Der Eurotunnel unter dem Ärmelkanal, eingeweiht am 6. Mai 1994, gilt als Jahrhundertbauwerk. Ein Wunderwerk der Technik, rekordmäßig teuer - und vor allem haben sich die Briten nach Jahrhunderten vom Inseldasein verabschiedet.
"Verdammt! Das haut nie hin." Schon ein paar Wochen vor dem Termin MUSS den Firmenchefs klar gewesen sein: das Ding wird nicht fertig. Aber da ist es zu spät. Die Einladungen sind raus. Und die Königin von England hat das Datum schon im Kalender: 6. Mai 1994, Einweihung Eurotunnel.
Unlust bei den Briten ...
Peinlich natürlich. Die Chefs der Eurotunnel-Gesellschaft sind nämlich schon ein ganzes Jahr im Verzug. Aber selbst schuld. Denn pannenfrei läuft dieses Tunnelprojekt eigentlich nur ganz am Anfang, in den 80er Jahren, als die Zeitungen erste Pläne abdrucken: 1inks, England, Zickzack, die Klippen von Dover. Rechts, Frankreich, weniger zickzack, die Küste bei Calais. Dazwischen das Meer - und tief unter dem Meer: 50 Kilometer Tunnel mit Bahnschienen.
Aber sobald der Tunnel mal mehr ist als nur eine kühne Zeichnung, geht es los mit den Pannen. Der französische Fels ist widerspenstiger als gedacht und die Kostenberechnungen stimmen hinten und vorne nicht. Der Eurotunnel kostet schließlich nicht fünf Milliarden Pfund, wie zunächst geschätzt, sondern das Doppelte: 10 Milliarden Pfund. Traurig für 600 tausend Anleger -
und 200 Banken, die in die Röhre schauen.
Aber zurück zur Queen: Die kommt ja nun. Und der französische Präsident auf der anderen Seite - François Mitterrand - natürlich auch. Also Endspurt für tausende Arbeiter in England, Frankreich und dazwischen, damit zum 6. Mai zumindest EINMAL ein Zug hin und zurück unter dem Ärmelkanal fahren kann.
Fraglich ist, ob sie der Königin von England mit der Hektik einen Gefallen tun. Denn wenn es ihr in diesem Frühling `94 so geht wie rund der Hälfte ihres Volkes, dann hat sie überhaupt keine Lust auf diesen Tunnel. Diesen Tunnel, der die Briten zutiefst verunsichert: weil er den Zustand beendet, an den sich seit der letzten Eiszeit alle gewöhnt haben, den "Wir-sind-eine-Insel-und-was-auf-dem-Kontinent-los-ist-interessiert-uns-nicht-Zustand."
Aber so kann man das ja nie und nimmer öffentlich sagen. Also warnen die britischen Jagdverbände lieber vor tollwütigen Füchsen, die durch die Röhren kriechen werden. Und die Terror-Experten warnen vor Bombenanschlägen. Und die Fähr-Gesellschaften warnen vor ihrem Untergang.
... Freude in Frankreich
Zu einem Tunnel gehören zwei. Was ist mit François Mitterrand. Hatte der Lust? Na klar. Schließlich gab es seit 1750 mehr als 20 Versuche eine feste Verbindung über den Ärmelkanal zu bauen. Und ALLE gingen von Frankreich aus. .
Weil Franzosen Technik lieben. Die Concorde zum Beispiel oder den TGV und, wenn´s der Fortschritt will, auch eine Tunnelbohrmaschine, 200 Meter lang und 800 Tonnen schwer. Bohrmaschinen, die unter dem Meer den Weg gen England freischaufeln, tragen französische Namen: Brigitte, Cathérine, Virginie.
Den Termin am 6. Mai hat die Eurotunnel-Gesellschaft tatsächlich durchgezogen. Die Stimmung war sogar richtig gut. Die Queen ist, ganz in Pink gekleidet, am Vormittag in Folkestone mutig mit dem Eurostar ab - und eine gute halbe Stunde später bei Coquelles munter wieder aufgetaucht. Spätestens nach dem üppigen französischen Mittagessen muss sie vollkommen überzeugt gewesen sein, von dieser neuen Anbindung an den Kontinent. Auf dem Weg zurück dufte der französische Präsident neben ihr Platz nehmen, im Fond des königlichen Rolls Royce. Der musste nämlich herhalten für eine Testfahrt mit dem Autozug.