Wolfgang Amadeus Mozart: War er doch kein Wunderkind?
Der Neuropsychologe (Hirnforscher) Lutz Jäncke hat den Fall Mozart untersucht.
Sie hören nun Auszüge aus einem Interview mit einem Redakteur der Süddeutschen Zeitung:
Mit fünf Jahren komponierte Mozart sein erstes Menuett, mit elf sein erstes Bühnenstück. Der Vater sprach von einem Wunder. Was sagt die Wissenschaft heute?
Sie sagt zunächst einmal: Vorsicht. Manche frühen Kompositionen sind nicht zum
behaupteten Zeitpunkt entstanden, sondern einige Jahre später. Außerdem hat
Mozarts Vater Leopold die Noten niedergeschrieben, während sein Sohn, der
kleine Wolfgang Amadeus, vor sich hin spielte. Was in diesen Noten stammt nun
also wirklich vom Kind?
Sicher wissen wir heute nur, dass Mozart sehr früh begonnen hat zu musizieren,
und wir wissen, wenn Kinder etwas intensiv üben, zeigen sie erstaunliche Leistungen. Spielt ein Kind früh Schach, wird es mit Sicherheit Schachexperte. Kinder
können ein Expertentum entwickeln, das Erwachsenen wie ein Wunder erscheint.
Nun kann man fragen, ob diese Analyse in Bezug auf Mozart nicht ziemlich gewagt ist. Der Hirnforscher meint das nicht. Gewagt sei vielmehr die gängige Sicht
auf Mozart, die dem Kind göttliche Begabung zuschreibt. Wenn der Dirigent Nikolaus Harnoncourt sagt, Mozart sei ein Genie von einem anderen Stern, dann entfernen wir uns von der Wahrheit. Heute versucht man, sich dem Phänomen Mozart naturwissenschaftlich zu nähern. Das dabei entstehende Bild ist realistischer. Das Genie dagegen ist ein Begriff aus der Romantik, der durch die psychologische Forschung längst widerlegt ist. Demnach machte nur Übung den Mozart?
Das ist richtig. Zwar muss er auch Talent besessen haben, doch wichtiger ist die
Frage nach der Motivation dieses talentierten Kindes.
So sind die Fragen, die den Neurowissenschaftler interessieren: Wie kam die
Spitzenleistung zustande, warum hat dieser kleine Junge mit drei Jahren so intensiv Geige und wenig später Klavier geübt? Welche Möglichkeiten steuerte seine
Umgebung zu dieser Entwicklung bei? Wir wissen, dass der kleine Mozart in einer
Familie aufgewachsen ist, in der das gesamte Leben von Musik bestimmt war.
Der Vater war Kapellmeister, Musiklehrer und der Autor eines Standartwerks für
Musikpädagogik. Tägliches Musizieren war im Hause Mozart also lebensnotwendig und das muss die frühkindliche Entwicklung beeinflusst haben. Jedenfalls
brachte diese Entwicklung den Vater auf eine Geschäftsidee: Er wollte mit seinen
Kindern offenbar Geld verdienen und präsentierte sie als Wunderkinder. Als Wolfgang Amadeus Mozart vier Jahre alt war, ging sein Vater mit ihm und seiner älteren Schwester Nannerl auf Tournee. Sie spielten am Kaiserhof in Wien, vor Ludwig XV. in Paris und vor Georg III. in London.
Im Grunde kann man davon ausgehen, dass in vielen Neugeborenen ein solcher
Musikexperte schlummert. Das menschliche Gehirn fängt außerordentlich früh
an, Spezialisierung zu betreiben: Ab dem neunten Monat unterscheidet jedes gesunde Kind muttersprachliche Laute von fremdsprachlichen und speichert Klangspezialitäten und Betonungsmuster ab. Das Gehirn stellt sich extrem früh auf die
Umwelt ein, es hat sich in der Evolution zu einem Kulturorgan entwickelt, das ungeheuer vielfältige Anpassungsmöglichkeiten bewerkstelligt: Es gibt weltweit mindestens 6000 verschiedene Sprachen, 20 000 Dialekte und nichts davon ist
angeboren. Es sind Kulturtechniken. Insofern haben wir die Möglichkeit, aus uns
allen sehr früh Experten in verschiedenen Kulturtechniken zu machen.
Doch bevor ehrgeizige Eltern jetzt anfangen, ihre Kinder ständiger Musik auszusetzen: Um welchen Preis geschieht so etwas? Mozart schrieb einmal: Ich kann
nicht poetisch schreiben (…) Ich kann sogar durch Deuten und Pantomime meine
Gesinnung und Gedanken nicht ausdrücken (…) Ich kann es aber durch Töne.“ So
war es. Wie viele Kinder, die extreme Fähigkeiten entwickeln, hatte Mozart defizitäre Bereiche. Er war in sozialer Hinsicht ungeschickt und unsicher. Der Umgang
mit seinen Freundinnen und Frauen zum Beispiel war nicht richtig erwachsen. Er
hat es nie geschafft, sich von seinem Vater zu lösen und ein eigenes Leben aufzubauen und in der wirtschaftlichen Lebensplanung war er völlig hilflos.
Der Vater steht jedenfalls nicht in bestem Licht da. Ein Training, wie er es dem
kleinen Wolfgang auferlegt, würden wir heute keinem Kind zumuten. Doch ohne
Talent hätte das nicht viel geholfen. Was ist Talent, wenn nicht ein anderes Wort
für Genialität?
Nach unseren neuesten Untersuchungen muss man annehmen, dass unsere kognitiven und motorischen Fähigkeiten nur höchstens zu 50 Prozent genetisch determiniert sind. Das nennen wir Talent. Die anderen 50 und mehr Prozent sind
also durch Umwelteinflüsse, Erziehung und Training bestimmt. Betrachten wir
lieber die Leistung, die am Ende herauskommt. Sie ist eine Funktion von drei
Faktoren: Fähigkeit mal Wollen mal Möglichkeit. Das heißt, wenn man eine hohe
Fähigkeit hat und beste Möglichkeiten, aber keine Lust, lautet die Rechnung: eins
mal eins mal null. Heraus kommt null Leistung. Fähigkeit wiederum setzt sich
aus Talent und Training zusammen, das heißt, wer nicht trainieren will, kann
noch so viel Talent besitzen, er wird es zu nichts bringen. Training ist also der
entscheidende Faktor. Die Frage ist nun, was Mozart zum Training motivierte.
Biografen schreiben, er sei ein außergewöhnlich liebesbedürftiges Kind gewesen.
Ist das eher die Folge eines harten Lernalltags oder vielleicht ein Hinweis darauf,
dass sich Mozart durch Üben Liebe verdienen wollte? Teil 1: Fragen zum Hörverstehenstext
(Für die Antworten darf auch die Rückseite beschrieben werden! Bitte antworten Sie in ganzen Sätzen!)
1. Bei den frühen Werken des Komponisten Mozart rät der Autor zur Vorsicht. Nennen
Sie zwei Gründe.
(jeweils ein Satz)
a)
b)
2. Welche Folge hat intensives Üben bei Kindern?
3. Warum lehnt der Neurowissenschaftler Jäncke den Begriff „Genie“ ab? Er meint,
dass…
4. Welche Fragen interessieren den Neurowissenschaftler?
a)
b)
c)
5. Beschreiben Sie das familiäre Umfeld, in dem Mozart aufwuchs.
6. Welche Geschäftsidee hatte Mozarts Vater?
7. Welche frühe Spezialisierung des Gehirns wird im Text genannt?
8. Geben Sie zwei der genannten Defizite Mozarts wider:
a)
b)
9. Ergänzen Sie entsprechend dem gehörten Text:
„Nach unseren neuesten Untersuchungen muss man annehmen, dass unsere kognitiven
und motorischen Fähigkeiten nur höchstens zu 50 Prozent genetisch determiniert sind.
Das nennen wir…………...
Die anderen 50 Prozent sind also durch ………………... ,…. …………….und
………………….bestimmt.
10. Jänckes Funktion lautet: (Ergänzen Sie die Faktoren)
………. mal ……….. mal………..
11. Wie ist Mozarts starkes Liebesbedürfnis zu erklären?