Schon das Leben des Münchner Skandalautors Frank Wedekind war bunt und turbulent. Seine Beerdigung in wahrem Tumult setze dem die Krone auf. Autor: Anatol Regnier
Schon mittags sah man zu beiden Seiten der Lindwurmstraße Menschen in Richtung Waldfriedhof gehen, mehr Faschings- denn Leichenzug, mit leichten Mädchen und Resten der Schwabinger Bohème. Sie wollten dabei sein, wenn einer begraben wurde, der sein Leben lang für Skandal gesorgt hatte - vielleicht gab es auch heute etwas zu sehen. An der aufgekratzten, erwartungsfrohen Menge vorbei, tief in schwarz aus der Pferdedroschke grüßend, fuhr Tilly, die Witwe des Toten, zweiundzwanzig Jahre jünger als er und kürzlich aus der Klinik entlassen, nach einem Suizidversuch, unternommen aus Verzweiflung über ihre Ehe mit ihm. Er oder ich hatte sie gesagt, für beide ist kein Platz auf der Welt. Er hatte ihr die Entscheidung abgenommen und war von sich aus gestorben, dreiundfünfzig Jahre alt, nach einer missglückten Bauchoperation, die auch hätte unterbleiben können: Frank Wedekind, Skandalautor, Erotomane, Bänkelsänger, Bürgerschreck in Bürger-Maske, der umstrittenste Dichter seiner Zeit.
Vielleicht gibt es ja was zu sehen…
Am Friedhofstor Gedränge. Thomas Mann ließ das Taxi warten, denn sein Bruder Heinrich sollte sprechen, das glaubte er wegen politischer Differenzen nicht ertragen zu können. Es war Krieg, die beiden waren tief zerstritten. Die Aussegnungshalle war viel zu klein, der Sarg unter Blumen und Kränzen kaum zu sehen. Eine Ansprache folgte der anderen, des Raumhalls wegen schlecht zu verstehen, dann gab es auch noch Musik, die niemand hören wollte. Die Menge wurde unruhig. Thomas Mann sah seine Befürchtung bestätigt und entfernte sich während der Rede Heinrichs. Reichlich verspätet setzte sich der Trauerzug in Bewegung. Plötzlich brach Panik aus. Jeder wollte rechtzeitig am Grab sein. Menschen rannten los, sprangen über Gräber und liegengebliebenen Schnee, "glücklich wer geschickt und heiter über frische Gräber hopst" hatte Wedekind gesagt, nun lag er selbst bald drin. Der Passauer Dichter Heinrich Lautensack, verzweifelt um Erfolg ringend wie einst Wedekind, wollte die Szene filmen und lief mit Leiter und Kurbelkasten neben dem Zug her.
Auf dem Friedhof geht es rund
Am Grab Tumulte und Ordnungsrufe. Redner versuchten, die Menge zu übertönen, schubsten einander beiseite, schlugen sich den Hut vom Kopf, "ratlose Raben in Zylinderhüten" nannte sie Bertolt Brecht, zwanzig Jahre alt, aus Augsburg angereist. Endlich wurde der Sarg hinabgelassen. In einen Moment der Stille platzte Heinrich Lautensack, schleuderte Rosen auf den Sarg und rief: "Frank Wedekind, mein Lehrer, mein Vorbild, mein Meister - dein unwürdigster Schüler Lautensack" und stürzte sich mit dem Oberkörper ins Grab. Man überwältigte ihn, er wehrte sich wie rasend, die Zuschauer kamen, wie früher bei Wedekinds Premieren, auch bei seiner Beerdigung voll auf ihre Kosten - es fehlte nur noch, dass sie auf Hausschlüsseln pfiffen.