Gustav Nagel überstand in den 1920er Jahren alle Mediziner-Gutachten, die gegen seine skandalöse Barfuß-Exzentrik aufgeboten wurden. Schwerer als mit den Spießern hatte er es mit den Ideologen seiner Zeit. Autor: Xaver Frühbeis
Arendsee, in den 20er Jahren. Ein Luftkurort in der Altmark, idyllisch gelegen, inmitten weiter Kiefernwälder am Ufer eines kristallklaren Sees. Die Straßen Arendsees sind ordentlich gefegt, Fachwerkhäuschen laden zum Verweilen ein, die Kurgäste fühlen sich wohl, die Einheimischen nicht minder. Und dennoch hat die Stadt ein Problem.
Barfuß
Einer ihrer Einwohner spielt verrückt. Der Gastwirtssohn Gustav Nagel weigert sich, den Regeln der Gesellschaft zu gehorchen. Egal, ob es stürmt, schneit oder die Sonne scheint, er ist barfuß unterwegs. Langbärtig, wallenden Haupthaars wandelt er einher, angetan nur mit einem knappen Höschen, einem Leinenschurz und einem über die Schultern geworfenen Cape. Lange Jahre war er in diesem Aufzug zu Fuß unterwegs, ganz Europa hat er durchwandert, bis hinunter ins Heilige Land. Danach hat er sich in Arendsee ein Seegrundstück gekauft und dort in sechzehnjähriger mühsamer Arbeit aus Muschelkalk, Felsbrocken und Schlacke ein Sonnen- und Brausebad errichtet, dazu eine Tempelanlage mit Trinkhalle, Schwanen- und Harmoniumhaus, Sälen und was noch dazugehört. Hier wohnt er nun mit seiner Frau und den drei Söhnen.
Nagel spricht
Worüber man eigentlich noch froh sein muss. Früher, vor seinen Wanderjahren, hat er es vorgezogen, im Wald in selbstgegrabenen Erdhöhlen zu hausen, die die Einwohner von Arendsee immer wieder zerstören mussten, weil sie ihnen ein Dorn im Auge waren. Auch jetzt ist ihnen dieser Nagel ein Dorn im Auge. Der Mann ist nämlich eine wirtschaftliche Größe. Arendsee ist Pilgerstätte eines reichsweiten Nagel-Tourismus geworden, und Nagel so berühmt, dass, wer immer bei der Reichsbahn eine Fahrkarte nach Arendsee kauft, vom Schalterbeamten "Grüße an Gustav" mitbekommt. Er selbst lebt vom Verkauf von Eintrittskarten für seine Bade- und Tempelanlage und hält reformerische Vorträge, wie die Leute ihr Leben verbessern sollen und, wenn sie schon mal dabei sind, die ganze deutsche Lebensweise gleich mit dazu. Die Großstädte will er abschaffen und die Hochhäuser, die seien nicht menschengemäß.
Kein Fleisch soll man mehr essen und den Alkohol meiden, mit dem Schulunterricht will er hinaus in die freie Natur, und in der Kirche soll nicht nur der Pfarrer das Wort haben, sondern auch die Gläubigen. Die Leute kommen in Scharen nach Arendsee, um sich diesen Nagel anhören. Einmal, 1928, hat er in nur vier Monaten über zehntausend Eintrittskarten verkauft. So einen wirft man doch nicht einfach aus der Stadt. Andererseits:
Wer so redet, ist verrückt. Oder nicht? Immer wieder wird versucht, den Mann entmündigen zu lassen. Und immer wieder gelingt es Nagel, Gegengutachter aufzubieten, die ihm Zurechnungsfähigkeit bescheinigen und die Wissenschaftlichkeit seiner Vorträge nachweisen. Es ist ein Dauerstreit zwischen den Arendseern und Gustav Nagel, und der Mann ist ein Ärgernis für die Stadt, gerade weil er so erfolgreich ist.