London Anfang des 19. Jahrhunderts: Die Jagd auf Leichen für medizinische Zwecke hatte Ausmaße angenommen, die nach einem neuen Gesetz riefen… Autorin: Kristina Krüger
London um 1830. Die Stadt hat bereits zwei Millionen Einwohner. Sie ist die größte und reichste Stadt der Welt, und trotzdem sind dreiviertel der Londoner arm. Sie fristen ihr Dasein in engen Gassen, zehntausende sind obdachlos, führen ein Leben zwischen Abfällen und Knochen. Sie trinken brackiges Themse-Wasser, stehlen, prostituieren sich, oder sterben kurzerhand an Durchfall. Und jetzt, im Tod, sind auch sie begehrt, die Armen dieser reichen Stadt - als Leichen.
Resurrection Men
Denn die Wissenschaft braucht tote Körper - viele tote Körper. Rund 1000 Leichen pro Jahr benötigen die Anatomen allein für die medizinische Ausbildung, aber die einzigen Körper, die legal seziert werden dürfen, sind hingerichtete Mörder. Und von denen gibt es nur an die 12 pro Jahr. Das ist die Chance für dunkle Typen. Sie graben frisch bestattete Leichen wieder aus, am besten solche, um die sich keiner mehr schert, und verkaufen sie an die Anatomen. Schnell hat London für sie einen Namen, und die Halbwelt hat einen neuen Beruf: Resurrection Men, Auferstehungsmänner.
Sogar die Anatomen selbst gehören zu den Leichendieben. Oft bringen die Herren Doktoren die Körper gerade verstorbener Verwandter in ihre Institute, sezieren sie nach allen Regeln der Kunst, und erst danach geht es auf den Friedhof. Sir Astley Cooper ist einer der zwielichtigen Mediziner: Öffentlich prangert er die Auferstehungsmänner an, doch insgeheim steckt er mit ihnen unter einer Decke. Cooper baut ein regelrechtes Londoner Netzwerk zur Leichenbeschaffung auf. Sogar Hausärzte sind darin verstrickt.
Es ist ein blühendes Geschäft. Die Leichenräuber verdienen locker fünf- bis zehnmal mehr, als ein ungelernter Arbeiter. Und natürlich lassen sich nicht nur die Körper zu Geld machen; langes Haar kaufen die Perückenmacher, die Kleider der Toten gehen an Kleiderläden und ihre Zähne an Zahnärzte. Die machen daraus Gebisse.
Schutz vor posthumen Diebstahl
Doch schließlich wird es sogar den Londonern zu viel, und so verwundert es kaum, dass sich bald das nächste Gewerbe entwickelt - auch sehr erfolgreich: Es bietet die verschiedensten Maßnahmen zum Schutz vor posthumem Diebstahl an.
Vom doppelwandigen Sarg bis zum Eisenkäfig - die betuchteren Bürger Londons lassen gerne etwas springen, um sich vor Leichendieben zu schützen; sie befürchten Schwierigkeiten bei der Auferstehung mit einem sezierten Körper.
Ob die Leichenräuber damals wohl in den Himmel gekommen sind? Wer weiß! Vor dem Gesetz zumindest hatten sie keine Schuld auf sich geladen. Die Entwendung von Leichen war nämlich keine Straftat, sondern lediglich ein Vergehen, das - wenn überhaupt - nur milde bestraft wurde. Doch genau das sollte sich schließlich ändern: Am 11. Mai 1832 wurde das englische Anatomiegesetz erlassen, und ab sofort stand Leichenraub unter Strafe.