Schon der entsetzliche Verlauf der Syphilis war schlimm, aber verunsichernd war auch, dass niemand vor ihr sicher schien. Erst am 3. März 1905 gelang es zwei Berliner Forschern den Krankheitserreger zu entdecken. Autorin: Christiane Neukirch
Einer ist immer der Schuldige. Er zum Beispiel war selbst schuld an seinem Leiden: Syphilus, ein Hirte aus der Neuen Welt. Hatte er doch dem Sonnengott nicht gehuldigt! Weil er dessen Hitze nicht ertragen konnte, hatte er sich einen neuen Gott gesucht und viele Mitmenschen zum neuen Glauben bekehrt. Dafür musste er büßen.
Schlimm wird ihm der Leib zerfressen
Der Sonnengott strafte ihn für diesen Treuebruch mit einer schrecklichen Krankheit:
"Syphilus packt sie als ersten. Schlimm wird ihm der Leib zerfressen
von gar garstigen Geschwüren. Schmerzend reißt es in den Gliedern,
seine Nächte flieht der Schlaf. Und nach ihm benennt die Menschheit
heute noch die gleiche Seuche.
Es empfängt von ihm die Krankheit nun den Namen: Syphilis."
So lautet jedenfalls die Theorie des Dichters und Arztes Girolamo Fracastoro, der im Jahr 1530 ein Buch in Versen über die Herkunft der Syphilis schrieb. Die Krankheit war 1495 in Neapel aufgetreten, hatte dort entsetzlich gehaust und hatte sich rasch nach Norden hinauf über ganz Europa ausgebreitet; streckenweise mit einer Geschwindigkeit von 50 Kilometern pro Woche.
Die Ausbreitung der Krankheit konnte man gut beobachten, denn sie lässt sich kaum verheimlichen. Zwar beginnt sie mit einzelnen Geschwüren an den Geschlechtsteilen; doch bald ist der ganze Körper befallen, schließlich auch der Geist; die Kranken verfallen dem Wahn- und dann dem Stumpfsinn - bis der Tod sie erlöst.
Jemand muss schuld sein an dem Elend. Und man findet ihn immer. Wenn auch nicht übereinstimmend denselben. Manche machen die Planeten verantwortlich: „Der gute Jupiter unterlag den bösen Planeten Saturn und Mars“, heißt es in der sogenannten Miasma-Theorie; das Zeichen des Skorpions, dem die Geschlechtsteile untergeben seien, erkläre, weshalb die Genitalien der erste Angriffspunkt der neuen Krankheit waren. Ein anderer Schuldiger findet sich in Kolumbus, dem Entdecker der Neuen Welt, dem man zur Last legt, die Krankheit vom anderen Kontinent mitgebracht zu haben. Dann Landsknechte, Vagabunden, Prostituierte: Sie werden angeprangert, sie seien ihrer Unzucht wegen von Gott mit dieser Krankheit bestraft worden.
In dieses Bild passt allerdings nicht, dass auch Päpste, Domherren, Mönche und Nonnen davon betroffen waren. Der spanische Arzt Juan Almenar fand auch dafür eine Lösung: "Bei den meisten Menschen entsteht die Syphilis durch einen unreinen Beischlaf“, schrieb er, "nur bei den Geistlichen durch den Einfluss der Gestirne oder verderbter Luft."
Den wahren Schuldigen fanden erst 400 Jahre später die beiden Berliner Forscher Erich Hofmann und Fritz Schaudinn. Am 3. März 1905 stießen sie in ihrem Labor an der Charité auf "Treponema pallidum", ein Bakterium. Die Schuldfrage war damit ein für alle Mal geklärt, der Sündenbock hatte ausgedient.
Wirklich?
Als Anfang der 1980er die Seuche AIDS die Welt erschütterte, war man längst so weit zu wissen, dass Epidemien auf Mikroorganismen wie Viren und Bakterien beruhen. Und doch schien die Welt wieder einen anderen Sündenbock zu brauchen: Waren es nicht die Homosexuellen, die es traf? War es nicht ein Fingerzeig? Eine Strafe Gottes? So wähnte sich mancher sicher - bis die Krankheit langsam aber sicher alle Gesellschaftsschichten erreichte.