Sievert Tiburtius war ein kleiner schmaler Mann mit großem Kopfe und trug einen dünnen, aber langen blonden Backenbart, der geteilt war und dessen Enden er manchmal, der Bequemlichkeit halber, nach beiden Seiten hin über die Schultern legte. Seinen runden Schädel bedeckte eine Unzahl ganz kleiner wolliger Ringellöckchen. Seine Ohrmuscheln waren groß, äußerst abstehend, an den Rändern weit nach innen zusammengerollt und oben so spitz, wie die eines Fuchses. Seine Nase saß wie ein kleiner platter Knopf in seinem Gesicht, seine Wangenknochen standen hervor, und seine grauen Augen, die gemeinhin eng zusammengekniffen ein wenig blöde umherblinzelten, konnten in gewissen Momenten sich in ungeahnter Weise erweitern, größer und größer werden, hervorquellen, beinahe herausspringen …
Dies war der Pastor Tiburtius, welcher aus Riga stammte, einige Jahre in Mitteldeutschland amtiert hatte und nun, auf der Reise nach seiner Heimat, wo eine Predigersstelle ihm zugefallen war, die Stadt berührte. Versehen mit der Empfehlung eines Amtsbruders, der ebenfalls einst in der Mengstraße Mockturtlesuppe und Schinken mit Schalottensauce gegessen hatte, machte er der Konsulin seine Aufwartung, ward für die Dauer seines Aufenthaltes, der einige wenige Tage in Anspruch nehmen sollte, zu Gaste geladen und bewohnte das geräumige Fremdenzimmer im ersten Stockwerk am Korridor.
Aber er verweilte länger, als er erwartet hatte. Es vergingen acht Tage, und noch immer hatte er diese oder jene Sehenswürdigkeit, den Totentanz und das Aposteluhrwerk in der Marienkirche, das Rathaus, die »Schiffergesellschaft« oder die Sonne mit den beweglichen Augen im Dom nicht besucht. Es vergingen zehn Tage, und er sprach wiederholt von seiner Abreise; infolge des ersten Wörtchens jedoch, das ihn zum Bleiben aufforderte, verzog er aufs neue.
Er war ein besserer Mensch als die Herren Jonathan und Tränen-Trieschke. Er bekümmerte sich durchaus nicht um Frau Antoniens gebrannte Stirnlöckchen und schrieb ihr keinerlei Briefe. Desto aufmerksamer aber beschäftigte er sich mit Klara, ihrer jüngeren und ernsthafteren Schwester. In ihrer Gegenwart, wenn sie sprach, ging oder kam, konnte es geschehen, daß seine Augen sich in ungeahnter Weise erweiterten, größer und größer wurden, hervorquollen, fast heraussprangen … und beinahe den ganzen Tag hielt er sich bei ihr auf, indem er geistliche und weltliche Gespräche mit ihr pflog oder ihr vorlas … mit seiner hohen, sich überschlagenden Stimme und in der drollig hüpfenden Aussprache seiner baltischen Heimat.
Gleich am ersten Tage hatte er gesagt: »Erbarmen Sie sich, Frau Konsulin! Welch einen Schatz und Gottessegen besitzen Sie an Ihrer Tochter Klara. Das ist wohl ein herrliches Kind!«
»Sie haben recht«, erwiderte die Konsulin. Aber er wiederholte es so oft, daß sie ihre hellen blauen Augen in diskreter Prüfung zu ihm hinschweifen ließ und ihn veranlaßte, ein wenig eingehender von seiner Herkunft, seinen Verhältnissen, seinen Aussichten zu erzählen. Es ergab sich, daß er aus einer Kaufmannsfamilie stammte, daß seine Mutter bei Gott sei, daß er Geschwister nicht besitze und daß sein alter Vater zu Riga als Privatier mit einem auskömmlichen Vermögen lebe, welches einstmals ihm selbst, dem Pastor Tiburtius, gehören werde; übrigens sichere sein Amt ihm ein hinreichendes Einkommen.
Was Klara Buddenbrook betraf, so stand sie nun im neunzehnten Jahre und war, mit ihrem dunklen, glattgescheitelten Haar, ihren strenge und dennoch träumerisch blickenden braunen Augen, ihrer leicht gebogenen Nase, ihrem ein wenig zu fest geschlossenen Munde und ihrer hohen, schlanken Gestalt, zu einer jungen Dame von herber und eigentümlicher Schönheit erwachsen. Im Hause hielt sie am festesten mit ihrer armen und ebenfalls frommen Cousine Klothilde zusammen, deren Vater kürzlich gestorben war und die mit dem Gedanken umging, sich demnächst einmal zu »etablieren«, das heißt, mit einigen Groschen und Möbeln, die sie ererbt, sich irgendwo in Pension zu begeben … Von Thildas gedehnter, geduldiger und hungriger Demut freilich kannte Klara nichts. Im Gegenteil eignete ihr im Verkehr mit den Dienstboten, ja, auch mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter ein etwas herrischer Ton, und ihre Altstimme schon, die sich nur mit Bestimmtheit zu senken, nie aber fragend zu heben verstand, trug einen befehlshaberischen Charakter und konnte oft eine kurze, harte, unduldsame und hochfahrende Klangfarbe annehmen: an Tagen nämlich, wo Klara an Kopfschmerzen litt.
Sie hatte, bevor der Tod des Konsuls die Familie in Trauer hüllte, mit unnahbarer Würde die Gesellschaften im Elternhause und den Häusern von gleicher Rangstufe mitgemacht … Die Konsulin betrachtete sie, und sie konnte sich nicht verhehlen, daß es trotz der stattlichen Mitgift und Klaras häuslicher Tüchtigkeit schwer halten werde, dies Kind zu verehelichen. Keinen der skeptischen, rotspontrinkenden und jovialen Kaufherren ihrer Umgebung, wohl aber einen Geistlichen konnte sie sich an der Seite des ernsten und gottesfürchtigen Mädchens vorstellen, und da dieser Gedanke die Konsulin freudig bewegte, so fanden des Pastors Tiburtius zarte Einleitungen von ihrer Seite ein maßvolles und freundliches Entgegenkommen.
Und wahrhaftig entwickelte sich die Angelegenheit mit großer Präzision. An einem warmen und wolkenlosen Julinachmittag machte die Familie einen Spaziergang. Die Konsulin, Antonie, Christian, Klara, Thilda, Erika Grünlich mit Mamsell Jungmann und in ihrer Mitte Pastor Tiburtius zogen weit vors Burgtor hinaus, um bei einem ländlichen Wirte im Freien an Holztischen Erdbeeren, Sattenmilch oder Rote Grütze zu essen, und nach der Vespermahlzeit erging man sich in dem großen Nutzgarten, der bis zum Flusse sich hinzog, im Schatten von allerlei Obstbäumen zwischen Johannis- und Stachelbeerbüschen, Spargel- und Kartoffelfeldern.
Sievert Tiburtius und Klara Buddenbrook blieben ein wenig zurück. Er, sehr viel kleiner als sie, den geteilten Backenbart über beiden Schultern, hatte den geschweiften schwarzen Strohhut von seinem großen Kopfe genommen und führte, indem er sich hie und da mit dem Tuche die Stirn trocknete, mit großen Augen ein langes und sanftes Gespräch mit ihr, in dessen Verlaufe sie beide einmal stehenblieben und Klara mit ernster und ruhiger Stimme ein Ja sprach.