Der Herr Meyer, der sich in der Prinzregentenzeit in München ein Zimmer nimmt, heißt nicht wirklich so. Am 29. Juli 1900 war er aus Russland abgereist und heißt in Wirklichkeit Lenin. Autorin: Julia Mahnke
München, um die Jahrhundertwende. Es ist die Prinzregentenzeit, Bayerns belle époque. Luitpold verwaltet den Thron der Wittelsbacher, und er verwaltet ihn gut. Die Regierungsgeschäfte überlässt er meist seinen Ministern, geht lieber auf die Jagd und fördert die schönen Künste. Gelegentlich zeigt er sich auf den Straßen der Landeshauptstadt. Ehrerbietig grüßt ihn das Volk, und leutselig grüßt er zurück. Es ist eine Zeit des Friedens, des Wohlstandes, der Liberalität. Es lebt sich gut im München der Jahrhundertwende.
Herr Meyer kommt nach München
Da mietet sich im Spätsommer 1900 ein Herr Meyer in Schwabing in der Kaiserstraße ein, bei einem Gastwirt. Der ist ein Sozi und führt eine Wirtschaft, "Zum Onkel" heißt sie. Da taucht auch der Herr Meyer gelegentlich auf - kein Wunder, dass es ihm in seinem dunklen Hinterzimmer zu fad wird - und bestellt sich eine Mehlspeise, zu mehr reichts bei ihm nicht. Und im Frühjahr darauf trifft auch seine Frau ein. Na, eine Schönheit ist sie nicht gerade. Und eine Szene macht sie ihm auch gleich zur Begrüßung. Denn der Herr Meyer hat verpasst, sie vom Bahnhof abzuholen. Und wo er wohnt, das hat er ihr auch nicht geschrieben. Oder, er hat es ihr geschrieben, und die Briefe wurden abgefangen. So redet er sich jedenfalls raus. Das möblierte Zimmer ist der Frau Meyer auch nicht gut genug, und so wird etwas Besseres gemietet, in der Siegfriedstraße. Dort taucht dann noch die Schwiegermutter vom Herrn Meyer auf. So leben sie zu dritt, Schwiegermama hilft im Haushalt, der Herr Meyer und Gemahlin gehen ins Konzert oder in die Oper - großer Verehrer von Richard Wagner selig, das ist er, der Herr Meyer. Und im Hofbräuhaus das Bier lässt er sich auch schmecken.
Herr Meyer mag München
Ja, und was macht er sonst noch so, der Herr Meyer? Wenn er nicht in der Oper ist und nicht im Hofbräuhaus? Dann, ja dann arbeitet er. An der Revolution.
Denn eigentlich heißt er gar nicht Meyer, hat man sich ja gleich denken können. Inkognito wollte er bleiben, der Herr Vladimir Iljitsch Uljanow, und die armen Münchner nicht gleich mit seinem komplizierten russischen Namen überfordern. Aber ihm war der Name wohl selber zu kompliziert, weswegen er sich schlicht "Lenin" nennt. Wieso Lenin, weiß kein Mensch. Aber das ist ihm in München eingefallen. Oder jedenfalls nennt er sich hier zum ersten Mal so, vielleicht ists ihm ja schon in Sibirien eingefallen. Da war er nämlich in der Verbannung gewesen, bevor er am 29. Juli 1900 in St. Petersburg in den Zug stieg und in die Schweiz reiste. Und von dort über Nürnberg nach München. Also sitzt Lenin hier in seinen möblierten Zimmern und schreibt. Schreibt sein Pamphlet "Was tun?". Schreibt seine revolutionäre Zeitung "Iskra", auf gut deutsch "Funke", in München geschrieben, in Leipzig gedruckt, nach Russland geschmuggelt - um den Zaren in Russland vom Thron zu stürzen.
Schließlich hat die bayerische Polizei dann doch Wind von dem Treiben der Russen bekommen, und im April 1902 packt das revolutionäre Ehepaar seine Koffer und ab geht’s nach London.