Schweigend stand der Weihnachtsbaum in der Ecke vom Salon, so groß als reiche er bis in den Himmel. Anne, das Nesthäkchen, konnte die Spitze jedenfalls kaum erkennen. Ungefähr in der Mitte hing ein Engel aus bemaltem Holz. "Das ist mein Glücksengel" sagte der Vater immer und lächelte dabei die Mutter an. Der Glücksengel trug in einer Hand eine Trompete, in der anderen eine Papierfahne, auf der die Jahreszahl stand. "Dann sieht man auf dem Weihnachtsfoto immer gleich, von wann es ist", sagte Vater. In diesem Jahr konnte Wolfi die Zahl zum ersten Mal selbst entziffern. 1930 stand da.
An den Ästen zwischen den Honigkerzen baumelten außerdem kleine Tüten. Sie waren spitz, aus Silberfolie gedreht und oben mit buntem Papier verschlossen. In ihnen verbargen sich Bonbons, Kaffeebohnen aus Zucker und die kleinen runden Kekse, die entstanden, wenn man beim Backen Ringe aus dem Teig stach und die Mitte übrig blieb. Wolfi fand, dass diese Mitte noch viel besser schmeckte als die Ringe. Vielleicht weil sie in den Tüten am Baum hingen und dadurch etwas Weihnachtszauber abbekamen. Nach Heiligabend durfte sich manchmal eine Tüte herunternehmen, wer beim Gesellschaftsspiel gewonnen oder Elsa, dem Hausmädchen geholfen hatte. Elsa brauchte viel Hilfe, denn sie war eigentlich selbst noch ein Kind und war in die Stadt gekommen, weil sie hier ein Zimmer und zu essen bekam. Elsa hatte zuhause so viele Geschwister, dass es dort nicht genug Platz und Essen für alle gab. Wolfi war deswegen besonders nett zu Elsa. Oft schnäuzte sie sich dann gerührt in den Unterrock. "Der Herrgott hat's aber arg gut mit mir g'meint, dass der mich herbracht hat zu Euch", meinte sie.
Elsa war an diesem Weihnachtstag natürlich auch mit in die Kirche gekommen. Zur Freude Wolfis und seiner Geschwister hatte es schon vor einer Woche geschneit, und gestern wieder, wie es sich für Heiligabend gehörte. Mächtig kalt war es auch. Der Wind pfiff den Mädchen durch die wollenen Röcke, Unterröcke und die Strümpfe, die oben mit Knöpfen an den Leibchen befestigt waren, damit sie nicht rutschten. Selbst in der Kirche war es so kalt, dass auch die Jungen in ihren kurzen Hosen froren. Danach freuten sich alle auf zu Hause, wo sie mit der Eisenbahn spielen konnten und dem Puppenhaus. Anton, Wilhelm und Wolfi hatten eine größere Lokomotive bekommen und Gisela und Anne Wiegen für die Puppen. Anfang des Jahres würde das Christkind alles wieder mitnehmen und erst zum nächsten Weihnachtsfest würden die Kinder die Sachen zurückerhalten. Daher war jede Stunde kostbar, die man damit spielen konnte.
Aber der Vater war der Meinung, zur Körperertüchtigung sei noch ein Spaziergang fällig. "Wir gehen den Umweg über das Schloss", verkündete er. Niemand traute sich, zu widersprechen. Das Schloss mit seinen Türmchen tronte schneeweiß auf den Berg und sah wunderschön aus, wenn der Himmel blau war und die Wiesen grün. Anne träumte dann von Prinzessinnen und Wolfi von edlen Rössern. Doch bei diesem Wetter und mit nassen Stiefeln war träumen nicht einfach, außerdem knurrten ihnen die Mägen. Mit schleppenden Schritten schlichen sie hinter dem Vater her. "Na los", trieb der sie an. "Wer zuerst zuhause ist, bekommt eine Tüte vom Weihnachtsbaum!"
Schließlich stimmte Mutter "Ihr Kinderlein kommet" an, und alle sangen mit, obwohl sie in Gedanken schon bei Braten und Knödeln am Tisch saßen. Mitten im Lied brach Anne ab und sagte mit ihrer hellen Stimme: "Wo ist Anton?"
Ja, wo war Anton? Anton, auf den man immer besonders aufpassen musste. Er hatte schlechte Augen und träumte noch mehr als Anne und Wolfi. Manchmal achtete er nicht so recht darauf, wo er hin lief. Und nun war er weg, mitten im Wald. Rufend liefen sie umher. "Ach Herr", flehte Elsa mit gefalteten Händen, "Beschütz unsern Anton!"
Anne fing an zu weinen. "Bestimmt erfriert der Anton!"
Wolfi dagegen dachte an den Engel am Baum. Vaters Glücksbringer. Der konnte doch auch dem Anton Glück bringen. "Lieber Gott", dachte er mit aller Kraft, "mach, dass der Anton den Weg findet. Lass den Engel auf seiner Trompete blasen, dann hört er das bestimmt!" Und als er das zu Ende gedacht hatte, fiel ihm etwas ein. Er rannte zum Vater nach vorn und zog ihn am Ärmel. "Vater", sagte er, "ich glaub, der Anton ist schon zu Hause!"
"Das kann gar nicht sein. Aber wir müssen euch Kinder sowieso nach Hause bringen. Dann such ich allein weiter", sagte der Vater.
Aber ausnahmsweise hatte nicht der Vater recht, sondern Wolfi. Sie sahen den Anton schon von weitem vor der Haustür stehen. Er zitterte vor Kälte, weil er schon so lange dort stand.
Der Vater war so wütend darüber, dass Anton weggelaufen war, dass er ihn gar nicht zu Wort kommen ließ, und schickte ihn in sein Zimmer. Gegen Vaters Donnerstimme muckte keiner auf. Aber die Mutter ging mit einem heißen Kakao zu Anton, der gar nicht wusste, was er falsch gemacht hatte. "Vater hat doch gesagt, wer zuerst zu Hause ist, bekommt eine Tüte!" schluchzte er.
Daran hatte der Vater in seiner Sorge nicht mehr gedacht. Er brachte dem Anton die schönste Tüte vom Baum und entschuldigte sich sogar.
Wolfi aber stellte fest, dass dem Engel die goldene Trompete heruntergefallen war. Behutsam steckte er sie ihm wieder in die Hand. Bestimmt war das passiert, als der Engel darauf ganz doll geblasen hatte, damit der Anton den Weg fand.
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