Der Gentleman Phileas Fogg, reich und recht exzentrisch in Sachen Pünktlichkeit, wettet am 2. Oktober 1872 um 20.000 Pfund Sterling, dass es ihm gelingen wird, in 80 Tagen um die Welt zu reisen. Autorin: Justina Schreiber
Wie lässt sich der heutige Gedenktag angemessen begehen? Nun, sich – in Anlehnung an den zu ehrenden Helden – ziemlich überstürzt zu einer Spritztour rund um den Globus aufzumachen, ist eindeutig zu stressig. Es wäre wohl auch nicht im Sinne von Mister Phileas Fogg, der am 2. Oktober 1872 zur Überraschung seiner Whistpartner im Londoner Reformclub darauf wettete, in 80 Tagen um die Welt reisen zu können, und am selbigen Abend noch den Zug nach Dover bestieg.
Die zirkuläre Ausweglosigkeit des Seins
Die Reise, die der französische Autor Jules Verne überlieferte, wurde seitdem mehr als genug kopiert, verfilmt und anverwandelt. Heute bietet es sich an, sofern noch irgendwo vorhanden, den Wartesaal eines Bahnhofs aufzusuchen und dort in so regungsloser wie korrekter Körperhaltung das Verstreichen der Minuten, Stunden, Tage… einfach hinzunehmen… Dass nichts weitergeht, dass der Zug auf sich warten lässt, dass schon wieder Kohle geladen werden muss, dass die Gleise hier überraschenderweise enden, dass Briganten lauern, ein Notfalleinsatz die Weiterfahrt verzögert, ein Unwetter tobt… Genug! Die Aufregung regresswütiger Pauschaltouristen steht einem Gentleman nicht zu Gesicht. Das Problem der Moderne ist ja beileibe nicht die Beschleunigung! Das Problem ist der gemeinhin übliche Umgang mit der gewonnenen freien Zeit. Wer etwa durch die Lande reist, um Sehenswürdigkeiten abzuklappern, wie es der englische Adel mit seiner albernen Grand Tour vorgemacht hat, lenkt sich nur von der zirkulären Ausweglosigkeit des Seins ab. Mister Fogg dagegen sauste einmal schnell um den Erdball, um pünktlich wieder bei seinen Whistpartnern im Reformclub erscheinen zu können. Gibt es ein schöneres Bild für die Sinnlosigkeit menschlicher Aktivitäten? Wer also glaubt, dass es das Unterwegssein ist, das den Horizont erweitert, irrt sich.
Nullsummenspiel des Fortschritts
Die wahre Schule des Charakters beginnt genau dann, wenn dem Zug die Lok abhandenkommt, wenn dem Dampfschiff der Brennstoff ausgeht, wenn der Zufall die Mathematik der Fahrpläne aushebelt und alle Räder still stehen. Jetzt gilt es, nicht dem Horror vacui zum Opfer zu fallen, sondern mit außerirdisch anmutender Gelassenheit ebenfalls nichts zu tun. Nicht nervös mit den Fingern auf dem Tisch im Abteil zu klopfen, nicht hektisch auf dem Hafenpier auf und ab zu gehen, keine Flüche auszustoßen, weder einzelne Angestellte noch das jeweilige Personentransportunternehmen als Ganzes wüst zu beschimpfen. Derartige Souveränität sichert einem – dies nur nebenbei - auch das Vertrauen schutzbedürftiger junger Reisegenossinnen. Wann aber dann der Chairós eintritt, der richtige Moment, das Steuer endlich selbst in die Hand zu nehmen, zeigt ein Blick auf die Uhr respektive den Kalender. Übrigens erleichtert Geld die nächsten Schritte immens. So lässt sich auch in letzter Minute ein Elefantentreiber oder Schlittenbesitzer finden, der gegen ein gutes, um nicht zu sagen: sehr gutes Honorar mit seinem Gefährt gewisse Strecken gerne überbrückt. Womit auch schon (wer sagt‘s denn?) wie geplant der gedankliche Ausgangspunkt wieder erreicht wäre. Die Botschaft des heutigen Phileas-Fogg-Gedenktages lautet: Wer sich auf die Straße begibt, sollte mit Stau rechnen. Unterm Strich kommt der Fortschritt nämlich einem Nullsummenspiel gleich.