Der erste abendfüllende Tonfilm der Geschichte - ein gewagtes Unterfangen: Bild und Ton kamen aus verschiedenen Geräten, doch der Hauptdarsteller wurde der erste Weltstar. Autorin: Christiane Neukirch
Es ist heute problemlos möglich, von einem Tyrannosaurus Rex angefallen zu werden. Dafür muss man nur ins Kino gehen. Dort stürmt das Monster in 3D auf uns zu, in Surround umgibt uns sein Gebrüll, und grell mischt sich unser Kreischen in das räumliche Gesamtkunstwerk. Die perfekte Illusion in Bild und Ton! Unsere armen Vorfahren hatten dieses Privileg nicht. Sie mussten sich noch entspannt im Kinosessel zurücklehnen. Ihre Filme enthielten keine Saurier; sie waren in 2D, schwarzweiß und ohne Ton.
Die Erfindung der Multimedialität
Moment mal: Ohne Ton? Weit gefehlt! Auf dem Filmstreifen des Stummfilms war kein Ton - das bedeutet aber nicht, dass die Ohren der Kinobesucher darben mussten. Für die akustischen Genüsse sorgte Personal vor Ort: In jeder Filmvorführung saß ein Klavierspieler; er verfolgte das Geschehen auf der Leinwand und kleidete es improvisierend in Töne. In großen Kinosälen lieferten riesige Kinoorgeln mit vielen Manualen und Registern nicht nur Musik, sondern auch Gespenstergeheul und Sturmesbrausen. Handlungsrelevante Dialoge wurden auf Tafeln eingeblendet. Es gab also nichts zu vermissen.
In den Zwanzigerjahren aber eroberte ein neues Medium die Wohnzimmer: das Grammophon. Auch die Filmbranche experimentierte damit. Könnte man nicht den Sound eines Sängers auf der Leinwand per Schallplatte dazuspielen? Man konnte: "Vitaphon" hieß die Technik, die Projektor und Plattenspieler zu einer multimedialen Einheit zusammenfügte. Die Warner Brothers, führende Pioniere im Filmbusiness, hatten sofort eine Idee: sie suchten sich einen Publikumsliebling aus der Unterhaltungsbranche, den Varietésänger Al Jolson, stellten ihn vor die Kamera und ließen ihn singen und sogar sprechen. Es sollte der erste abendfüllende Tonfilm der Geschichte werden; ein Musikfilm: "The Jazz Singer".
Eine historische Zitterpartie
Ein gewagtes Projekt. Für fünfzehn Songs und zwei Dialoge mussten Projektor und Plattenspieler zehntelsekundengenau synchron gestartet werden. Die kleinste Verzögerung bedeutete größte Blamage. Am Tag der Premiere, dem 6. Oktober 1927, gab es für die Warner Brothers daher allen Grund zum Lampenfieber. Doch keiner von ihnen war zugegen. Sam Warner, derselbe, der auf das Vitaphon-Verfahren aufmerksam geworden war, war am Tag zuvor verstorben, seine Brüder zur Beerdigung gefahren. Seine Nichte, Doris Warner, Tochter eines der Brüder, wurde Zeugin der historischen Zitterpartie. Die Vorführung begann, die Technik versagte nicht. Die Zuschauer waren gebannt. Als der Protagonist auch noch zu sprechen begann, gab es im Saal kein Halten mehr. Nach der Vorstellung verwandelte sich das Publikum in einen ausgeflippten Mob. "Jolson, Jolson! Jolson!" skandierten die frischgebackenen Fans des soeben zum Weltstar avancierten Hauptdarstellers. Der Erfolg sprach sich schnell herum. Doch nicht überall kamen die Leute in den Genuss einer solchen Vorstellung: Kaum ein Kino hatte die technische Ausstattung. Vielerorts lief der Streifen daher in einer Stummfassung.