Von jeder Sorte zwei - so lautete die Passagierregel auf Noahs Arche und mit der hat der biblische Held die Sintflut durchschifft. Dachte man zumindest. Bis sich noch ganze andere Fassungen der Sintflutgeschichte fanden, die weit älteren Datums sind als die Bibel.
George Smith traut seinen Augen nicht. Er kann gar nicht fassen, was ihm da im Britischen Museum in London zwischen die Finger geraten ist:
Der Text, den der junge Mann gerade Zeile für Zeile auf einer alten, verstaubten, mesopotamischen Tontafel entziffert, ist nichts anderes als eine Welt-Sensation!
Seit Jahren zieht es George Smith, Lehrling in der angrenzenden Druckerei, in die archäologische Orient-Abteilung. Stur nutzt er jede Mittagspause, um in der Nähe der geheimnisvollen, eng beschrieben Täfelchen sein zu können. Die uralte, keilförmige Schrift lässt ihn nicht mehr los. Und erstaunlich: Der Druckerlehrling bringt sich das komplizierte Winkelhaken-System schließlich selber bei - bald ist er in der Lage, die manchmal nur wenige Zentimeter großen Bruchstücke zu übersetzen - im Museums-Archiv lagern mehrere tausend. Doch meist ist nur von Handelsbeziehungen die Rede, von Vieh- und Getreidemengen.
Ein Stück Literatur!
Dann aber stößt George Smith auf den Text, der sich von den üblichen, knochentrockenen Auflistungen unterscheidet. Er findet ein Stück Literatur!
Und nicht nur das - das Fragment erzählt eine Geschichte, die dem Keilschriftexperten sofort alarmierend bekannt vorkommt: Die dunkelbraune, zweispaltige Tontafel berichtet von einer großen Flut. Es ist die Geschichte eines Mannes, dem sein Gott befiehlt, ein Schiff zu bauen. Der Mann soll seine Familie und auch Tiere mit an Bord nehmen, denn eine große Überschwemmung werde alles Leben auf der Erde zerstören. Zwar heißt der Mann, der diesen göttlichen Befehl erhält, nicht Noah, sondern Utnapischtim, aber ansonsten stimmen verblüffend viele Details mit der biblischen Erzählung von der Sintflut und der Arche überein.
Smith erkennt sofort, was er da in Händen hält - und reißt sich, so heißt es,
in fiebernder Erregung alle Kleider vom Leib. Das Aufsehen, das sein blankes Hinterteil in den Gängen des Britischen Museums erregt, ist allerdings nichts im Vergleich zu der Aufregung, die die Entdeckung der sogenannten Sintflut-Tafel auslöst. Am 3. Dezember 1872 berichtet Smith vor geschockten Mitgliedern der Gesellschaft für Biblische Archäologie: Die Sintflut-Geschichte steht auf einer Tontafel aus dem antiken Zweistromland - und sie ist sagenhaft viel älter als die älteste Fassung der Bibel. Kurzum: ein Skandal!
Die Flut kam früher
Was macht es mit einer Religion, wenn man entdeckt, dass die eigenen
Ursprungs-Legenden weder originell sind, noch neu, sondern übernommen von einer viel älteren Kultur - und fremden Göttern? Doch George Smith lässt sich nicht aufhalten, im Gegenteil. Es treibt ihn zum ursprünglichen Fundort seines Tontafel-Fragments - in die alte, assyrische Hauptstadt Ninive - und prompt! - zum zweiten Mal in seinem Leben hat er unverschämtes Glück: Unter meterhohem Schutt findet er am Tigris tatsächlich die noch fehlenden Teile. Jetzt kann er die Sintflut-Tafel vervollständigen. Was für ein Lebenswerk!