Lyonel Feininger, ein bedeutender Vertreter der Klassischen Moderne, begann seine Karriere als Cartoonist. Seine Bildergeschichte "Wee Willie Winkles World" erschien 1906 in der "Chicago Tribune" und ist eine Perle Comic-Geschichte. Damals aber floppte sie gewaltig. Autorin: Brigitte Kohn
Haben Sie schon mal einen Nilpferdgreif mit ausgebreiteten Flügeln gesehen, der eine Prinzessin bewacht? Oder einen verschlafenen alten Pumpenherrn mit Pferdeschwanz, der quietscht und Wasser spuckt?
Kreaturen dieser Art bevölkern "Wee Willie Winkies World", eine Bildergeschichte aus der Feder des Malers Lyonel Feininger. Der Nilpferdgreif ist eine Felsformation und der Pumpenherr eine durchschnittliche Schwengelpumpe, um das Jahr 1906 noch häufig in Gebrauch. Doch bei Feininger haben alle Dinge, die natürlichen und die gemachten, ein Gesicht, einen Charakter, eine Seele, so wie Menschen.
Beseelte Dinge
Lyonel Feininger hat sich später mit seinen geometrisch stilisierten, kristallinen Architekturmotiven als bedeutender Vertreter der Klassischen Moderne profiliert. Dass er früher ein angesagter Cartoonist für beliebte Berliner Humorzeitschriften war, ist weniger bekannt. Im Jahre 1906 warb sogar die renommierte amerikanische Zeitung "Chicago Tribune" um seine Mitarbeit und bot 6000 Dollar Jahresgehalt. Feininger sagte zu, und der Chefredakteur hoffte, der Lösung eines großen Problems näher gekommen zu sein. Das Problem sah so aus.
Sollen Comics sein?
Comics waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA noch ein ganz neues Medium und sehr beliebt beim Publikum. Die Redaktionen, die sie ins Blatt hoben, konnten ihre Auflage rasant steigern. Das brachte anspruchsvolle Zeitungen wie die "Chicago Tribune" in eine Zwickmühle.
Wenn sie keine Comics druckten, sank die Auflage, taten sie es doch, sank das Renommee. Intellektuelle rümpften offiziell die Nase über Comics und lasen sie im Verborgenen, bei der Konkurrenz vom Boulevard.
Also entschloss man sich bei der "Chicago Tribune" zu einem Experiment mit künstlerisch hochwertigen, anspruchsvollen Comics. Man setzte auf die Mitarbeit deutscher Künstler, denen traute man mehr Tiefsinn zu, und in Chicago lebten viele Deutschstämmige.
Da es in Deutschland noch keine Comics gab, entwickelte Feininger seinen eigenen Stil, zunächst mit der Serie „The Kin-der-Kids“. Das ist ein vielschichtiger surrealistischer Bilderspaß, der allerdings den Geschmack des amerikanischen Publikums nicht wirklich traf. Die Folgeserie „Wee Willie Winkles World“ ist übersichtlicher: Ein kleiner Junge lebt nahezu allein in einer Welt, in der die Dinge seine engsten Gefährten sind. Immerzu ist dieser Junge im Bann der tausend Gesichter seiner Umgebung, so wie der Künstler selbst, der in diesen Bildern wie später in seinen Gemälden unser Weltverhältnis verzaubert.