Die verzauberte Prinzessin
Es war einmal ein armer Handwerker, der hatte zwei Söhne. Der eine war gut und hieß Hans, der andere war böse und hieß Helmerich. Wie es aber in der Welt so geht, hatte der Vater den bösen mehr lieb als den guten.
Nun begab es sich, dass das Jahr teurer als gewöhnlich war und dem Meister den Beutel leer machte. "Ei", dachte er, "man muss zu leben wissen, sind die Kunden doch so oft zu dir gekommen. Nun ist es an dir, höflich zu sein und dich zu ihnen zu bemühen." Gesagt, getan. Früh morgens zog er aus und klopfte an manch stattliche Tür. Aber wie es sich oft auch trifft, dass die stattlichsten Herren nicht die besten Zahler sind, hatte einfach niemand Lust. So kam der Handwerker am Abend müde und matt in seine Heimat.
Trübselig setzte er sich ganz allein vor die Türe der Schenke, denn er hatte weder das Herz, mit den Zechgesellen zu plaudern, noch freute er sich auf das lange Gesicht seines Weibes. Aber wie er da saß, in Gedanken versunken, hörte er ein Gespräch, das drinnen in der Schenke geführt ward.
Ein Fremder aus der Hauptstadt des Landes erzählte, dass die schöne Königstochter von einem bösen Zauberer gefangen gesetzt sei. Und sie müsse ihr Leben lang im Kerker bleiben, wenn sich nicht jemand fände, der die drei Prüfungen des Zauberers bestehe. Fände sich aber einer, so wäre die Prinzessin sein und ihr ganzes herrliches Schloss mit all seinen Schätzen noch dazu.
Das hörte der Meister zuerst mit halbem Ohr, dann mit dem ganzen und zuletzt mit allen beiden, denn er dachte: "Mein Sohn Helmerich ist ein aufgeweckter Kopf, der wohl seine Schäfchen ins Trockene bringen möchte. Er wird die Prüfungen schon bestehen und ist dann der Gemahl der schönen Prinzessin und der Herr über Land und Leute. So hat es ja der König, ihr Vater, laut verkündet."
Geschwind kehrte der Meister nach Hause zurück, vergaß seine Schulden und die Kunden, und erzählte eilig seiner Frau das Hinterbrachte. Schon am anderen Morgen sprach er auch mit Helmerich, worauf dieser flink das einzige Ross im Stalle für die Reise sattelte. Als Helmerich dann Abschied nahm, versprach er seinen Eltern, er wolle sie samt dem dummen Bruder in einem sechsspännigen Wagen holen lassen. Denn er glaubte schon, er wäre der neue König.
Übermütig wie er dahinzog, ließ er seinen Mutwillen an allem aus, was ihm in Quere kam. Die Vögel, die auf den Zweigen saßen und mit ihrem Gesang den Herrgott lobten, scheuchte er mit der Gerte von den Ästen. Kein Getier kam ihm in den Weg, daran er nicht seinen Schabernack ausgelassen hätte.
Zuerst begegnete er einem Ameisenhaufen. Den ließ er von seinem Ross zertreten. Die Ameisen krochen darauf erzürnt am Ross und an ihn selbst hoch und zwickten Pferd und Reiter. Da erdrückte und erschlug Helmerich sie alle. Weiter kam er an einen klaren Teich, in dem zwölf Enten schwammen. Helmerich lockte sie ans Ufer und tötete deren elf. Nur die zwölfte war ihm entronnen. Endlich kam er auch an einen schönen Bienenstock. Da machte er mit den Bienen eben das, was er schon bei den Ameisen getan hatte. Und so war es ihm ständig eine Freude, unschuldige Kreaturen aus bloßer Tücke zu plagen und zu zerstören, statt sie sich zu Nutze zu machen.
Als Helmerich nun bei sinkender Sonne das prächtige Schloss mit der verzauberten Prinzessin erreichte, klopfte er gewaltig an die geschlossene Pforte. Alles war still, sodass der Reiter immer heftiger pochte. Endlich tat sich ein Schiebefenster auf, und ein altes Mütterlein mit spinnewebfarbigem Gesichte sah hervor. Sie fragte verdrießlich, was er denn begehre. "Die Prinzessin will ich erlösen", rief Helmerich, "geschwind, öffne mir das Tor!" "Eile mit Weile, mein Sohn", sprach die Alte, "morgen ist auch noch ein Tag. Um neun Uhr werde ich dich erwarten." Dann schob sie das Fenster wieder zu.
Als Helmerich am anderen Morgen um neun Uhr wieder erschien, stand das Mütterchen schon auf einer schöner Wiese und streute dort Leinsamen mit einem Fässchen aus. "Lies die Körner zusammen", sprach die Alte zum Reiter. "In einer Stunde komme ich wieder, da muss die Arbeit wohl getan sein." Helmerich aber dachte, das sei ein alberner Spaß. Was sollte es sich lohnen, sich darum zu bücken.? Also ging er derweil spazieren. So kam die Alte wieder, und das Fässchen ward immer noch leer. "Das ist nicht gut", sagte sie mürrisch.
Darauf nahm sie zwölf goldene Schlüsselchen aus der Tasche und warf sie einzeln in den tiefen, dunklen Schlossteich. "Hole die Schlüssel herauf", sprach sie. "In einer Stunde komme ich wieder, da muss die Arbeit getan sein." Helmerich lachte und tat wie vorher. Als die Alte wiederkam und auch diese Aufgabe nicht gelöst war, da rief siel: "Nicht gut! nicht gut!"
Jetzt nahm sie Helmerich bei der Hand und führte ihn die Treppe hinauf in den großen Saal des Schlosses. Da saßen drei frauenhafte Gestalten, alle in dichte Schleier verhüllt. "Wähle, mein Sohn", sprach die Alte, "aber sieh dich vor, dass du es recht tust. In einer Stunde komme ich wieder."
Helmerich aber war nicht klüger geworden. Übermütig rief er aufs Geratewohl: "Die zur Rechten wähle ich." Da warfen alle drei den Schleier zurück. In der Mitte saß die holdselige Prinzssin, rechts und links zwei scheußliche Drachen. Der zur Rechten packte den Helmerich in seine Krallen und warf ihn durch das Fenster in den tiefen Abgrund.
Schon ein ganzes Jahr war vergangen, und noch immer war kein sechsspänniger Wagen bei den Eltern vorgefahren, wie Helmerich es damals versprochen hatte. "Ach", sprach der Vater, "wäre nur der ungeschickte Hans ausgezogen, statt unsres besten Buben. Das Unglück wäre doch geringer."
"Vater", rief Hans, "lass auch mich ziehen. Ich will es nun probieren." Aber der Vater wollte nicht, denn wie soll der Ungeschickte das zu Ende führen, was dem Klugen misslingt? Da machte sich Hans heimlich auf und wanderte wohl drei Tage lang denselben Weg, den der Bruder am Stück geritten war. Aber Hans fürchtete sich nicht und schlief des Nachts auf weichem Moos, behütet durch ein Dach aus grünen Zweigen. Und die Vögel des Waldes scheuten sich nicht, sondern sangen ihn in den Schlaf mit ihren besten Weisen.
Als er nun zu den Ameisen kam, die mit ihrem neuen Bau beschäftigt waren, störte er sie nicht. Vielmehr wollte er ihnen helfen. So kam es, dass einige Tierchen an ihm hochkrochen und ihn zwickten. Da streifte er sie vorsichtig ab, ohne sie zu töten. Auch die Enten lockte er ans Ufer, aber um Brosamen zu füttern. Und den Bienen tat er frische Blumen hin, die er am Wege gepflückt hatte.
So kam er fröhlich zum Königsschloss und pochte bescheiden an die Pforte. Gleich tat sich das Fensterchen auf, und die Alte fragte nach seinem Verlangen. "Wenn ich nicht zu gering bin, möchte ich es wagen, die schöne Prinzessin zu erlösen", sagte er. "Versuch es nur, mein Sohn", antwortete die Alte. "Aber wenn du die drei Prüfungen nicht bestehst, kostet es dein Leben." "Wohlan, Mütterlein", sprach Hans, "sage, was ich tun soll."
Jetzt gab die Alte ihm die Prüfung mit dem Leinsamen. Hans war nicht faul und bückte sich gar fleißig. Doch schon schlug es drei Viertel, und das Fässchen war noch nicht einmal zur Hälfte voll. Das Herz wollte ihm schon schier verzagen, da kamen lauter Ameisen gekrochen. Und es dauerte nicht lange, da ward kein Körnlein mehr auf der Wiese gesehen. Als die Alte das sah, sagte sie zufrieden: "Das ist gut!"
Dann warf sie wieder die zwölf Schlüssel in den Graben. Die sollte Hans herausholen, aber es wollte nicht gelingen. So tief er auch tauchte, er kam nicht an den Grund. Verzweifelt setzte sich Hans ans Ufer. Da kamen zwölf Entchen angeschwommen, jede mit einem goldenen Schlüsselchen im Schnabel. Diese legten sie vor Hans ins feuchte Gras. So war denn auch diese Prüfung gut vollbracht, als die Alte wiederkam.
Nun wurde Hans in den großen Saal geführt, wo die dritte Aufgabe auf ihn wartete. Verzagt sah er auf die drei gleichen Schleiergestalten Wer sollte ihm hier nur helfen? Da kam ein Bienenschwarm durchs offene Fenster geflogen, und die Bienen summten um den Mund der drei Verhüllten. Bei der linken und rechten flogen sie schnell davon, denn die Drachen rochen nach Pech und Schwefel. Die Gestalt in der Mitte umkreisten die Bienen aber immerzu und surrten und schwirrten leise. Denn es duftete nach feinem Honig, den die Königstochter oft und gerne verzehrte.
Als die Alte nach einer Stunde wiederkam, sprach Hans mit Zuversicht: "Ich wähle die Mitte." Da fuhren die bösen Drachen wild fauchend zum Fenster hinaus. Die schöne Königstochter aber warf ihren Schleier ab und freute sich, brachte die Erlösung ihr auch noch einen schönen Bräutigam. Und Hans sandte dem Vater der Prinzessin den schnellsten Boten, seinen Eltern aber einen goldenen Wagen, mit sechs Pferden bespannt. So lebten sie alle herrlich und in Freuden.