»Nein, mein Junge, Zauberer und Hexen gibt es nicht. Das ist doch nur eine Geschichte.«
Sebastian legte sein Buch beiseite und sah Opa mit großen Augen an.
»Aber Opa, hier in der Geschichte steht es doch. Die handelt nur von Zauberei. Also muss da doch etwas Wahres dran sein.«
Opa nahm seine Brille von der Nase und putzte sie mit einem Taschentuch, welches er aus seiner Hosentasche gezogen hatte.
»Aber es ist halt nur eine Geschichte. Denk doch einmal an die Geschichte über den kleinen Leuchtturm. Glaubst, das die wirklich wahr ist und Papa Leuchtturm jeden Tag zur Arbeit geht?«
Der Junge dachte kurz nach und nickte.
»Siehst du, es sind nur Geschichten. Und nun ab mit dir unter die Decke. Es ist schon spät. Wenn deine Eltern nach Hause kommen und du schläfst noch nicht, dann bekommen wir beiden großen Ärger. Gute Nacht, du Lausejunge.«
Opa lachte, stand auf, zwinkerte seinem Enkel noch einmal zu und schaltete das Licht ab, während er das Zimmer verließ.
Sebastian wurde sehr früh am nächsten Morgen wach. Er hatte nicht so gut geschlafen. Komische Träume über Zauberer und Hexen hatten ihn die ganze Nacht über begleitet.
Er stand schließlich auf, ging ins Bad, um sich zu waschen und seine Zähne zu putzen und ging dann in die Küche zum Frühstück.
»Guten Morgen, mein Schatz.«, sagte Mama.
»Morgen, Kleiner.«, sagte Papa.
»Und? War Opa auch artig gestern Abend? Oder hat er dir wieder die ganze Nacht lang Geschichten vorgelesen?«
»Nein, Papa. Opa hat mir nur eine vorgelesen. Und dann ist er auch schon nach unten verschwunden.«
Mama stellte einen Teller auf den Tisch.
»Den hier hat er gestern vergessen. Da waren die Kekse gestern drauf. Kannst du nach dem Frühstück kurz runter zu Opa gehen um ihm den Teller bringen?«
Sebastian nickte und begann, das erste Brot zu essen.
Nach dem Frühstück schnappte er sich den Teller, ging die Treppe hinunter und klopfte an die Wohnungstür im Erdgeschoss.
»Hallo, Opa, bist du da?«
Es kam keine Antwort.
»Opa?«
Wieder nichts. Also ergriff Sebastian den Schlüssel, der immer im Schloss steckte, öffnete die Tür und ging direkt in das Wohnzimmer.
Opa stand hinter dem Sofa auf einem Hocker und sortierte ein paar Bücher in das Wandregal.
»Hallo, Opa. Hast du mich denn nicht gehört?«
Opa drehte sich herum und erschrak.
»Huch, was machst du denn hier? Setz dich auf den Sessel und bleib da. Ich komme zu dir.«
Sebastian hatte aber anderes im Sinn. Er ging auf seinen Großvater zu.
»Ich habe dir deinen Teller mitgebracht. Du hast ihn gestern vergessen.«
»Bleib bitte dort.«, sagte Opa, während er etwas hektischer wurde und von seinem Hocker stieg.
»Aber ich möchte dir helfen. Es ist doch bestimmt schwer, ständig hoch und runter zu steigen für die vielen Bücher.«
Doch als der Junge um das Sofa ging, blieb er stehen und sah verdutzt zu Boden.
»Aber,…«
Ihm stockte der Atem.
»Wie hast du das gemacht? Das verstehe ich nicht.«
Vor sich sah er nur Opa, die Bücher und das Regal. Sonst war dort nichts. Keine kleine Trittleiter, kein Höckerchen. Einfach nichts.
»Wie hast du das gemacht?«
Sebastian ging wieder zurück und setzte sich nun doch in den Sessel. Opa kam hinterher und nahm auf dem Sofa Platz.
»Du hättest es wohl doch irgendwann heraus gefunden.«
Opa griff nach einem Buch, welches auf dem Tisch lag. Es war das Buch mit den Geschichten vom gestrigen Abend.
»Du erinnerst dich an die Geschichte von gestern Abend über Zauberer und Hexen?«
Der Junge nickte.
»Sie ist wahr. Alles darin ist wirklich wahr. Es gibt tatsächlich Zauberer. Einer von ihnen bin ich, und dein Vater gehört auch dazu. Wir können Dinge tun, von denen andere Leute nicht einmal träumen.«
Sebastian wusste nicht, was er sagen sollte. Aber er war nun ganz gespannt, wie es weiter gehen würde. Also blieb er still und sah seinen Opa wissbegierig an.
»Ich habe es erfahren, da war ich ungefähr so alt wie. Mein Vater brauchte mir die ersten Zaubereien bei. Und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel Spaß das macht.«
Opa stand auf und zog einen Zauberstab aus seiner Hosentasche. Er tippte damit einmal auf jedes Bein und schon begann er zu schweben.
Sebastian konnte es noch immer nicht fassen. Er stand auf, ging langsam auf seinen Großvater zu und tippte an dessen Bein.
»Das ist ja unglaublich. Und ich kann das auch?«
Opa schwang seinen Zauberstab durch die Luft und richtete ihn dann auf den Jungen, der nun ebenfalls zur Decke schwebte.
»Hui, das macht richtig Spaß.«
Sebastian lachte so laut, wie er es noch nie getan hatte.
Opa öffnete nun ein Fenster und schwebte mit seinem Enkel nach draußen. Gemeinsam flogen sie einige Runden um den Kirschbaum um Garten.
»Hoffentlich sieht uns dabei niemand.«, rief ihm Sebastian zu.
»Keine Sorge. Es bedarf nur noch eines weiteren Zaubers und schon wird sich niemand für uns interessieren.«
Und so verbrachten die beiden den ganzen Vormittag in der Luft.
Als Mama schließlich nach Sebastian rief, weil das Mittagessen fertig war, landeten die beiden Zauberer wieder auf dem Boden.
»Das war der schönste Tag in meinem Leben. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals so etwas erleben würde. Danke Opa. Du bist der Beste.«
Opa freute sich sehr über dieses Kompliment.
»Dann sieh mal zu, dass du nach oben kommst, sonst wird das Essen kalt und deine Mutter sauer.«
Sebastian verabschiedete sich und ging zu seinen Eltern.
Der Vormittag war anstrengend gewesen. So viele Erlebnisse mussten erst einmal verarbeitet werden. Sebastian saß nun am Tisch und aß. Doch lange sollte sich nicht damit beschäftigen, denn nach ein paar Minuten schlief er ein.
»Schau dir das an. Unser Sohn muss ja viel mit Opa unternommen haben. So müde habe ich ihn noch nie gesehen.«
Papa stand auf und nahm seinen Sohn auf die Arme. Er trug ihn ins Kinderzimmer und legte ihn ins Bett.
»Dann schlaf die erstmal aus, mein Kleiner.«
Ein paar Stunden später erwachte Sebastian. Er sah sich um.
»Ich liege ja in meinem Bett. War es denn nur ein Traum? Oder bin ich wirklich mit Opa durch den Garten geflogen?«
Er konnte sich die Frage nicht beantworten. Aber er wünschte es sich so sehr, dass er wirklich zu den Zauberern gehören könnte.