Idylle am Berg in wilder Heimatfilmromantik kennt man aus dem Kino. Das echte Leben zeichnet mitunter ein anderes Bild der Abgeschiedenheit, Einsamkeit, Not und Krankheit. Nicht selten aber wird der Berg dann doch eingeholt von Errungenschaften der modernen Zeit aus der Stadt. Autorin: Julia Devlin
Die Zeitreise ist ein beliebtes Motiv. Wer träumte nicht davon, einmal eine andere Epoche zu besuchen, eine nostalgisch verklärte Vergangenheit oder eine hochtechnisierte Zukunft. 1972 brachen zwei italienische Journalisten, Aldo Gorfer und Flavio Faganello, zu so einer Zeitreise auf. Sie mussten gar nicht weit gehen, nur ein bis zwei Kilometer, die allerdings aufwärts, und zu Fuß. Gorfer und Faganello brachen auf, um die hochgelegenen Bergbauernhöfe Südtirols zu besuchen.
Da ist noch Luft nach oben
Was sie dort fanden, war eine archaische Parallelgesellschaft. Existenzformen, die mehr dem Mittelalter zugehörig schienen als dem Industriezeitalter, wo der Mensch in Einsamkeit den Elementen und der Natur ausgeliefert war, sich kümmerlich durch seiner eigenen Hände Arbeit ernährte. Tatsächlich stammten die Bergbauernhöfe auch aus dem Mittelalter, konnten einen stolzen Stammbaum vorweisen. Doch was nutzte den Bergbauern das in einer Zeit rasanten Wandels, wenn ihre Arbeit und ihre Produkte nichts mehr wert waren?
Tradition hätten wir schon…
Mit großer Empathie hörten die beiden Journalisten den Menschen zu. Sie erfuhren erschütternde Geschichten über den epischen Überlebenskampf am Berg. Sie hörten von Kindern, die auf dem Schulweg von Lawinen getötet worden waren. Von Bäuerinnen, die bei der Geburt starben, weil Hilfe nicht rechtzeitig eintraf. Von Verstorbenen, die wochenlang im Haus behalten wurden, weil man den Leichnam nicht ins Tal zum Friedhof bringen konnte.
Den enormen wirtschaftlichen Aufschwung der Sechziger Jahre konnten die Bergbauern beobachten, denn sie sahen ja des Nachts die Lichter der Autokolonnen, sahen die Ortschaften wachsen und hörten - meist Sonntags beim Kirchgang - die Erzählungen der Talbewohner von neuen Errungenschaften, von Fernsehern, Telefonen und Kanalisation.
Es war der 21. März 1972, als die beiden Journalisten durch knietiefen nassen Schnee hinaufstiegen zum Viertlerhof. Dort wohnten drei alte Leute, allesamt noch im
19. Jahrhundert geboren. Zwei Brüder und eine Schwester, die letzten von neun Geschwistern. Abgeschnitten von der Welt, einsam und krank. Sie wollten nicht glauben, was der Besuch aus der Stadt da erzählte: dass vier Jahre zuvor die ersten Menschen auf dem Mond gelandet waren. Aloisia, die resolute Schwester, fühlte sich verspottet. Doch sie machte sich einen Reim darauf. Sollte es wirklich so gewesen sein, dann, so meinte sie, seien diese Menschen wohl dem Himmel nähergekommen.
Die Reportage mit dem Titel "Die Erben der Einsamkeit" lenkte den Blick in ungeschöntem Realismus auf die harten Lebensbedingungen am Berg. Sie trug mit dazu bei, dass die Anbindung der hochgelegenen Siedlungen gefördert wurde, um eine Abwanderung der Bergbauern zu verhindern.