wir denken, mein Sohn. Du mußt dann am Platze sein! Auch ich bin früh berufen worden … Begreife doch, daß deine Indifferenz mich quält! Bist du nun entschlossen?… Ja – ja – das ist keine Antwort, das ist wieder keine Antwort! Ob du mit Mut und Freudigkeit entschlossen bist, frage ich … Glaubst du, daß du Geld genug hast und nichts wirst zu tun brauchen? Du hast nichts, du hast bitterwenig, du wirst gänzlich auf dich selbst gestellt sein! Wenn du leben willst, und sogar gut leben, so wirst du arbeiten müssen, schwer, hart, härter noch als ich …«
Aber es war nicht nur dies; es war nicht mehr allein die Sorge um die Zukunft seines Sohnes und seines Hauses, unter der er litt. Etwas anderes, Neues kam über ihn, bemächtigte sich seiner und trieb seine müden Gedanken vor sich her … Sobald er nämlich sein zeitliches Ende nicht mehr als eine ferne, theoretische und unbeträchtliche Notwendigkeit, sondern als etwas ganz Nahes und Greifbares betrachtete, für das es unmittelbare Vorbereitungen zu treffen galt, begann er zu grübeln, in sich zu forschen, sein Verhältnis zum Tode und den unirdischen Fragen zu prüfen … und bereits bei den ersten derartigen Versuchen ergab sich ihm als Resultat eine heillose Unreife und Unbereitschaft seines Geistes, zu sterben.
Der Buchstabenglaube, das schwärmerische Bibelchristentum, das sein Vater mit einem sehr praktischen Geschäftssinn zu verbinden gewußt, und das später auch seine Mutter übernommen hatte, war ihm immer fremd gewesen. Seit Lebtag vielmehr hatte er den ersten und letzten Dingen die weltmännische Skepsis seines Großvaters entgegengebracht; zu tief aber, zu geistreich und zu metaphysisch bedürftig, um in der behaglichen Oberflächlichkeit des alten Johann Buddenbrook Genüge zu finden, hatte er sich die Fragen der Ewigkeit und Unsterblichkeit historisch beantwortet und sich gesagt, daß er in seinen Vorfahren gelebt habe und in seinen Nachfahren leben werde. Dies hatte nicht allein mit seinem Familiensinn, seinem Patrizierselbstbewußtsein, seiner geschichtlichen Pietät übereingestimmt, es hatte ihn auch in seiner Tätigkeit, seinem Ehrgeiz, seiner ganzen Lebensführung unterstützt und bekräftigt. Nun aber zeigte sich, daß es vor dem nahen und durchdringenden Auge des Todes dahinsank und zunichte ward, unfähig, auch nur eine Stunde der Beruhigung und Bereitschaft hervorzubringen.
Obgleich Thomas Buddenbrook in seinem Leben hie und da mit einer kleinen Neigung zum Katholizismus gespielt hatte, war er doch ganz erfüllt von dem ernsten, tiefen, bis zur Selbstpeinigung strengen und unerbittlichen Verantwortlichkeitsgefühl des echten und leidenschaftlichen Protestanten. Nein, dem Höchsten und Letzten gegenüber gab es keinen Beistand von außen, keine Vermittlung, Absolution, Betäubung und Tröstung! Ganz einsam, selbständig und aus eigener Kraft mußte man in heißer und emsiger Arbeit, ehe es zu spät war, das Rätsel entwirren und sich klare Bereitschaft erringen, oder in Verzweiflung dahinfahren … Und Thomas Buddenbrook wandte sich enttäuscht und hoffnungslos von seinem einzigen Sohne ab, in dem er stark und verjüngt fortzuleben gehofft hatte, und fing an, in Hast und Furcht nach der Wahrheit zu suchen, die es irgendwo für ihn geben mußte …
Es war der Hochsommer des Jahres vierundsiebenzig. Silberweiße, rundliche Wolken zogen am tiefblauen Himmel über die zierliche Symmetrie des Stadtgartens hin, in den Zweigen des Walnußbaumes zwitscherten die Vögel mit fragender Betonung, der Springbrunnen plätscherte inmitten des Kranzes von hohen, lilafarbenen Schwertlilien, der ihn umgab, und der Duft des Flieders vermischte sich leider mit dem Sirupgeruch, den ein warmer Luftzug von der nahen Zuckerbrennerei herübertrug. Zum Erstaunen des Personals verließ der Senator jetzt oftmals in voller Arbeitszeit das Kontor, um sich, die Hände auf dem Rücken, in seinem Garten zu ergehen, den Kies zu harken, den Schlamm vom Springbrunnen zu fischen oder einen Rosenzweig zu stützen … Sein Gesicht, mit den hellen Brauen, von denen eine ein wenig emporgezogen war, schien ernst und aufmerksam bei diesen Beschäftigungen; aber seine Gedanken gingen weit fort im Dunklen, ihre eigenen, mühseligen Pfade.
Manchmal setzte er sich, auf der Höhe der kleinen Terrasse, in den von Weinlaub gänzlich eingehüllten Pavillon und blickte, ohne etwas zu sehen, über den Garten hin auf die rote Rückwand seines Hauses. Die Luft war warm und süß, und es war, als ob die friedlichen Geräusche rings umher ihm besänftigend zusprächen und ihn einzulullen trachteten. Müde vom Ins-Leere-Starren, von Einsamkeit und Schweigen, schloß er dann und wann die Augen, um sich alsbald wieder aufzuraffen und hastig den Frieden von sich zu scheuchen. Ich muß denken, sagte er beinahe laut … Ich muß alles ordnen, ehe es zu spät ist …
Hier aber war es, in diesem Pavillon, in dem kleinen Schaukelstuhl aus gelbem Rohr, wo er eines Tages vier volle Stunden lang mit wachsender Ergriffenheit in einem Buche las, das halb gesucht, halb zufällig in seine Hände geraten war … Nach dem zweiten Frühstück, die Zigarette im Munde, hatte er es im Rauchzimmer, in einem tiefen Winkel des Bücherschrankes, hinter stattlichen Bänden versteckt, gefunden und sich erinnert, daß er es einst vor Jahr und Tag beim Buchhändler zu einem Gelegenheitspreise achtlos erstanden hatte: ein ziemlich umfangreiches, auf dünnem und gelblichem Papier schlecht gedrucktes und schlecht geheftetes Werk, der zweite Teil nur eines berühmten metaphysischen Systems … Er hatte es mit sich in den Garten genommen und wandte nun, in tiefer Versunkenheit, Blatt um Blatt …
Eine ungekannte, große und dankbare Zufriedenheit erfüllte ihn. Er empfand die unvergleichliche Genugtuung, zu sehen, wie ein gewaltig überlegenes Gehirn sich des Lebens, dieses so starken, grausamen und höhnischen Lebens, bemächtigt, um es zu bezwingen und zu verurteilen … die Genugtuung des Leidenden, der vor der Kälte und Härte des Lebens sein Leiden beständig schamvoll und bösen Gewissens versteckt hielt und plötzlich aus der Hand eines Großen und Weisen die grundsätzliche und feierliche Berechtigung erhält, an der Welt zu leiden – dieser besten aller denkbaren Welten, von der mit spielendem Hohne bewiesen ward, daß sie die schlechteste aller denkbaren sei.
Er begriff nicht alles; Prinzipien und Voraussetzungen blieben ihm unklar, und sein Sinn, in solcher Lektüre ungeübt, vermochte gewissen Gedankengängen nicht zu folgen. Aber gerade der Wechsel von Licht und Finsternis, von dumpfer Verständnislosigkeit, vagem Ahnen und plötzlicher Hellsicht hielt ihn in Atem, und die Stunden schwanden, ohne daß er vom Buche aufgeblickt oder auch nur seine Stellung im Stuhle verändert hätte.
Er hatte anfänglich manche Seite ungelesen gelassen und rasch vorwärtsschreitend, unbewußt und eilig nach der Hauptsache, nach dem eigentlich Wichtigen verlangend, sich nur diesen oder jenen Abschnitt zu eigen gemacht, der ihn fesselte. Dann aber stieß er auf ein umfängliches Kapitel, das er vom ersten bis zum letzten Buchstaben durchlas, mit festgeschlossenen Lippen und zusammengezogenen Brauen, ernst, mit einem vollkommenen, beinahe erstorbenen, von keiner Regung des Lebens um ihn her beeinflußbaren Ernst in der Miene. Es trug aber dieses Kapitel den Titel: »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich.« –
Ihm fehlten wenige Zeilen, als um vier Uhr das Folgmädchen durch den Garten kam und ihn zu Tische bat. Er nickte, las die übrigen Sätze, schloß das Buch und blickte um sich … Er fühlte sein ganzes Wesen auf ungeheuerliche Art geweitet und von einer schweren, dunklen Trunkenheit erfüllt; seinen Sinn umnebelt und vollständig berauscht von irgend etwas unsäglich Neuem, Lockendem und Verheißungsvollem, das an erste, hoffende Liebessehnsucht gemahnte. Aber als er mit kalten und unsicheren Händen das Buch in der Schublade des Gartentisches verwahrte, war sein glühender Kopf, in dem ein seltsamer Druck, eine beängstigende Spannung herrschte, als könnte irgend etwas darin zerspringen, nicht eines vollkommenen Gedankens fähig.
Was war dies? fragte er sich, während er ins Haus ging, die Haupttreppe erstieg und sich im Eßzimmer zu den Seinen setzte … Was ist mir geschehen? Was habe ich vernommen? Was ist zu mir gesprochen worden, zu mir, Thomas Buddenbrook, Ratsherr dieser Stadt, Chef der Getreidefirma Johann Buddenbrook …? War dies für mich bestimmt? Kann ich es ertragen? Ich weiß nicht, was es war … ich weiß nur, daß es zu viel, zu viel ist für mein Bürgerhirn …
In diesem Zustande eines schweren, dunklen, trunkenen und gedankenlosen Überwältigtseins verblieb er den ganzen Tag. Dann aber kam der Abend, und unfähig, seinen Kopf länger auf den Schultern zu halten, ging er frühzeitig zu Bette. Er schlief drei Stunden lang, tief, unerreichbar tief, wie noch niemals in seinem Leben. Dann erwachte er, so jäh, so köstlich erschrocken, wie man einsam erwacht, mit einer keimenden Liebe im Herzen.
Er wußte sich allein in dem großen Schlafgemach, denn Gerda schlief jetzt in Ida Jungmanns Zimmer, die kürzlich, um näher beim kleinen Johann zu sein, eines der drei Altan-Zimmer bezogen hatte. Es herrschte dichte Nacht um ihn her, da die Vorhänge der beiden hohen Fenster fest geschlossen waren. In tiefer Stille und sacht lastender Schwüle lag er auf dem Rücken und blickte in das Dunkel empor.
Und siehe da: plötzlich war es, wie wenn die Finsternis vor seinen Augen zerrisse, wie wenn die samtne Wand der Nacht sich klaffend teilte und eine unermeßlich tiefe, eine ewige Fernsicht von Licht enthüllte … Ich werde leben! sagte Thomas Buddenbrook beinahe laut und fühlte, wie seine Brust dabei vor innerlichem Schluchzen erzitterte. Dies ist es, daß ich leben werde! Es wird leben … und daß dieses Es nicht ich bin, das ist nur eine Täuschung, das war nur ein Irrtum, den der Tod berichtigen wird. So ist es, so ist es!… Warum? – Und bei dieser Frage schlug die Nacht wieder vor seinen Augen zusammen. Er sah, er wußte und verstand wieder nicht das geringste mehr und ließ sich tiefer in die Kissen zurücksinken, gänzlich geblendet und ermattet von dem bißchen Wahrheit, das er soeben hatte erschauen dürfen.
Und er lag stille und wartete inbrünstig, fühlte sich versucht, zu beten, daß es noch einmal kommen und ihn erhellen möge. Und es kam. Mit gefalteten Händen, ohne eine Regung zu wagen, lag er und durfte schauen …
Was war der Tod? Die Antwort darauf erschien ihm nicht in armen und wichtigtuerischen Worten: er fühlte sie, er besaß sie zuinnerst. Der Tod war ein Glück, so tief, daß es nur in begnadeten Augenblicken, wie dieser, ganz zu ermessen war. Er war die Rückkunft von einem unsäglich peinlichen Irrgang, die Korrektur eines schweren Fehlers, die Befreiung von den widrigsten Banden und Schranken – einen beklagenswerten Unglücksfall machte er wieder gut.
Ende und Auflösung? Dreimal erbarmungswürdig jeder, der diese nichtigen Begriffe als Schrecknisse empfand! Was würde enden und was sich auflösen? Dieser sein Leib … Diese seine Persönlichkeit und Individualität, dieses schwerfällige, störrische, fehlerhafte und hassenswerte Hindernis, etwas anderes und Besseres zu sein!
War nicht jeder Mensch ein Mißgriff und Fehltritt? Geriet er nicht in eine peinvolle Haft, sowie er geboren ward? Gefängnis! Gefängnis! Schranken und Bande überall! Durch die Gitterfenster seiner Individualität starrt der Mensch hoffnungslos auf die Ringmauern der äußeren Umstände, bis der Tod kommt und ihn zu Heimkehr und Freiheit ruft …
Individualität!… Ach, was man ist, kann und hat, scheint arm, grau, unzulänglich und langweilig; was man aber nicht ist, nicht kann und nicht hat, das eben ist es, worauf man mit jenem sehnsüchtigen Neide blickt, der zur Liebe wird, weil er sich fürchtet, zum Haß zu werden.
Ich trage den Keim, den Ansatz, die Möglichkeit zu allen Befähigungen und Betätigungen der Welt in mir … Wo könnte ich sein, wenn ich nicht hier wäre! Wer, was, wie könnte ich sein, wenn ich nicht ich wäre, wenn diese meine persönliche Erscheinung mich nicht abschlösse und mein Bewußtsein von dem aller derer trennte, die nicht ich sind! Organismus! Blinde, unbedachte, bedauerliche Eruption des drängenden Willens! Besser, wahrhaftig, dieser Wille webt frei in raum- und zeitloser Nacht, als daß er in einem Kerker schmachtet, der von dem zitternden und wankenden Flämmchen des Intellektes notdürftig erhellt wird!
In meinem Sohne habe ich fortzuleben gehofft? In einer noch ängstlicheren, schwächeren, schwankenderen Persönlichkeit? Kindische, irregeführte Torheit! Was soll mir ein Sohn? Ich brauche keinen Sohn!… Wo ich sein werde, wenn ich tot bin? Aber es ist so leuchtend klar, so überwältigend einfach! In allen denen werde ich sein, die je und je Ich gesagt haben, sagen und sagen werden: besonders aber in denen, die es voller, kräftiger, fröhlicher sagen …
Irgendwo in der Welt wächst ein Knabe auf, gut ausgerüstet und wohlgelungen, begabt, seine Fähigkeiten zu entwickeln, gerade gewachsen und ungetrübt, rein, grausam und munter, einer von diesen Menschen, deren Anblick das Glück der Glücklichen erhöht und die Unglücklichen zur Verzweiflung treibt: – Das ist mein Sohn. Das bin ich, bald … bald … sobald der Tod mich von dem armseligen Wahne befreit, ich sei nicht sowohl er wie ich …
Habe ich je das Leben gehaßt, dies reine, grausame und starke Leben? Torheit und Mißverständnis! Nur mich habe ich gehaßt, dafür, daß ich es nicht ertragen konnte. Aber ich liebe euch … ich liebe euch alle, ihr Glücklichen, und bald werde ich aufhören, durch eine enge Haft von euch ausgeschlossen zu sein; bald wird das in mir, was euch liebt, wird meine Liebe zu euch frei werden und bei und in euch sein … bei und in euch allen! – –
Er weinte; preßte das Gesicht in die Kissen und weinte, durchbebt und wie im Rausche emporgehoben von einem Glück, dem keins in der Welt an schmerzlicher Süßigkeit zu vergleichen. Dies war es, dies alles, was ihn seit gestern nachmittag trunken und dunkel erfüllt, was sich inmitten der Nacht in seinem Herzen geregt und ihn geweckt hatte wie eine keimende Liebe. Und während er es nun begreifen und erkennen durfte – nicht in Worten und aufeinanderfolgenden Gedanken, sondern in plötzlichen, beseligenden Erhellungen seines Inneren –, war er schon frei, war er ganz eigentlich schon erlöst und aller natürlichen wie künstlichen Schranken und Bande entledigt. Die Mauern seiner Vaterstadt, in denen er sich mit Willen und Bewußtsein eingeschlossen, taten sich auf und erschlossen seinem Blicke die Welt, die ganze Welt, von der er in jungen Jahren dies und jenes Stückchen gesehen, und die der Tod ihm ganz und gar zu schenken versprach. Die trügerischen Erkenntnisformen des Raumes, der Zeit und also der Geschichte, die Sorge um ein rühmliches, historisches Fortbestehen in der Person von Nachkommen, die Furcht vor irgendeiner endlichen historischen Auflösung und Zersetzung, – dies alles gab seinen Geist frei und hinderte ihn nicht mehr, die stete Ewigkeit zu begreifen. Nichts begann und nichts hörte auf. Es gab nur eine unendliche Gegenwart, und diejenige Kraft in ihm, die mit einer so schmerzlich süßen, drängenden und sehnsüchtigen Liebe das Leben liebte, und von der seine Person nur ein verfehlter Ausdruck war – sie würde die Zugänge zu dieser Gegenwart immer zu finden wissen.
Ich werde leben! flüsterte er in das Kissen, weinte und … wußte im nächsten Augenblick nicht mehr, worüber. Sein Gehirn stand still, sein Wissen erlosch, und in ihm gab es plötzlich wieder nichts mehr als verstummende Finsternis. Aber es wird wiederkehren! versicherte er sich. Habe ich es nicht besessen?… Und während er fühlte, wie Betäubung und Schlaf ihn unwiderstehlich überschatteten, schwor er sich einen teuren Eid, dies ungeheure Glück niemals fahren zu lassen, sondern seine Kräfte zu sammeln und zu lernen, zu lesen und zu studieren, bis er sich fest und unveräußerlich die ganze Weltanschauung zu eigen gemacht haben würde, aus der dies alles hervorgegangen war.
Allein das konnte nicht sein, und schon am nächsten Morgen, als er mit einem ganz kleinen Gefühl von Geniertheit über die geistigen Extravaganzen von gestern erwachte, ahnte er etwas von der Unausführbarkeit dieser schönen Vorsätze.
Er stand spät auf und hatte sich sogleich an den Debatten einer Bürgerschaftssitzung zu beteiligen. Das öffentliche, geschäftliche, bürgerliche Leben in den giebeligen und winkeligen Straßen dieser mittelgroßen Handelsstadt nahm seinen Geist und seine Kräfte wieder in Besitz. Immer noch mit dem Vorsatz beschäftigt, die wunderbare Lektüre wieder aufzunehmen, fing er doch an, sich zu fragen, ob die Erlebnisse jener Nacht in Wahrheit und auf die Dauer etwas für ihn seien und ob sie, träte der Tod ihn an, praktisch standhalten würden. Seine bürgerlichen Instinkte regten sich dagegen. Auch seine Eitelkeit regte sich: die Furcht vor einer wunderlichen und lächerlichen Rolle. Standen ihm diese Dinge zu Gesicht? Ziemten sie ihm, ihm, Senator Thomas Buddenbrook, Chef der Firma Johann Buddenbrook?…
Er gelangte niemals wieder dazu, einen Blick in das seltsame Buch zu werfen, das so viele Schätze barg, geschweige denn sich die übrigen Bände des großen Werkes zu verschaffen. Die nervöse Pedanterie, die sich mit den Jahren seiner bemächtigt, verzehrte seine Tage. Gehetzt von fünfhundert nichtswürdigen und alltäglichen Bagatellen, die in Ordnung zu halten und zu erledigen sein Kopf sich plagte, war er zu willensschwach, um eine vernünftige und ergiebige Einteilung seiner Zeit zu erreichen. Und zwei Wochen ungefähr nach jenem denkwürdigen Nachmittage war er so weit, daß er alles aufgab und dem Dienstmädchen befahl, ein Buch, das unordentlicherweise in der Schublade des Gartentisches umherliege, sofort hinaufzutragen und in den Bücherschrank zu stellen.
So aber geschah es, daß Thomas Buddenbrook, der die Hände verlangend nach hohen und letzten Wahrheiten ausgestreckt hatte, matt zurücksank zu den Begriffen und Bildern, in deren gläubigem Gebrauch man seine Kindheit geübt hatte. Er ging umher und erinnerte sich des einigen und persönlichen Gottes, des Vaters der Menschenkinder, der einen persönlichen Teil seines Selbst auf die Erde entsandt hatte, damit er für uns leide und blute, der am Jüngsten Tage Gericht halten würde, und zu dessen Füßen die Gerechten im Laufe der dann ihren Anfang nehmenden Ewigkeit für die Kümmernisse dieses Jammertales entschädigt werden würden … Dieser ganzen, ein wenig unklaren und ein wenig absurden Geschichte, die aber kein Verständnis, sondern nur gehorsamen Glauben beanspruchte, und die in feststehenden und kindlichen Worten zur Hand sein würde, wenn die letzten Ängste kamen … Wirklich?
Ach, auch hierin gelangte er nicht zum Frieden. Dieser Mann mit seiner nagenden Sorge um die Ehre seines Hauses, um seine Frau, seinen Sohn, seinen Namen, seine Familie, dieser abgenutzte Mann, der seinen Körper mit Mühe und Kunst elegant, korrekt und aufrecht erhielt, er plagte sich mehrere Tage mit der Frage, wie es nun eigentlich bestellt sei: ob nun eigentlich die Seele unmittelbar nach dem Tode in den Himmel gelange, oder ob die Seligkeit erst mit der Auferstehung des Fleisches beginne … Und wo blieb die Seele bis dahin? Hatte ihn jemals jemand in der Schule oder der Kirche darüber belehrt? Wie war es verantwortbar, den Menschen in einer solchen Unwissenheit zu lassen? – Und er war darauf und daran, Pastor Pringsheim zu besuchen und ihn um Rat und Trost anzugehen, bis er es im letzten Augenblick aus Furcht vor der Lächerlichkeit unterließ.
Endlich gab er alles auf und stellte alles Gott anheim. Da er aber mit der Ordnung seiner ewigen Angelegenheiten zu einem so unbefriedigenden Schluß gekommen war, so beschloß er, zum wenigsten einmal seine irdischen gewissenhaft zu bestellen, womit er einen lange gehegten Vorsatz zur Ausführung bringen würde.
Eines Tages vernahm der kleine Johann nach dem Mittagessen, im Wohnzimmer, wo die Eltern ihren Kaffee tranken, wie sein Vater der Mama die Mitteilung machte, er erwarte heute den Rechtsanwalt Doktor Soundso, um mit ihm sein Testament zu machen, dessen Fixierung er nicht beständig ins Ungewisse hinausschieben dürfe. Später übte Hanno im Salon eine Stunde lang auf dem Flügel. Als er aber dann über den Korridor gehen wollte, traf er mit seinem Vater und einem Herrn in langem, schwarzem Überrock zusammen, welche die Haupttreppe heraufkamen.
»Hanno!« sagte der Senator kurz. Und der kleine Johann blieb stehen, schluckte hinunter und antwortete leise und eilig: »Ja, Papa …«
»Ich habe mit diesem Herrn Wichtiges zu arbeiten«, fuhr sein Vater fort. »Du stellst dich, wenn ich bitten darf, vor diese Tür« – er wies auf den Eingang zum Rauchzimmer – »und gibst acht, daß niemand, hörst du? absolut niemand uns stört.«
»Ja, Papa«, sagte der kleine Johann und stellte sich vor die Tür, die sich hinter den beiden Herren schloß.
Er stand dort, hielt mit einer Hand den Schifferknoten auf seiner Brust erfaßt, scheuerte seine Zunge an einem Zahne, dem er mißtraute, und horchte auf die ernsten und gedämpften Stimmen, die aus dem Inneren des Zimmers zu ihm drangen. Sein Kopf mit dem lockig in die Schläfen fallenden hellbraunen Haar war zur Seite geneigt, und unter zusammengezogenen Brauen blickten seine goldbraunen, von bläulichen Schatten umlagerten Augen blinzelnd, mit einem abgestoßenen und grüblerischen Ausdruck zur Seite, einem Ausdruck, ganz ähnlich demjenigen, mit dem er an der Bahre seiner Großmutter den Blumengeruch und jenen anderen, fremden und doch so seltsam vertrauten Duft eingeatmet hatte.
Ida Jungmann kam und sagte: »Hannochen, mein Jungchen, wo bleibst du, was wirst du hier herumzustehen haben!«
Der bucklige Lehrling kam aus dem Kontor, eine Depesche in der Hand und fragte nach dem Senator.
Und jedesmal streckte der kleine Johann seinen Arm in dem blauen mit einem Anker bestickten Matrosenärmel waagerecht vor der Tür aus, schüttelte den Kopf und sagte nach einem Augenblicke des Schweigens leise und fest: »Niemand darf hinein. – Papa macht sein Testament.«