Keine Worte können mehr
Beschreiben die Schmerzen
Und keine Tränen können mehr
Davon befreien.
Zu leben mit einem gebrochenem Herzen
Ist so schwer, man will nur schreien.
Keine Träume können mehr
Die Wahrheit verdrängen
Und keine Lügen können mehr davon befreien.
Zu leben ohne daran zu hängen
Ist so schwer, man will nur schreien.
Keine Erinnerungen können mehr
Dinge verändern
Und keine Illusionen können mehr
Davon befreien.
Zu leben ohne zu lachen
Ist so schwer, man will nur schreien.
PROLOG
Pünktlich um acht Uhr klingelte der Wecker und riss sie aus ihren Träumen. Ohne lange zu überlegen sprang sie aus dem Bett, streckte sich nach dem Gerät und ließ es verstummen. Jetzt bloß nicht wieder einschlafen. Bleib wach! Sie legte sich zurück ins warme Bett und schlief ein. Eine Zeitlang später schaute sie erschrocken auf die Uhr und bemerkte müde, dass es bereits halb neun war. Gähnend trottete sie ins Bad. Auf dem Weg streifte ihr Blick den Spiegel und blieb einen Moment lang dort hängen. Was sie sah, waren große braune Augen, eine mittelgroße Nase, schmale Augenbrauen und volle Lippen. Sie fand sich zwar nicht besonders hässlich, jedoch hatte sie genügend an ihrem Aussehen auszusetzen. So wie vermutlich jede Frau.
Sie schüttelte ihre Gedanken ab und griff zu ihrer Zahnbürste. Danach kam das Bett an die Reihe, sie zog sich um und ging zum Frühstücken in die Küche. Vor dem offenen Kühlschrank angekommen, stand sie eine Weile da und starrte hinein. Dann musste sie plötzlich anfangen zu lachen. Allmählich wurde ihr kalt und sie drängte sich zu einer Entscheidung. Mit einem bitteren Grinsen verkündete sie in den Raum: "Ich bin unfähig mich für eine Käsesorte zu entschließen."
Zehn Minuten später saß sie auf dem Barhocker am Küchentisch und aß einen Erdbeerjoghurt. Wie sie es immer schaffte Entscheidungen aus dem Weg zu gehen...
-1-
Um neun löffelte Carina immer noch in ihrem leeren Joghurtbecher und ihre Gedanken wanderten in die verschiedensten Richtungen. Von einer Sekunde auf die nächste jedoch, kehrte sie wieder in die Gegenwart zurück und überlegte sich, was sie heute schaffen wollte. Zum einen war da die Wäsche, die sich seit Tagen stapelte, außerdem musste sie noch zur Post und ein paar Dinge einkaufen.
Um halb zehn schlenderte sie in ihren flachen blauen Samtschuhen die Straße entlang. Durch die Schuhe wirkte sie zart und zerbrechlich, der lange helle Rock verbarg ihre schlanken Beine. Dazu trug sie ein indigoblaues Top mit Batikmuster. Das Haar ließ sie offen, wobei ihr einige Strähnen ins Gesicht fielen, der Rest wurde durch zwei blaue Spangen gebändigt. Auf der Nase trug sie eine grüne Sonnenbrille, die vielleicht auf den ersten Blick nicht zu ihrer Person zu passen schien. Mit einem halben Lächeln spazierte sie den Weg entlang, jederzeit bereit es noch zu verstärken, sodass ihr Grübchen zum Vorschein kam. Merkwürdig, die meisten hatten auf jeder Seite ein Grübchen, sie nur auf der linken. Aus ihrer Familie war sie überhaupt die einzige, die eins besaß. Woher sie es wohl hatte? Vielleicht von einer Urgroßmutter, die sie nicht kannte.
Einen Moment lang musste Carina scharf überlegen, weswegen sie überhaupt losgegangen war. Wenn sie erst einmal in Gedanken versunken war, wurde alles andere vergessen. Natürlich, ihr Waschpulver war alle und bei der Gelegenheit wollte sie sich gleich im Kaufhaus ein wenig umsehen. Sie ging also hinein, nahm sich einen Korb und wanderte durch die vielen Regale. An der Kasse hatte sie dann abgesehen vom Waschmittel noch zwei Tafeln Schokolade, eine Packung Gummibärchen, einen großen Erdbeerjoghurt, Brötchen, Shampoo und ein Deo. Nachdem sie bezahlt und alles eingepackt hatte, verließ sie zufrieden den Laden. Carina wollte gerade nach der Schokolade greifen, als ihr bewusst wurde, dass jemand hinter ihr stand und sie beobachtete.
- 2 -
Er konnte sie einfach nicht übersehen, wie sie in ihrer Tüte kramte. Eigentlich hatte er ja genug von Frauen, er wollte sich mindestens für die nächsten hundert Jahre von ihnen fernhalten. Ihm wurde furchtbar wehgetan und er kam nur schwer darüber hinweg. Er schwor, sich niemals mehr vom weiblichen Aussehen blenden zu lassen. Doch in diesem Augenblick vergaß er all seine Vorsätze und schaute diesem hübschen Wesen nach. Er hatte so etwas noch nie zuvor getan, zumindest nicht auf diese Weise. Sie war schlank und wunderschön, wirkte ein wenig zerstreut, aber dennoch stark. Er konnte auf Anhieb nicht sagen, welche Wirkung diese Frau auf ihn hatte. Gleich würde sie weiterlaufen und dann würde er sich Vorwürfe machen, sie nicht angesprochen zu haben. Aber was sollte er denn zu ihr sagen? "Schönes Wetter heute"? Sie würde ihn für verrückt halten. Vor allem, was erhoffte er sich nach einem Gespräch mit ihr? Sie war doch eine völlig Fremde. Ja, mag sein, dass sie eine schöne völlig Fremde war, aber das änderte nicht an der Tatsache, dass sie sich noch nie zuvor begegnet waren. Was sollte er nun tun? In Filmen ging so etwas immer gut. Aber wer findet schon im wahren Leben seine Traumfrau beim Einkaufen?! Sie steht ja nicht da mit ihrer Schokolade und wartet darauf, dass "Mann" auf sie aufmerksam wird. Oder? Dann kam ihm plötzlich der Gedanke, dass es an einem Wunder grenzen musste, wenn eine solche Frau noch nicht vergeben war. Er begann leise zu lachen, weil er doch einige Sekunden lang tatsächlich vorhatte zu ihr hinzugehen. Aber unmöglich.
Sie wusste, dass da jemand stand, sie hatte es im Gefühl. Abgesehen davon war sein Schatten in ihrem Blickwinkel kaum zu übersehen. Ein großer, breiter Schatten, der wohl kaum einer Frau gehören konnte. Sie überlegte, ob ihr Hintern in diesem Rock fett aussah, denn was hätte ihn sonst dazu veranlasst wie angewurzelt stehen zu bleiben und sie anzugucken? Sicher, sie war sich Blicke ihrer männlichen Mitmenschen bewusst, aber keiner blieb ihretwegen derart lange stehen. Einige pfiffen bloß oder ließen ein Kommentar beim Vorbeigehen fallen, aber die meisten schauten nur unauffällig. So etwas Besonderes war sie auch nun wieder nicht.
Aber was war mit diesem Typen hinter ihr, glaubte er denn wirklich, dass sie ihn nicht bemerkt hatte?
Ihm wurde auf einmal klar, dass sie seine Anwesenheit bemerkt haben musste. Immerhin hatte sie aufgehört ihre Schokolade zu essen. Worauf wartete sie?
Worauf warte ich denn? Carina, geh sofort weiter, die Schokolade schmilzt außerdem gleich. Du hast ihn dir ja noch nicht mal angeguckt, vielleicht ist es nur ein alter Mann, der seine Brille sucht. Sie musste grinsen. Nein, dieser Schatten gehörte sicher keinem alten Mann. Also gut. Fest entschlossen ihn nur eines Blickes zu würdigen, drehte sie sich um und schaute ihm in die Augen. Mein Gott, was für Augen er doch hatte!
Ihr war die ganze Situation furchtbar peinlich und sie lächelte verlegen. So, das war mehr als genug.
Er kam zu sich, grüßte sie und hastete rasch los. Carina wusste nicht, was sie davon halten sollte. Einen Moment lang kam es ihr so vor, als würde er den Mund öffnen, um etwas zu sagen. Aber unmöglich. Wahrscheinlich hatte er sie bloß verwechselt. Sie zuckte also mit den Achseln und zog davon in Richtung Post.
- 3 -
"Entschuldigung", hörte sie es hinter sich ertönen. Carina drehte sich um und fand das Gesicht des Fremden von eben vor sich.
"Ja, bitte?"
"Das ist mir ein wenig unangenehm, aber ich werde mir Vorwürfe machen wenn ich jetzt nicht frage. Würden Sie mit mir irgendwo etwas trinken gehen?"
Sie wusste darauf nicht sofort eine Antwort, da sie nicht ahnen konnte, wohin dieses Gespräch führen sollte.
"Es tut mir Leid, aber ich bin im Moment ziemlich beschäftigt", wimmelte sie den Fremden ab.
"Und wie steht es mit einem anderen Tag?"
"Was sollte mich dazu veranlassen auf dieses Angebot einzugehen?"
Er überlegte kurz.
"Vermutlich nichts, da haben Sie schon Recht. Würden Sie es dennoch tun?"
Irgendwas an ihm faszinierte Carina, sodass sie sich selbst sagen hörte: "Also gut, wieso nicht. Aber die nächsten Tage sehen bei mir ganz schön stressig aus."
"Wie wär's mit nächstem Samstag?", hakte er nach.
Sie überschlug die Zeit bis dahin im Kopf und kam zu dem Entschluss, dass vier Tage ausreichen würden, um ihre Umzugskartons auszupacken. Der Rest würde sich dann nach und nach ergeben.
"Na schön. Treffen wir uns dann wieder hier, am besten vor der Post? Um zwei?"
Er nickte.
"In Ordnung. Ich freu mich schon. Ich bin übrigens Oliver. Bis dann."
Mit einem halben Lächeln ließ er die ein wenig verwirrte Carina stehen und verschwand in die Richtung aus der er gekommen war.
- 4 -
Carina war vor ein paar Wochen erst hierher gezogen. Ihre Wohnung gefiel ihr sehr und sie verbrachte ihre gesamte Freizeit damit diese gemütlich einzurichten. In ihrer Heimatstadt hatte sie die Schule abgeschlossen und ein Wirtschaftsstudium begonnen.
Dieses entsprach jedoch nicht ganz ihren Vorstellungen, sodass es nach zwei Jahren abbrach. Sie hatte das Gefühl etwas Neues ausprobieren zu wollen. Also verließ sie mit 25 ihr Elternhaus und nahm eine Stelle als Kindergärtnerin in einer anderen Stadt an. Es war aufregend und zugleich unsicher, denn sie wusste selbst nicht genau, was sie sich davon erhoffte. In einer halben Stunde musste sie aus dem Haus und auf dem Weg zu ihren Kinderchen sein.
Heute war Freitag.
Sie verdrängte die Gedanken an den morgigen Tag und an das Treffen mit dem Fremden. Oliver war sein Name. Vielleicht könnte er dazu beitragen, dass sie sich relativ schnell hier einlebte. Aber sie wollte nicht all ihre Hoffnungen darauf setzen.
Sie verstand trotzdem noch nicht ganz, wieso er sie auf offener Straße angesprochen hatte.
Carina griff zum vorletzten Karton und machte sich ans Auspacken. Dabei wischte sie sich den Schweiß aus der Stirn und ein stolzes Lächeln huschte ihr über die Lippen.
Ein neues Zuhause.
Ein neues Leben.
Sie war bereit dafür.
- 5 -
Oliver saß auf seiner Couch und dachte nach. In zwei Stunden sollte er sie treffen. Einige Vorwürfe machte er sich bereits.
Ob es bloß wegen des Sommerfestes war? Er schüttelte diesen Gedanken entschieden ab.
Nein, so einer war er nicht.
Sie sah wirklich nett aus und es war ja schließlich nichts dabei mit einem hübschen Mädchen irgendwo einen Kaffee trinken zu gehen.
Er legte sich ein paar Gesprächsthemen zurecht, damit sie nicht dasaßen und sich nur anstarrten. Denn so etwas konnte ziemlich peinlich werden.
Nachdem er geduscht und sich umgezogen hatte, verbrachte er die verbliebene Zeit vor dem Fernseher. Er wollte sich entspannen.
Irgendwie gelang es ihm aber nicht so recht.
Sein schlechtes Gewissen plagte ihn immer wieder. Er wagte es nicht den wahren Grund dafür zu erörtern und versuchte sich auf die Quizshow zu konzentrieren.
Er würde sie ja zu nichts zwingen, ging es ihm erneut durch den Kopf. Es war lediglich eine Frage. Wenn sie ablehnte, dann musste er eben damit leben. Gewiss, es blieb nicht mehr genug Zeit, um jemand anderen zu finden. Aber das hatte er sich selbst zuzuschreiben. Immerhin hätte er Vorsorge treffen können und müssen. Oliver arbeitete in der Firma seines Vaters. Diese belieferte Betriebe mit Speisen und organisierte das Essen für große Feiern.
Sein Job war oft anstrengend, denn es war nicht einfach ein so riesiges Unternehmen zu leiten und für alle Probleme stets ein offenes Ohr zu haben. Und weiß Gott, Probleme gab es häufiger genug. Aber es machte auch Spaß die Leute mit gutem Essen zu verwöhnen und sich neue Ideen dafür auszudenken.
Der Sitz der Firma, in der Oliver tätig war, kümmerte sich hauptsächlich um die logistischen Aspekte. Die Großküche, die den ganzen Zauber vollbrachte, lag außerhalb der Stadt. So musste immer zwischen diesen beiden Gremien jongliert werden. Grob umrissen war das Olivers Aufgabe. Bei schwierigen Angelegenheiten stand ihm immer noch sein Vater zur Seite, der mittlerweile im Ruhestand war - und dies auch in vollen Zügen genoss. Als nächstes plante dieser mit seiner Frau eine Reise nach China. Dahin wollte er jedoch nicht mit dem Flugzeug gelangen, sondern erst nach Russland fliegen und von dort aus mit dem Zug direkt in Peking ankommen. Er war schon immer ein abenteuerlustiger Mann gewesen.
Mittlerweile war es zwei Uhr und Oliver stand am verabredeten Ort und wartete. Vielleicht hatte sie ihre Meinung geändert. Er sah ein, dass es eine recht armselige Aktion von ihm war irgendwen auf der Straße anzusprechen. Aber er wollte noch einige Minuten warten bevor er sich eine Meinung dazu bilden würde. Plötzlich war ihm das Sommerfest gar nicht mehr wichtig. Beruhigt über diese Neuigkeit atmete er erleichtert auf. Die letzten Stunden war er nämlich nicht sicher gewesen, wieso er diese Fremde wieder sehen wollte.
Noch ehe er die Möglichkeit hatte diese Überlegungen fortzusetzen, kam Carina um die Ecke gerannt. Sie entschuldigte sich für ihr verspätetes Erscheinen. Während sie in Wirklichkeit länger als ihr lieb war vor dem Spiegel verbracht hatte, versuchte sie ihm weiszumachen, dass sie einen Brief noch zu Ende schreiben musste.
"Wissen Sie, ich wohne hier noch nicht so lange. Da machen sich meine Eltern natürlich Gedanken, wie ich in einer neuen Stadt und ganz auf mich allein gestellt zu Recht komme. Aus diesem Grund nehme ich mir die Zeit ihnen so oft wie möglich alles von hier zu schildern." "Ach so ist das. Na dann muss ich mich ja benehmen, sonst kommt es gleich bei Ihren Eltern an."
In einem Café angekommen nahm der Kellner ihre Bestellung auf und sie hatten Zeit für sich.
"Sie sind also noch nicht lange hier?"
Carina nickte. Gerade als sie zu einer Antwort ansetzen wollte, unterbrach Oliver sie.
"Entschuldigen Sie, aber ich kenne ihren Namen noch nicht."
"Carina."
"Und ich heiße -"
"Oliver, ich weiß", diesmal war sie es, die ihn nicht zu Ende sprechen ließ.
Er lächelte sie freundlich an und sie blitzte keck zurück.
"Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?"
"Ja, sicher. Ich arbeite in einem kleinen Kindergarten, hier ganz in der Nähe."
Das musste heißen, dass sie samstags frei hatte. Heute ging sie ja auch nicht ihrer Tätigkeit nach. Er wollte sie nach dem Sommerfest fragen, ermahnte sich jedoch damit noch ein wenig zu warten.
Nach ungefähr einer Stunde fand er, dass die Zeit gekommen war. Er wollte sie den Satz über die Einrichtung ihrer neuen Wohnung beenden lassen und dann würde er fragen.
Doch der Kellner kam ihm zuvor und fragte, ob sie noch etwas trinken wollten. Oliver stieß einen leisen Seufzer aus.
Nach ungefähr zwei Stunden griff Carina nach ihrer weißen Handtasche und wollte langsam wieder nach Hause. Er hatte immer noch nicht gefragt.
"Also wissen Sie, ich könnte Ihnen einen guten Baumarkt empfehlen, wenn Sie noch andere Farben für ihre Tapeten haben wollen." Auf diese Weise versuchte er sie vom Gehen abzuhalten und in ein neues Gespräch zu verwickeln. Da es um ihre Wohnung ging, gelang es ihm sogar.
Nach ungefähr zwei ein halb Stunden neigte sich auch dieses Thema dem Ende zu.
Oliver gab sich einen Ruck und wollte es darauf ankommen lassen.
"Darf ich Sie etwas fragen?"
"Selbstverständlich."
"Ich habe Ihnen bereits meinen Beruf ein bisschen beschrieben. Nächste Woche veranstaltet unsere Firma das jährliche Sommerfest. Da werden die neusten Kreationen angeboten und die Leute können diese probieren. Unglücklicherweise ist jedoch eine der Verkäuferinnen ausgefallen und ich hatte keine Zeit mich um einen Ersatz zu bemühen. Wenn Sie also nächste Woche nicht allzu viel zu tun hätten und sich etwas dazu verdienen wollen..."
Carina stellte sich riesige Stände mit Köstlichkeiten vor. Dazwischen überall Girlanden, Luftballons und bunte Plakate. Sie in einem geblümten Sommerkleid und mit einem großen Strohhut, worauf das Maskottchen der Firma saß. Außerdem noch spielende Kinder im Sonnenschein, vielleicht sogar Berge von Markeneis und eine kleine Band, die Stimmung machte.
Als sie Olivers gespannten Gesichtsausdruck erblickte, fiel ihr auf, dass er ja auf eine Antwort wartete. Sie lächelte verlegen, da sie zu sehr ihren Gedanken nachgegangen war.
"Ja, ich denke, den Tag kann ich mir frei halten."
"Vielen Dank. Sie wissen gar nicht, wie sehr Sie mir damit helfen. Um noch ein paar Einzelheiten durchzusprechen und Sie in das Wichtigste einzuweisen, würde ich vorschlagen, dass Sie vielleicht eine Stunde früher kommen. Das würde heißen so gegen neun Uhr morgens. Denken Sie, dass Ihnen das möglich wäre?"
- 6 -
Am Feitag konnte Carina vor lauter Aufregung kaum schlafen. Oliver und seine lockere, aber doch warmherzige Art gefielen ihr. Außerdem dachte sie an die Unmengen von leckeren Süßigkeiten und die Festlichkeiten. Irgendwann brachte sie es dann tatsächlich fertig und schlief ein. Dabei träumte sie von einem Berg Bonbons und dass sie selig darin lag. Am nächsten Morgen klingelte sie ihr Wecker aus ihren süßen Träumen. Hastig zog sie sich an und machte sich binnen Rekordzeit fertig. Als sie an der Tür stand, fiel ihr ein, dass sie den Fotoapparat noch hatte mitnehmen wollen. Ihre Eltern sollten auch an diesem Ereignis teilhaben dürfen.
Kurz vor neun stand Carina vor einem unausgesprochen großen Gebäude in der Innenstadt. Die Glasfassade von außen war atemberaubend und die Höhe konnte einem fast Angst machen. Vor dem Eingang erstreckte sich Park mit Wiesen und kleinen Gänseblümchen, Bänken und sogar einem ovalen Teich.
Carina bekam die Mund kaum wieder zu, als Oliver auch schon angelaufen kam. Er bemerkte sofort ihren Gesichtsausdruck und konnte sich in letzter Sekunde gerade zusammenreißen, um nicht aufzulachen. Sie war einfach zu süß.
"Gefällt's dir?"
"Gefallen? Es ist unglaublich. So hast du es mir gar nicht beschrieben! Und das gehört alles dir?"
Nun konnte er sich ein Lachen nicht verkneifen und er drückte sie erst einmal zur Begrüßung. Überrascht von diesem Sinneswandel erinnerte sie sich an ihre bevorstehende Aufgabe.
"Also, was soll ich genau tun?"
Er führte sie zu einigen anderen Personen, die gerade dabei waren die Stände aufzubauen. Zu ihrem Erstaunen sah sie bloß drei davon. Wahrscheinlich würde sich später um noch mehr gekümmert werden, sagte sie sich. Eine freundliche junge Frau gab ihr auf ein Zeichen von Oliver hin eine Art Uniform. Carina begriff zuerst nicht und starrte die ausgestreckten Arme vor ihr an. Oliver hielt ihr die Kleidung hin. Es war ein enger dunkelblauer Blazer und eine gleichfarbige Hose mit einer Bügelfalte. Dazu gab es noch eine kleine weiße Haube und eine ebensolche Schürze mit einem blau bestickten Rand. Außerdem war noch überall der Firmenname und das Logo drauf. Das war's also mit dem geblümten Sommerkleid. Dahin schwindet die Erinnerung an ein witziges Maskottchen auf einem großen Strohhut. Als die fünf Stände fertig waren, verflüchtigte sich auch der letzte Rest von Carinas Vorstellungen. Es war also keine Feier mit Band und Luftballons und spielenden Kindern, sondern lediglich fünf Stände. Aber Carina hielt an ihrem letzten Rest Optimismus fest und hoffte wenigstens auf gutes Essen.
Circa um ein Uhr hatte Carina nur einen dringlichen Wunsch: Schnellstmöglich von hier wegzurennen. Diese verdammte Kleidung war der reinste Backofen und noch dazu stand sie direkt unter der knallenden Sonne.
Welcher Idiot hat sich als Farbe Schwarzblau ausgewählt? Wenn sie diesen Menschen je in die Finger bekam, dann ...
Seit Stunden ließen sich kaum Leute hier blicken, was auch verständlich war. An einem so wunderschönen Tag hatte man zweifelsohne Besseres zu tun.
Carina stand in der Hitze, murmelte schmollend vor sich hin und stibitzte ab und zu etwas vom Stand, wenn keiner hinsah. Nicht dass es ihr besonders geschmeckt hätte, aber aus lauter Frust gönnte sie es sich. Von wegen Berge von Süßigkeiten und Kuchen! Es waren bloß irgendwelche winzigen Schrimp-Häppchen, die sie auszulachen schienen. Und zwar jedes einzelne davon. Die Welt war ungerecht.
Unter "Sommerfest" hatte sie sich wahrlich etwas ganz anderes ausgemalt. Aber es war sicher bald vorbei und immerhin hatte sie Oliver geholfen. Letztes stimmte, aber in ersterem behielt sie leider Unrecht.
Das Fest dauerte noch bis 20 Uhr.
- 7 -
Nachdem sich Carina umgezogen hatte und die Sachen zurückgeben wollte, kam Oliver um sich zu bedanken. Er wollte ihr gleich das Geld, was sie sich verdient hatte, in die Hand drücken.
Sie war derart müde, dass sie sich gegen ein inneres Gefühl, welches ihr verbot seine Bezahlung anzunehmen, nicht großartig wehren konnte.
"Nein, ist schon in Ordnung", vernahm sie erschrocken die eigene Stimme.
"Aber du Arme musst total geschwitzt haben und außerdem war es dein freier Tag."
"Das macht nichts. Ich bin sowieso eine Frostbeule, da konnte ich mich mal in der Sonne richtig aufwärmen. Es hat ja auch Spaß gemacht."
Hatte sie das eben wirklich gesagt? Sie wollte auf der Stelle losheulen.
Also zog sie ohne das Geld nach Hause. Oliver war das nicht recht, aber er konnte sie nicht zwingen es zu nehmen. Aber sie nach Hause fahren, das konnte er wenigstens. Es war ein ganzes Stück und sie hatte kein Auto.
Bevor sie ihn hinter sich bemerkte, verfluchte sie sein süßes Lächeln, was sie jetzt leer ausgehen ließ. Dann spürte sie einen Arm auf ihrer Schulter und hörte seinen leisen Atem. Ohne Worte trug er sie zu seinem Auto und setzte sie hinein.
Oliver bestand darauf sie am nächsten Tag zum Essen einzuladen, um es ein wenig wieder gut zu machen.
- 8 -
In dem nächsten Monat sahen sie sich relativ häufig. Da es Juli und warm war, verbrachten sie sehr viel Zeit draußen. Sie machten lange Spaziergänge, aßen Eis, gingen zusammen Einkaufen oder setzen sich in kleine Cafés. Abends brachte Oliver Carina jedes Mal nach Hause, kam aber nicht noch mit hinein. Auch er hatte es noch nicht so eilig damit sie in seine Wohnung einzuladen, da er nicht riskieren wollte, dass sie es falsch verstehen könnte. Es hätte aber später vieles leichter gemacht, wenn sie wenigstens wüsste, wo er wohnte. Aber das konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, genauso wenig wie sie.
Dafür dass Oliver Carina erst seit einigen Wochen kannte, schien er sie besser als irgendjemand sonst zu verstehen. Er hörte ihr zu, wenn sie sprach und interessierte sich für ihr Leben. Das wiederum faszinierte sie und regte sie zum Erzählen an. Binnen kürzester Zeit wusste er alles über sie. Sie liebte ihre Eltern über alles und hatte eine wunderschöne Kindheit verlebt. Carina wusste, dass sie immer auf ihre Familie zählen konnte. Aber sie wollte sich nicht ein Leben lang auf sie verlassen.
Oliver war zwar um einige Jahre älter als sie, dennoch glaubte er zu verstehen, was in Carina vorgegangen sein musste. Er hielt sie für eine sehr starke und ehrgeizige Frau, die im Leben wusste, was sie wollte und Prioritäten setzte. Genau das bewunderte er an ihr und auch dass sie aus allem das Beste machte. Das war Carinas Taktik im Leben, einfach alles mit Humor tragen, bisher hat es immer funktioniert.
Dass sie über Olivers Leben nicht sonderlich Bescheid wusste, beschäftigte sie in diesem Augenblick noch nicht. Später würde sie es bitter bereuen ihn nicht ausgefragt zu haben. Sie machte sich keine weiteren Gedanken darüber und freute sich nur, dass er Interesse an ihrem Leben fand und ihr beim Reden aufmerksam folgte. Nicht ein einziges Mal unterbrach er sie, schaute gelangweilt drein oder versuchte das Thema in eine andere Richtung zu lenken.
An diesem Abend brachte er sie wie immer bis vor die Haustür, diesmal fragte sie ihn ehrlich: "Möchtest du dir mal meine Wohnung ansehen? Ich habe sogar aufgeräumt."
Oliver schaute sie wie gebannt an, nahm sie in die Arme und flüsterte: "Ich liebe dich."
Carina war sprachlos und gerührt. Sie war ihm so dankbar für diese Worte. Jedoch anstatt das Gleiche zu erwidern, schwieg sie selig an seiner Schulter. Auch das sollte sie noch zu gegebener Zeit gehörig bereuen. Aber nun war sie einfach nur glücklich.
Er drückte sie noch ein letztes Mal, ging auf das Angebot, was sie mittlerweile völlig vergessen hatte, ihre Wohnung zu besichtigen nicht weiter ein und verabschiedete sich. Sie stand noch eine Weile wie angewurzelt vor der Tür, bis sie dann endlich den Schlüssel ins Schloss steckte und ihren durch die Straßenlaterne erhellten Flur betrat.
Lange lag Carina noch im Bett wach und dachte immer wieder über ihr passives Verhalten nach. Hatte sie das Richtige getan? War er enttäuscht? Nein, er wirkte nicht so. Er hat es sicher nicht falsch verstanden, hoffte sie inständig.
In den kommenden zehn Tagen sahen sie sich kaum noch, denn Olli meinte, er hätte viel zu tun. Da sie nicht weiter nachfragen wollte, einigten sie sich darauf, dass er sie anrief, sobald er wieder Zeit hätte. Auf diese Weise hatte sie noch ein wenig Zeit für sich...
- 9 -
Wenn das Glück überall ist
Und die Liebe das Unendliche misst,
Wenn das Leben ein leichtes Spiel ist
Und man fast den Schmerz vermisst,
Dann gehen die Worte einfach zu Ende
Und fest verbunden sind dann die Hände,
Denn man ist vollkommen machtlos
Und das Schicksal ist viel zu groß.
"Ich komme ja schon." Carina griff schnell zu ihrem Bademantel, der an der Innenseite der Badtür hing. Sie wollte sich alleine einen schönen Abend machen und nahm als erstes ein Bad. Danach hatte sie vor ihre anderthalb Liter Walnusseis zu verzehren und damit auch die Enttäuschung. Seit über einer Woche hatte Oliver nicht angerufen. Er hatte sicher viel zu tun, erinnerte sie sich immer und immer wieder.
Nun klingelte das Telefon und sie rannte hin, wobei sie nasse Fußspuren auf den Fliesen im Bad und auf dem Teppich im Schlafzimmer hinterließ.
"Ja?"
"Oh hallo. Ich dachte schon, du wärst nicht da. Machst du gerade Sport oder wieso bist du so aus der Puste?"
Die Männerstimme an der anderen Leitung lachte auf. Es war Olli!
"Nein, ich bin nur gerade aus dem Bad gestürmt. Wie geht es dir?" Ihre Stimme war kühl, während sich ihr Puls beschleunigte.
"Du bist mir böse." Es war keine Frage. Er kannte sie einfach zu gut und seine Offenheit in dieser Hinsicht warf sie jedes Mal völlig aus der Bahn.
"Wieso sollte ich dir böse sein?" Sie würde es nie zugeben, aber auch nicht verneinen, wenn er es sagte. "Weil ich dich das letzte Mal vor elf Tagen angerufen habe."
"Na, du hattest sicher eine Menge zu tun, das sagtest du ja."
Jetzt hatten sie also die Rollen getauscht. Für sie war es eine Art Entschuldigung, immerhin hatte er sie ja nicht vergessen und wusste noch genau, wann sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten.
"Ja, das hatte ich wirklich. Wenn du mir den heutigen Abend versprichst, erzähle ich dir, was ich die ganze Zeit gemacht habe. Also was ist, kann ich dich um acht abholen und zum Essen ausführen?"
Sie dachte an ihr Walnusseis und konnte seinem Angebot wohl kaum widerstehen.
Es war kurz nach sechs. Carina wollte noch etwas aufräumen, vorher ihr Bad beenden und sich dann fertig machen. Wie eine Ewigkeit kam es ihr vor, seit sie das letzte Mal zusammen weg waren und sie freute sich unendlich auf diesen Abend.
Als er um zehn nach acht immer noch nicht da war, dachte sie sich nichts weiter dabei und schaltete den Fernseher ein. Dabei vergaß sie völlig die Zeit und als sie das nächste Mal auf die Uhr sah war es bereits kurz nach halb neun. Normalerweise war er überpünktlich...
Er war vielleicht noch was einkaufen. Oder sein Auto ist nicht angesprungen, so etwas kann doch passieren, oder? Er hatte vielleicht einen wichtigen Anruf bekommen und musste noch etwas erledigen. Oder er steckt im Stau fest. Irgendwo ist doch jetzt sicher Stau, oder? Er hatte vielleicht seine Schlüssel
verloren und musste sie erst eine Weile suchen. Oder sein Essen ist ihm angebrannt, Männern passiert doch so etwas ständig, oder? Aber sie wollten ja zusammen essen und außerdem hätte er anrufen können. Es wird schon nichts passiert sein, sagte sie sich ständig aufs Neue.
Oliver wollte sie irgendwohin einladen, sie überraschen, mit ihr einen schönen Abend verbringen, da kann einfach nichts dazwischen kommen. Oder? Ihr Puls raste und Panik breitete sich blitzartig in ihr aus. Mittlerweile war es kurz nach neun. Nein, er würde sich keine ganze Stunde verspäten, ohne sie davon in Kenntnis zu setzen.
Plötzlich gingen ihr die schlimmsten Dinge durch den Kopf und sie machte sich große Sorgen. Wusste er überhaupt, wie viel er ihr bedeutete? Hatte sie ihm das jemals wirklich gesagt? Hastig verdrängte sie diese Gedanken und redete sich ein, dass er wohl jeden Moment klingeln würde. Dann würden beide über ihre verrückten Ängste lachen und sich einen schönen Abend machen. Ja, genauso würde es kommen. Oder?
Ein lautes Klingeln riss sie aus ihren Träumen. Sie war in ihren Sachen auf der Couch eingeschlafen, das Kleid war zerknittert, das zarte Rosa des Lippenstiftes verwischt. Sie hatte von Olli geträumt. Er hatte sie abgeholt, ihr einen langen Kuss auf ihre Lippen gedrückt und sie in ein feines Lokal ausgeführt. Doch während sie aßen, war er auf einmal verschwunden. Sie schrie und weinte und suchte ihn überall...
Carina war sicher, dass es die Tür gewesen sein musste und taumelte dahin. Als sie diese jedoch öffnete, stand niemand davor. Hatte sie sich das Klingeln nur eingebildet? War es ein Teil ihres Traumes? Sie war völlig durcheinander und ging den Abend noch einmal in ihrem Kopf durch. Sie blickte ängstlich auf die Uhr und ihr Atem stockte, ihr Herz vergaß einen Moment lang zu schlagen. Halb zwölf! Ihre Gedanken waren nur bei Olli, da hörte sie das Klingeln ein weiteres Mal. Es war das Telefon. Sicher würde es Olli sein, der eine Erklärung für alles hatte. Sie glaubte fest daran, auch wenn sich ein Teil von ihr einer Enttäuschung sicher war.
"Hallo?" Carinas Stimme klang heiser und verschlafen. Sie räusperte sich.
Als hätte die Person an der anderen Leitung die Hoffnung aufgegeben und nicht erwartet, dass noch jemand rangehen würde, blieb es einen Moment lang still.
Unsicher begann eine Frauenstimme zu fragen: "Sind Sie Carina?"
"Ja." Normalerweise wurde man am Telefon nicht nur mit dem Vornamen angeredet. Sie verstand nicht.
"Kennen Sie einen Oliver Thorsten?"
"Ja, ich denke schon" Sie musste ihren Olli meinen, da gab es für Carina keinen Zweifel. Wie konnte sie nur so blöd sein und nie nach seinem Nachnamen fragen? Plötzlich fiel ihr auf, dass sie kaum etwas über ihn wusste. Er hatte sie immer erzählen lassen und ihr oft und lange zugehört.
"Ich bin Dr. Seifert. Sagen Sie, wäre es Ihnen möglich sofort ins Französische Krankenhaus zu kommen?"
"Was ist passiert?" Es war ein kaum verständliches Piepsen.
"Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie jetzt vorbeikämen, alles weitere besprechen wir hier."
Es hätte keinen Sinn gehabt weiter nachzufragen, das sah Carina ein und gab nach.
"Gut, ich mache mich auf den Weg."
"Vielen Dank. Bis dann."
"Ja."
Zerstreut fuhr sie sich mit den Fingern durch ihre langen Locken. Mein Olli! Was war nur passiert? Nun konnte sie sich nichts mehr vormachen oder einreden, sie konnte nicht davor weglaufen und die Tränen liefen ihr über das gerötete Gesicht.
- 10 -
"Zum Französischen Krankenhaus", sagte sie zum Taxifahrer. Er sah ihre unordentliche Kleidung, ihr verheultes Gesicht, die verwischte Wimperntusche unter ihren Augen. Es war nicht zu übersehen, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Doch was konnte man sagen, ohne ihr zu nahe zu treten? Sie schwiegen sich eine Weile an. Als es schien, dass die nächste Ampel nicht mehr Grün werden würde und eine unerträgliche Stille im Auto herrschte, ergriff er das Wort: "Kann ich Ihnen irgendwie helfen, junge Frau?"
"Mir helfen? Danke, aber ich glaube, das ist nicht möglich."
"Es scheint als hätten Sie Probleme und machten gerade etwas Schreckliches durch."
Jetzt konnte sie die Tränen erneut nicht mehr zurückhalten und schluchzte leise. Es zerbrach ihm fast das Herz sie so zu sehen. Ja, er kannte sie erst seit einigen Minuten und dennoch fühlte sich der Fahrer in gewisser Hinsicht verantwortlich, er vermochte selbst nicht zu sagen weshalb. Sie wirkte hilflos, so furchtbar unglücklich. Jedoch fand er nicht sie richtigen Worte, er wusste einfach nicht was man in einer solchen Situation sagen sollte.
Vor dem Krankenhaus angekommen stellte Carina voller Pein fest, dass sie ihr Portmonee nicht finden konnte. Es musste ihr aus der Tasche gefallen sein, als sie auf der Couch eingeschlafen war.
Der Taxifahrer bemerkte ihre Situation und winkte lediglich ab mit den Worten: "Machen Sie sich mal keine Sorgen, junge Frau. Diese Fahrt geht aufs Haus." Seine Stimme klang warm und er lächelte sie an.
Unweigerlich fiel Carina das Sommerfest ein und als sie es ablehnte Geld von Oliver zu nehmen. Der Gedanke an ihn zerbrach ihr das Herz.
...
An dieser Stelle brach sie jedes Mal ab und konnte sich die restlichen Einzelheiten und Ereignisse nicht weiter in Erinnerung rufen. Sie griff nach dem feuchten Taschentuch vor ihr auf dem Sofa. Sie wollte nicht wieder daran denken, aber es verfolgte sie und alles schien sie an Olli zu erinnern. Carina kam sich furchtbar hilflos vor. Sie machte sich etliche Vorwürfe und gab sich die Schuld für den Abend. Ihre Freunde wussten nicht, wie das weitergehen sollte. Sie war mit den Gedanken nie bei der Sache, lachte kaum noch und eine Flut von Tränen überkam sie bei jeder Kleinigkeit.
Sie musste aus dem Haus, sie wollte nicht länger dasitzen und sich erinnern. Mit krakeliger Schrift schrieb sie hastig eine Einkaufsliste, da das der beste Vorwand war, um hinauszukommen. Als sie gerade "Waschmittel" notieren wollte, hielt sie inne und erstarrte fast. Es war Samstag. Genau wie damals, als sie Oliver zum ersten Mal traf. Der Stift fiel ihr aus der Hand und diesmal war es anstelle eines leisen Schmollens ein lautes Schluchzen. Am liebsten hätte Carina laut losgeschrien. Es tat alles so weh, das Leben schien ein einziges großes schwarzes Loch zu sein. Nichts machte mehr Freude, alles war sinnlos. Sie aß kaum noch und sah mittlerweile schon ziemlich abgemagert aus.
Sie liebte ihn.
Oliver hatte einen Autounfall und lag im Koma. Man fand am Tag des Geschehens einen kleinen Zettel, auf dem "Carina" stand und darunter ihre Telefonnummer in seiner Hosentasche. Im Krankenhaus wusste keiner, wie sie zu ihm stand, aber da sonst nichts weiter gefunden wurde, rief man sie an. Leider konnte ihnen Carina auch nichts Näheres darüber sagen, wo seine Familie oder gar er selbst wohnte. Sie wusste kaum etwas über ihn. Seinen Nachnamen erfuhr sie erst am Telefon.
Später wurde sein Portmonee mit dem Ausweis darin und ein Briefumschlag in einer Innentasche entdeckt. Nach einigen Recherchen wurde für Carina so Manches klarer. Es stellte sich heraus, dass Oliver nur deshalb so beschäftigt gewesen ist, weil seine Eltern vor kurzem bei einem Zugunglück auf dem Weg nach China ums Leben gekommen waren und er sich um den ganzen Papierkram und natürlich die Beerdigung kümmern musste. Carina tat das so Leid, weil sie ihm damals böse war, dass er sie vernachlässigt hatte. Aber er hatte es ihr gegenüber nicht erwähnt oder sich sonst etwas anmerken lassen.
Oliver arbeitete sehr viel und hatte aus diesem Grund keinen großen Freundeskreis. Mit seinen Geschäftskollegen und Angestellten verstand er sich gut, jedoch stand ihm keiner davon sonderlich nahe. Lediglich mit seinem Nachbarn, verbrachte er ab und zu etwas Zeit.
Da er außer ihr sonst niemanden zu haben schien, besprachen die Ärzte jeden Schritt mit Carina, die sich nach kurzer Zeit schon überfordert fühlte zu entscheiden. Doch allzu viel gab es nicht zu besprechen... Er war Im Koma und man konnte nur abwarten. Keiner wusste, wie lange dieser Zustand noch anhalten würde.
Irgendwann schlich sich sehr langsam der Alltag wieder ein. Oliver schien wie ein verschwommener Traum und manchmal war Carina nicht sicher, ob er tatsächlich existierte. Sie besuchte ihn regelmäßig im Krankenhaus und sprach sogar mit ihm, er aber rührte sich nicht. Die Seifenblase war zerplatzt, alles vorüber.
Die Gedanken zerfließen
In einem gewaltigen Strom;
Ohne das Leben zu genießen
Ist es bereits schon um.
Leben für die Vergangenheit
Ohne ein Vorankommen;
Am Ende ist die Zeit
Und das Schönste genommen.
- 11 -
"Los, gib ihn wieder her", grinste Linda. Carina bekam kaum Luft vor Lachen: "Ich sage dir, ich habe ihn nicht!" Sie wurde gnadenlos von ihrer besten Freundin abgekitzelt, bis sie gestand: "Dein neues Top befindet sich hier irgendwo im Schlafzimmer." Carina blickte Linda amüsiert an. Linda musterte sie mit einem Lächeln.
Carina legte eine künstliche Pause ein und schaute aus dem Fenster. Die Sonne tauchte die kleinen Knospen in ein goldenes Meer voller Strahlen. Es war Frühling und die Bäume und Sträucher draußen bekamen langsam wieder neues Leben an ihren Ästen. Die alten Blätter hatte der eisige Winterwind in alle Richtungen verstreut und lange überdeckte ein bunter Herbstteppich den Weg. Danach war der kalte Winter gekommen, der jedoch etwas Harmonisches und Beruhigendes an sich hatte. Der Frühling brachte neue Hoffnung und Freude mit sich. Carina hatte nicht vor so lange zu schweigen und Lindas Grinsen erblasste langsam. "Was ist los?", fragte sie vorsichtig, da sie mittlerweile mit den Stimmungsschwankungen ihrer Freundin vertraut war. Außerdem wusste sie als Einzige über Oliver Bescheid.
Carina hatte an nichts Bestimmtes gedacht, sie starrte einfach nur aus dem Fenster.
"Also schön. Wo war ich?" Sie zwinkerte Linda zu und wollte wieder an der Stelle anknüpfen, wo sie vorhin aufgehört hatte: "Du musst es suchen!" "Was?! Das ist nicht fair!" Keine von beiden meinte es ernst, beide spotteten und kicherten.
"Und wenn du ihn nicht gefunden hast, dann gehört es mir!"
Linda sprang mit einem Satz zu ihrer Freundin aufs Bett und kitzelte sie erneut. Das Lachen ertönte durch das offene Fenster bis auf die Straße. Nach einigen Minuten hatten sie sich wieder ein wenig beruhigt und Linda durchstöberte alle Fächer und Schränke im Zimmer. Zwischendurch drehte sie sich immer mal wieder um und blickte zu Carina, die mit verschränkten Armen und einem breiten Grinsen auf ihrem durchwühlten Bett saß und voller Spannung wartete.
Sie kannte Linda von ihrer Arbeit als Kindergärtnerin, beide waren Erzieherinnen. Aber in dem letzten Jahr waren sie mehr denn je zusammengewachsen. Carina vertraute ihr viele, auch wenn nicht alle, Gedanken und Ängste an und Linda wusste darauf immer das Richtige zu sagen. Carina hatte sich verändert. Sie war ernster und auch ruhiger geworden.
"Was ist das?", Linda drehte sich nicht um. Sie stand mit dem Rücken zu ihrer Freundin und blickte sie mit großen Augen an. Sie hielt ihr einen gefalteten Zettel hin, der zwischen ihrer Wäsche lag. Carinas Gesichtsausdruck veränderte sich blitzartig und ihr Herz begann wie wild zu pochen. Ihr stand die Panik ins Gesicht geschrieben, dazu Angst und Schmerz. Es war zu lange her, wie aus einem anderen Leben. Hatte es ihn wirklich gegeben? War alles nur ein schöner kurzer Traum? Plötzlich kamen die alten Erinnerungen wieder hoch und Carina konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Wieso musste das passiert sein? Warum nur? Sie hatte ihm nicht einmal ihre Liebe gestanden. Oliver, ich liebe dich, hörst du! Wo bist du jetzt? Ich brauche dich doch. Sie erinnerte sich selbst daran, dass sie ihn nicht lange vor dem Unfall gekannt hatte. Wieso musste er auch so eilig die Straße überqueren ohne gründlich zu gucken? Er wollte schnell zu ihr. Ein lauter Schluchzer ließ Linda eine Gänsehaut bekommen. Sie ging zu Carina und nahm sie in die Arme, sie wusste nicht was das für ein Zettel war. Aber sie spürte, dass ihre Freundin jetzt nicht reden wollte, sondern nur Trost brauchte.
Es war der Brief von Oliver, der damals in seiner Hosentasche gefunden wurde. Im blauen Umschlag, der durch den Unfall ganz zerknittert war, befand sich ein kleiner Zettel:
Wir sind die Engel
mit dem einen Flügel.
Wir gehen in der Welt umher und suchen.
Wir müssen unsren zweiten
Engel finden: Wir haben Sehnsucht,
denn wir wollen fliegen.
Es waren Verse von Heinz Kahlau und oben drüber stand in großen Lettern "Für meine geliebte Carina".
Sie war für kurze Zeit so unbeschreiblich glücklich. Olli! Sie dachte, es wäre verdrängt und sie könne damit umgehen. Er war die ganze Zeit da gewesen, nie hatte sie den Abend vergessen, an dem sie den Anruf erhielt. Nun kam bald wieder der Sommer. Das Leben musste irgendwie weitergehen, sie musste weitermachen. Die Hoffnung ist das Letzte, was übrig bleibt, auch wenn ihr das Leben ohne ihn trostlos erschien.
- 12 -
Olli stand vor ihr. Sie konnte es kaum glauben. Carina rannte zu ihm hin, aber er schien nicht zu reagieren. Sie rief seinen Namen, immer und immer wieder. Olli, Olli! Er lächelte sie nur kurz an und war dann plötzlich verschwunden. Sie brach zusammen und heulte.
Pünktlich um acht klingelte der Wecker und riss sie aus ihren Träumen. Ohne lange zu überlegen sprang sie aus dem Bett, streckte sich nach dem Gerät und ließ es verstummen. Jetzt bloß nicht wieder einschlafen. Bleib wach!
Dann fiel ihr der Traum wieder ein und sie dachte einen Moment drüber nach. Komisch, gerade in den letzten Tagen hatte sie so viel zu tun, dass sie kaum an Olli dachte. Wieso träumte sie von ihm? Wollte er nicht aus ihrem Leben verdrängt werden? Sie überlegte weiter. Er war nur einen ganz kurzen Augenblick da und gerade als sie zu ihm hinrannte, verschwand er mit einem Lächeln. Hieß das, er verabschiedete sich aus ihrem Leben? Würde das, das Letzte sein, was sie von ihm hatte? War das ein Zeichen von ihm, dass sie ihn nun endgültig vergessen und sich auf ihr Leben konzentrieren sollte? Oder wollte er nicht, dass sie ihn vergaß?
Ihre Besuche im Krankenhaus wurden immer seltener, bis sie schließlich ganz ausblieben.
Carina wollte nicht weiter darüber nachdenken, sie hatte versprochen, heute Linda beim Umzug zu helfen. Sie fuhr sich durchs Haar, seufzte und stand mit einem Ruck auf. Als sie im Bad war, klingelte das Telefon, aber sie schaffte es nicht mehr rechtzeitig hinzulaufen.
Nachdem sie sich angezogen hatte, vergewisserte sie sich nichts vergessen zu haben. Handtasche, Schlüssel, Portmonee und ihre alten Umzugskartons. Seit dem Nachmittag, als Linda den Brief fand, trug Carina das Gedicht in ihrem Portmonee. Sie wusste selbst nicht genau weshalb, aber es gab ihr ein Gefühl der Sicherheit noch einen Teil von Oliver zu haben und auch ein Teil von ihm zu sein. Sie stellte die Kisten schon vor die Haustür, um noch kurz etwas in der Küche zu trinken. Es klopfte an der Tür und sie ging hin.
Klare blaue Augen, die endlos in die Tiefe zu gehen schienen ruhten einen Moment auf ihr. Sie glichen in ihrer Schönheit dem Meer, das war der einzig passende Vergleich, dachte Carina. Als wäre darin gerade die Sonne aufgegangen und würde das unendliche Schimmern zu Tage bringen.
Er trug einen blauen Pullover, darunter war der Kragen von seinem weißen Hemd zu sehen. Eine dünne Strähne seines dunkelblonden Haares hing ihm locker über die Stirn.
"Carina", flüsterte er endlich nach einer scheinbaren Ewigkeit.
Ungläubig formte sie seinen Namen mit den Lippen. Oliver.
Im nächsten Moment lagen sie sich weinend in den Armen...
Die schönsten Worte höre ich nicht,
Sie haben keine Bedeutung für mich.
Nur deine Worte klingen wie Engelslieder
Und ich höre sie wieder und wieder.
Das schönste Lächeln sehe ich nicht,
es hat keine Bedeutung für mich.
Nur dein Lächeln ist wunderschön
Und ich kann es immer vor mir sehen.
- 13 -
"Du hast mir so gefehlt." Carina schaute Oliver ernst an und bekam wieder feuchte Augen. Er streckte die Hand nach ihr aus und strich ihr über die Wange.
"Du mir erst", flüsterte er ihr ins Ohr. Dann beugte er sich vor und küsste sie lange und leidenschaftlich. Sie schloss die Augen und hatte das Gefühl vor Glück zerplatzen zu müssen. Carina schlang die Arme fest um seinen Hals, als hätte sie Angst, er könnte auf einmal wieder weg sein. Er fuhr ihr sanft durch ihre langen Locken.
"Lass mich nie mehr allein, bitte", ihre Stimme wurde schwach und von seinen Küssen erstickt.
Sie saßen bei Carina auf der Couch und hatten lange geredet. Olli war vor einigen Monaten aus dem Koma aufgewacht, konnte sich aber kaum noch an Dinge erinnern. Er wusste nur, dass da noch irgendetwas in seinem Hinterkopf war. Ein Brief mit einem Gedicht. Eine Verabredung zum Essen. Wundervolle braune Augen. Langes lockiges Haar. Eine sanfte und ruhige Stimme, stets begleitet von einem kehligen Lachen. Nur konnte er mit diesen einzelnen Bruchstücken an Bildern aus der Vergangenheit nicht viel anfangen. Es war wie ein Traum, wie eine andere Welt. In einer anderen Zeit. Er dachte tagelang darüber nach und versuchte die Puzzelstücke zu einem Ganzen zusammenzufügen. Aber es wollte ihm über all die Zeit einfach nicht gelingen. Er war oft allein gewesen, um dieses alte Rätsel lösen zu können.
Im Krankenhaus wurde ihm gesagt, dass eine junge Frau regelmäßig da gewesen war. Sie brachte jedes Mal frische Blumen mit und saß lange an seinem Bett. Nach und nach fiel ihm alles wieder ein und er zerbrach sich den Kopf, um sich an ihre Adresse zu erinnern.
Jetzt saß er vor ihr und hielt sie in seinen Armen. Doch Carina war es nicht möglich ohne weiteres dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten. Natürlich freute sie sich ihn zu sehen, keine Frage. Aber auf der anderen Seite wollte sie ein wenig Zeit zum Nachdenken. Es warf sie völlig aus der Bahn. Auch Oliver hatte nicht das Bedürfnis etwas zu sagen, da sich die Bruchstücke in seinem Kopf endlich zusammengefunden hatten und er das erst noch bewerten musste.
So kam es, dass sie sich lange musterten und keiner von beiden das Schweigen brach. Je länger es andauerte, desto schwieriger wurde es einen Laut von sich zu geben.
- 14 -
Carina wollte ein wenig Abstand gewinnen und fuhr übers Wochenende zu ihren Eltern. Diese waren über den plötzlichen Besuch ihrer Tochter überrascht und versuchten den Grund dafür herauszubekommen. Carina hatte aber keine Lust ihnen auch nur das Geringste zu erzählen, sie spielte einfach die Unschuldige und wich allen Fragen gekonnt - und mit einem Engelsgesicht - aus. Also gaben es die Eltern irgendwann auf und hofften, dass sie von sich aus reden würde. "Hilfst du mir beim Abendessen?", rief Susanna die Treppe hoch.
"Ja Mama, ich komme sofort." Carina saß in ihrem Zimmer, betrachtete ihre alten zurückgebliebenen Gegenstände, dachte an vergangene Zeiten. Dabei hatte sie wohl die Zeit ganz vergessen, denn es war schon nach sieben. In weniger als einer Stunde würde ihr Besuch eintreffen: Bernhard. Seine Eltern waren Freunde der Familie und er und Carina hatten als Kinder oft zusammen gespielt. Mit acht bildete sie sich sogar ein in ihn verliebt zu sein. Bei diesem Gedanken schmunzelte sie, was wusste sie denn damals schon von der Liebe? Alle hatten irgendeinen Schwarm. Wie auch immer, damals hatte sie ihm sogar ihre Liebe auf eine umständliche Weise gebeichtet. Nur reagierte er nicht wie sie es sich erhofft hatte, also war sie todtraurig und hatte wochenlang Liebeskummer. In dieser Zeit und all die Jahre später, in denen sie sich aus den Augen verloren, redete sich Carina immer wieder ein, er könne sie nicht leiden und sie war auch fest davon überzeugt. Wieso hatte er sich denn sonst nie gemeldet und ihr schien fast als sei er ihr ausgewichen. All das war inzwischen viele Jahre her und zu dieser Zeit waren beide noch unerfahrene Kinder gewesen.
Carina ging runter in die Küche zu ihrer Mutter. Susanna empfing sie mit einem herzlichen Lächeln. Was Carina nicht wusste war, dass Bernard von ihrem Besuch erfahren hatte und sich deshalb zum Essen eingeladen hatte.
- 15 -
"Wieso hast du dich nicht ein einziges Mal gemeldet?", begann Bernhard vorsichtig, als er zusammen mit Carina einen Spaziergang machte. Der Mond leuchtete hell, es war jedoch kein Vollmond. Beide hatten zu viel gegessen, er wollte an die frische Luft. Sie spürte aber gleich, dass das nicht der einzige Grund für den Spaziergang war. Er wollte allein mit ihr sprechen.
"Wann?" Sie lächelte ihn an und genoss die frische Abendbrise.
"Die gesamten letzten Jahre, all die Zeit, meine ich." Sie war ihm einige Schritte voraus gelaufen, da sie ihren Gang ohne es zu merken beschleunigt hatte. Plötzlich hielt sie inne, machte auf dem Absatz kehrt und starrte ihn ungläubig an. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Was bildete dieser Mensch sich eigentlich ein? Sie wusste, dass es ab jetzt nicht länger ein gemütlicher Abend sein würde. Es kostete sie jedes Mal sehr viel Kraft wütend zu werden, sich aufzuregen und darum vermied sie es oft. Aber nun führte kein Weg daran vorbei.
"Warum sollte ich mich bei dir melden?", fragte sie ihn kalt.
Er wurde ein wenig verlegen, sprach es dann aber doch aus: "Weil ich es schade fand und finde, dass wir uns aus den Augen verloren haben. Außerdem hätte ich dich gerne gesehen."
Sie ließ sich nicht beirren und fragte wieder: "Warum?"
"Weil wir eine schöne Kindheit hatten und weil du mir damals schon eine Menge bedeutet hast."
Für einen langen Augenblick schaute er ihr tief in die Augen und wirkte verletzlich. Natürlich wollte ihm Carina nicht wehtun, aber er hatte ihr sehr wehgetan. Gewiss, sie war ein Kind gewesen.
Dann kein Wort mehr von ihm, kein Anruf, nichts und nun das. Bernhard war ihr eigentlich nie ganz aus dem Kopf gegangen. Noch als Teenager schmerzte sie der Gedanke an diese Freundschaft. Als sie Oliver kennen lernte, änderte sich das schnell, denn sie hatte nur noch Augen für ihn. Die Beziehung zu ihm wollte sie unter keinen Umständen gefährden und ihn noch ein zweites Mal zu verlieren würde sie einfach nicht überstehen. Ihre Wut war verflogen. Sie stand auf dem schmalen Weg zwischen den Bäumen und konnte den Blick nicht von Bernhard wenden. Dieser verstand ihre Reaktion nicht recht und bezog sie auf sich. Jedoch merkte er, dass sie noch einen Moment Zeit brauchte und bald von sich aus die Sprache wieder finden würde. Er behielt Recht damit.
"Ich verstehe dich nicht, weißt du das? Als Kind erkläre ich dir meine Gefühle für dich und du gehst nicht darauf ein. Dafür kann dir auch keiner einen Vorwurf machen, du warst nicht älter als zehn. Danach sahen wir uns zu den Feiertagen, wenn sich unsere Familien trafen. Niemals wolltest du mich allein sehen, nie mit mir reden. Was sollte ich denn da wohl annehmen? Natürlich dass du kein Interesse an mir hattest. Also zog ich mich zurück, auch wenn es sehr wehtat.
Das letzte Weihnachtsfest. Ich konnte keine zwei Stunden ertragen in denen du mich wie Luft behandeltest und dir nichts anmerken ließest, wenn denn deinerseits Gefühle im Spiel gewesen sein sollten.
Ich ging danach in mein Zimmer und heulte den ganzen Abend. Weißt du wie sich das anfühlt? Dermaßen verletzt zu werden! Das ging solange, bis ich von Zuhause wegzog.
Danach sahen wir uns eigentlich kaum noch. Es riss mir das Herz aus dem Leib, aber was bitte sollte oder konnte ich denn tun? Ich fand mich damit ab, ich lebte weiter.
Und nun plötzlich und aus heiterem Himmel machst du Jahre später einen Spaziergang mit mir und eröffnest mir, dass ich dir wichtig sei und wieso ich mich nicht gemeldet hätte. Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll, ja ich bin sprachlos! Denn ich verstehe einfach nicht - ich werde es wohl auch nie verstehen - was bei euch Männern im Kopf vorgeht. Ich bin nicht einmal sicher, ob ihr diesen überhaupt gebraucht! Du wusstest genau, dass ich dich liebte. Gut, die ersten Jahre will ich mal nicht zählen, da waren wir zu jung. Aber mit 24, bevor ich weggezogen bin, war ich doch wohl alt genug, oder etwa nicht? Worauf hast du gewartet? Dass ich auf Knien ankomme und dich anflehe mit mir zu reden."
Es herrschte eine schier endlose Pause, in der es keiner von beiden zu atmen wagte. Sie stand den Tränen nahe und ihre Gefühle fuhren mit ihr Achterbahn. Dagegen blieb er äußerlich relativ ruhig und gelassen. In seinem Inneren jedoch baute sich große Wut auf. Er machte sich Vorwürfe nicht intensiv genug drüber nachgedacht zu haben und sie gehen gelassen zu haben. Wie konnte er nur?
Mittlerweile schien sie weit weg, sodass er es nicht über sich brachte sie zu berühren. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen und ihr Gesicht mit tausend Küssen bedeckt, solange bis sie seine Entschuldigung lächelnd angenommen hätte. Stattdessen stand er vor ihr, die Hände in den Hosentaschen und den Blick auf den Boden gerichtet. Er kam sich vor wie ein kleiner Junge, der etwas ausgefressen hatte und nun die Strafe dafür kassierte. In gewisser Weise stimmte das auch. Er überwand sich und machte einen Schritt auf sie zu, in jeder Hinsicht betrachtet.
"Worte sind so leer, aber es tut mir unendlich Leid. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich dir mit meinem Verhalten derart wehgetan hatte. Ich hätte mir nicht einmal träumen lassen, dass du mich..." Er holte Luft, schluckte seine Zweifel hinunter und beendete den Satz: "Dass du mich liebtest".
Er wollte zu gerne wissen, wie es jetzt mit ihren Gefühlen für ihn stand. Hatte er das Recht sie das zu fragen?
Noch ehe er seine Gedanken geordnet hatte, öffnete sie den Mund: "Hör zu, Bernhard, es ist lange her und was vorbei ist lässt sich nicht mehr ändern. Wir hatten unsere Chance und wir haben sie nicht wahrgenommen. Dabei gebe ich nicht nur dir die Schuld dafür, ich hätte doch auch etwas sagen können...
Lass uns nach Hause gehen, Mama wartet sicher schon."
Er schüttelte bloß langsam den Kopf. Mit dieser Geste machte er deutlich, dass er sich mit ihrer Antwort nicht zufrieden geben würde. Carina ahnte etwas in dieser Richtung, wartete jedoch auf seine Reaktion. Diese folgte auch sogleich:"Carina, nein. Ich habe Fehler gemacht und nun muss ich dafür gerade stehen. Dass es mir Leid tut, brauche ich ja nicht zu sagen, es lässt sich nicht mehr ändern. Die Zukunft aber schon. Ich habe lange genug gewartet, diesmal bin ich klüger. Lass es uns versuchen, bitte."
Er nahm ihre Hand und führte sie zu seinem Mund. Sie spürte darauf seinen Atem, der schwer und langsam ging. Ihr Puls raste, das fühlte er. Sie konnte nichts sagen, konnte nicht denken. Plötzlich wurde ihr Oliver wieder bewusst, den sie die ganze Zeit über vergessen hatte. Nach einiger Zeit, als sie halbwegs sicher sein konnte, dass ihre Stimme dem standhalten würde, entgegnete sie fest: "Ich will nach Hause."
Er merkte, dass sie nicht mehr dazu sagen würde. Ohne ein Wort darauf zu erwidern, behielt Bernhard ihre Hand in seiner und ging mit ihr zurück zum Haus.
- 16 -
Endlich wieder in ihrer Wohnung angekommen warf sich Carina mit einem Seufzer aufs Bett. Was für ein turbulentes Wochenende das nur gewesen war! Nun brauchte sie erst einmal ein wenig Ruhe zum Nachdenken.
Noch bevor sie an das Auspacken der Taschen denken konnte, läutete es an der Tür. Sie lief widerstrebend hin und öffnete. Es war Oliver. Ohne etwas zu sagen nahm er sie in seine Arme und küsste sie. Sie wünschte sich, dass dieser Augenblick niemals vorüber gehen würde. Dann wich er einen Schritt zurück und betrachtete sie.
"Du siehst müde aus. Hattest du eine schöne Fahrt?" Sie nickte bloß und starrte ihn an. Klar freute sie sich, dass er da war, aber andererseits wollte sie noch eine Weile nachdenken. Über ihn und Bernhard. Im Moment wusste sie noch nicht so recht, was sie eigentlich wollte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie nicht drum herum kommen würde mit ihm darüber zu reden. Aber das musste nicht gleich geschehen.
"Was hast du denn? Ist irgendwas passiert?", fragte Oliver besorgt.
"Nein. Gar nichts. Du, ich muss noch auspacken und ich wollte duschen und aufräumen. Kann ich dich nachher anrufen?"
"Bist du sicher? Wenn du über irgendwas reden willst..."
"Ja, ich weiß, danke. Bis später."
Nun blieb ihm schließlich nichts anderes übrig als zur Tür zu gehen. Carina brachte ihn hin, lächelte kurz und ging dann zurück ins Schlafzimmer.
Viel zu viel schwirrte ihr im Kopf herum, als dass sie hätte eine Entscheidung fällen oder sich über irgendwas im Klaren werden können. Mit Bernhard hatte sie vor ihrer Abreise kaum noch gesprochen. Aber mit ihm war sie ja längst fertig, erinnerte sie sich selbst. Es darf nicht sein, dass er ihre jetzige Beziehung kaputt machte. Und doch musste sie immerzu an diesen Abend denken. Wie er ihre Hand hielt und sie ansah. Sein verlegendes Lächeln.
Und Oliver? Über ihn wusste sie nicht sonderlich viel. Er war für sie da, er hörte ihr zu, ließ all ihre Launen über sich ergehen und war niemals böse. Aber was war sie für ihn? Darauf fand Carina keine Antwort. Sie hatte nie um ihn bangen müssen, außer natürlich als er im Krankenhaus war, aber da lag es auch nicht in seiner Hand. Es ist, als wäre er seitdem sie sich kennen gelernt hatten nicht von ihrer Seite gewichen. Sollte sie nicht ein Gefühl von Sicherheit verspüren? Ungeduldig wie immer griff sie zum Telefon und wählte seine Nummer. Bernhards.
Sie wollte den Abend noch mal mit ihm auswerten, um sich dann ganz auf Oliver zu konzentrieren. Aber keiner ging ans Telefon.
Stattdessen läutete es an der Tür.
- 17 -
Oliver stand da. Hatte sie ihn nicht vor zehn Minuten gebeten sie allein zu lassen?
"Carina, ich konnte nicht gehen und deinen Zustand ignorieren. Auch wenn du nicht mit mir reden willst, dich bedrückt etwas und ich kann nicht tatenlos zusehen. Ich will doch nur..."
Sie sah ein, dass sie ihn nicht einfach so abschieben konnte. Doch um zu reden war sie nicht bereit. Sie musste unbedingt mit Bernhard sprechen.
Da er nicht ans Telefon ging, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als erneut hinzufahren. Bloß wie sollte sie das Oliver erklären?
Sie wollte gerade zu einem Versuch ansetzen, als er etwas in ihrer Tasche erblickte. Es war ein kleines Plüschherz, auf dem "Ich liebe dich" gedruckt war und worunter Carina vor über 10 Jahren "für Bernhard" in Kinderschrift gekrakelt hatte. Sie stopfte es ihm in den Briefkasten, da sie sich nicht traute es ihrem Schwarm persönlich auszuhändigen. Bevor sie zurückgefahren war, hatte Bernhard es ihr unauffällig in die Tasche gelegt, denn sie fand es erst in der Bahn. Wahrscheinlich war es ein Versuch seinerseits sie umzustimmen. Bis zu diesem Augenblick war es ihr nicht einmal aufgefallen. Einer Veränderung war das Herz unterlaufen, denn nun hatte jemand noch "Ich liebe dich auch" drunter geschrieben.
Oliver, der schon einmal betrogen worden war und der seine Enttäuschung nicht hinunterschlucken konnte, platze vor Wut. Er dachte zu verstehen, wieso sie ihn aus der Wohnung haben wollte und wieso sie nicht mit ihm reden wollte.
"Oliver, ich hatte keine Ahnung, dass das in meiner Tasche ist. Ich -"
Sie wurde unterbrochen durch einen lauten Türknall, der nun zwischen ihr und Oliver hallte.
- 18 -
Wütend nahm Carina Jacke und Tasche. Sie hatte genug von alldem. Sie wollte zu Bernhard.
Sie setzte sich in den Zug und fuhr einige Stunden. Angekommen stellte sie mit Schrecken fest, dass sie seine Adresse gar nicht kannte. Sie war mit den Gedanken ganz woanders gewesen und hatte ihre Ankunft gar nicht genau durchgeplant.
Unter einem scheinheiligen Vorwand rief sie Susanna an und ließ sich von ihr die Straße und die Hausnummer nennen. Dabei weigerte sich Carina jegliche Fragen zu beantworten und würgte das Gespräch mit ihrer Mutter schnellstmöglich ab.
Sie stand vor seiner Tür. Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ihre Hände zitterten. Und sie hatte weiche Knie. Immer wieder streckte sie den Zeigefinger nach der Klingel aus und brach die Bewegung in letzter Sekunde wieder ab. Wovor hatte sie nur solche Angst? Sie wollte doch nur mit ihm reden.
Eine Welle von Mut überkam Carina und noch ehe sie den Grund dafür herausfinden wollte, drückte sie auf den Klingelknopf. Sofort hörte sie Schritte und wenige Augenblicke später stand schon Justus, Bernhards Bruder, mit dem er zusammenwohnte, vor der Tür. Er war sichtlich überrascht.
"Carina? Bist du es wirklich? Was machst du denn hier? Wie geht es dir?"
Justus drückte sie fest, so wie sie es früher immer von ihm kannte. Sie hatte ihn wirklich gern.
"Hallo Justus. Ja, ich bin es. Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen. Du hast mir gefehlt."
"Du mir auch, Kleine. Komm doch rein."
Justus war um einiges älter und für Carina schon immer so etwas wie ein großer Bruder gewesen, an den sie sich jederzeit wenden konnte.
- 19-
"Die folgende Szene verlief ein wenig merkwürdig und wenn ich selbst nicht dabei gewesen wäre, so würde ich sie vermutlich kaum glauben.
Bernhard war in seinem Zimmer, welches sich links von der Eingangstür befand. Er trug blaue Shorts und ein weißes Unterhemd. Ein paar Bartstoppeln waren bei genauerem Hinsehen in seinem Gesicht erkennbar. Er hatte große braune Augen und ein sehr schmales, markantes Gesicht. Seine hohen Wangenknochen verliehen ihm einen äußerst sympathischen Ausdruck, wenn er lächelte.
Aber jetzt lächelte er nicht. Er sah mich nur an.
Keine Gefühlsregung konnte ich bei ihm erkennen und überrascht schien er auch nicht. Er wirkte mir gegenüber fast gleichgültig. Das war ein Stich mitten ins Herz. Was war nur los mit ihm?
Er hatte es sich wohl anders überlegt.
Ich grüßte ihn und lächelte verlegen. Er erwiderte meinen Gruß.
Der Taxifahrer klingelte und wollte wissen, ob er noch warten sollte. Den hatte ich schon ganz vergessen. Ich sagte also, ich wollte nur mal kurz vorbeischauen und verabschiedete mich wieder. Diesmal sah er mich nicht an. Es schien, als würde er durch mich hindurch blicken. Einerseits wirkte er traurig und verletzt und auf der anderen Seite ging von ihm eine ungewohnte Kälte aus, die ich so noch nicht von ihm kannte."
Dieser Eintrag erschien am Abend in Carinas Tagebuch.
Während der Fahrt nach Hause dachte sie über ihre momentane Situation nach. Sie wollte zu Linda, ihrer besten Freundin, und sich bei ihr ausweinen.
Sie wurde das Gefühl nicht los alles verloren zu haben. Oliver hatte sie enttäuscht und nun hatte Bernhard das Gleiche mit ihr getan. Vermutlich war das ihre Strafe. Ihr fiel das Beispiel von dem Esel ein, der sich zwischen zwei Heuhaufen ständig hin- und herlief, weil er sich nicht entscheiden konnte, bis er schließlich verhungerte. Ging es ihr ähnlich mit den zwei Männern, die ihr im Laufe ihres Lebens ans Herz gewachsen waren?
Untergehende Sonnenstrahlen
Und am Himmel bunte Farben,
Dazu innerliche Qualen
Und zurückgebliebene Narben.
Überall heller Sonnenschein,
Er durchflutet jeden Platz,
Dazu schmerzhaftes Alleinsein,
welch ein trauriger Gegensatz.
Eine weit entfernte Erinnerung
Und die Sonne leuchtet oben,
Dazu zerrissene Hoffnung,
Denn die Liebe ist gestorben.
- 20 -
In ihrer Heimatstadt angekommen nahm sich Carina ein Taxi nach Hause. Der Fahrer musterte sie eine ganze Weile während ihr die ersten Tränen kamen. Denn ihr wurde jetzt erst bewusst, was sie eigentlich getan hatte. Sie war unfair Oliver gegenüber und naiv Bernhard gegenüber gewesen.
Mit einem leisen Seufzer putzte sie sich die Nase und starrte wie gebannt aus dem Fenster.
"Geht es Ihnen gut?" Diese Worte brachen durch eine Mauer von Schmerz und Trauer zu ihr.
Eine Antwort bekam Carina nicht über die Lippen, sie guckte nur auf zum Taxifahrer, welcher sich an einer roten Ampel zu ihr umdrehte. Plötzlich erschrak sie, da ihr das Gesicht nicht fremd erschien. Wo hatte sie diesen Mann bloß schon einmal gesehen? Hastig versuchte sie ihre wirren Gedanken zu sortieren und sich in diesem Moment nur darauf zu konzentrieren. Natürlich! Sie hatte ihn beim Sommerfest getroffen, kurz nachdem sie Oliver kennen gelernt hatte. Er hatte ein paar von den Häppchen probiert, als Carina die verhinderte Verkäuferin ersetzte. Danach stellte sich heraus, dass er Olivers Nachbar und halbwegs guter Bekannter war.
Er schien zu merken, dass sie sich seiner erinnerte und lächelte. Carina brachte ebenfalls ein kleines Lächeln über ihre müden Lippen.
Die Welt war eben doch klein.
Da er nicht dumm war und Oliver heute bereits aufgelöst wegen Carina war - so viel konnte er aus ihm bei ihrem kurzen Treffen im Treppenhaus rauskriegen - brachte er sie schnurstracks zu ihm.
Carina realisierte überhaupt nicht, dass ihr Fahrer in die falsche Straße abbog und ihre Wohnung hinter ihnen ließ.
Sie machte sich wahnsinnige Vorwürfe was Oliver betraf.
Hatte sie durch einen dummen Fehler alles aufs Spiel gesetzt und verloren?
Ähnliche Gedanken gingen in diesem Moment auch Oliver durch den Kopf...
Plötzlich sah sie sich vor seiner Haustür und erschrak. Der Fahrer stieg aus, klingelte bei seinem Nachbarn und wartete geduldig bis dieser durch die Sprechanlage antwortete.
Wenige Minuten später stand auch schon Oliver unten und blickte verwundert ins Auto.
Es war leer.
- 21 -
"Guten Morgen", begrüßte Carina am Montag ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen.
Linda kam sofort auf sie zu und wolle die Geschehnisse der letzten Tage erfahren. Gestern Vormittag hatte sie ihre Freundin angerufen, um etwas mit ihr zu unternehmen. Da Carina allerdings völlig aufgelöst am Telefon irgendetwas von Oliver und Bernhard stammelte, wusste Linda, dass es Probleme gab. Jedoch verstand sie nicht besonders viel aus den stockenden Worten ihrer besten Freundin. Diese wollte auch partout keine Gesellschaft, sodass Linda wohl oder übel abwarten musste.
Nun brannte sie jedoch darauf alles zu erfahren.
Carina hatte sich dem Anschein nach wieder beruhigt. Nachdem sie ihr die Details erzählte, wollte Linda wissen, was sie jetzt zu tun gedenke. Sie setzten sich auf eine kleine Kinderbank, die mit bunten Gesichtern von den Kleinen bemalt worden war.
"Neulich vor seinem Haus konnte ich ihn einfach nicht sehen. Ich musste vorher noch mit mir ins Reine kommen und mir über meine Gefühle ihm gegenüber klar werden. Ich redete mir ein, dass der einzige Grund zu Bernhard zu fahren der war, alles zwischen uns endgültig zu klären und abzuschließen. Während der Rückfahrt begann ich zu zweifeln, ob es mir nur darum ging. Was wäre geschehen, wenn er mir mit offenen Armen empfangen hätte und das nachdem Oliver vor meiner Abreise so wütend auf mich war?"
"Ich verstehe, worauf du hinaus willst. Es ist nicht leicht ehrlich zu sich selbst zu sein. Denn oft will man es nicht wahrhaben. Hast du denn eine Antwort auf deine Frage gefunden.?"
"Ich kann es nicht hundertprozentig sagen, da es bloß Spekulationen sind. Aber ich denke nicht, dass ich Oliver für Bernhard verlassen hatte. Dazu hat Bernhard mich zu sehr verletzt. Oliver schien aber zu glauben, dass ich ihn womöglich betrogen hätte. Ich verstehe zwar nicht, wieso er derart überreagierte, aber es musste wohl für ihn danach ausgesehen haben.
Es spielt jetzt ohnehin keine Rolle mehr, vielleicht hat es nicht sollen sein."
"Aber Carina, du darfst ihn doch nicht einfach gehen lassen. Nicht auf diese Weise. Erkläre ihm die ganze Situation und gib ihm die Möglichkeit darüber nachzudenken und sein eigenes Urteil zu fällen."
"Ja, du hast sicher Recht. Ich werde nicht drum herum kommen noch einmal mit ihm zu reden."
Nachdem alle Kinder um 17 Uhr von ihren Eltern abgeholt wurden, bemerkte Linda Carinas Nervosität.
"Nun geh schon zu ihm. Ich räume hier den Rest für dich auf."
Ohne Worte - nur mit einem dankbaren Lächeln auf den Lippen - umarmte Carina ihre Freundin. Dann rannte sie los, holte ihre Tasche und machte sich auf den Weg.
Insgeheim hoffte sie, dass sich alles wieder einrenken würde und freute sich darauf Oliver zu sehen.
EPILOG
"Herr Thorsten ist heute Morgen nicht im Büro erschienen. Er hat auch keine Nachricht hinterlassen", antwortete eine blonde junge Sekretärin an der Rezeption auf die Frage, wo Oliver sei.
"Vielen Dank", brachte Carina hervor und verließ wieder das Gebäude.
Das erste was ihr in den Sinn kam war, dass sie kein weiteres Jahr ohne Oliver ertragen würde, wenn ihm etwas zugestoßen war.
Enttäuscht über den Tag machte Carina unterwegs Halt, um sich mit Walnusseis zu trösten. Mittlerweile goss es in Strömen und der Bus hatte auch noch Verspätung. Das Eis in ihren Händen begann zu schmelzen.
Endlich zu Hause angekommen, kramte sie nach ihren Hausschlüsseln. Durch die dunklen Wolken und die großen herab fallenden Tropfen war kaum etwas im Umfeld zu erkennen.
Auf den Stufen vor ihrer Tür saß eine zusammengekauerte und durchnässte Gestalt. Ohne lange zu zögern identifizierte Carina diese Person als ihren Oliver…
Eine Last schien von ihren Schultern genommen zu sein und Tränen der Erleichterung rannen ihr über die Wangen und flossen dort mit dem Regen auf ihrem Gesicht zusammen.
Sanft flüstert der Mond Liebeslieder,
sie rieseln hinunter auf die Welt
und erwecken die ruhenden Engel wieder,
welche schweben unter dem Himmelszelt.
Die Menschen schlafen, sind ahnungslos,
im letzten Rest der sternenklaren Nacht,
jeder einzelne von ihnen hat sein Los
und einen Engel, der über ihn wacht.
Die leisen Klänge der Nacht erlischen,
noch ist der Zauber spürbar und nicht fort,
die gebliebenen Konturen des Mondes verwischen
und zarte Sonnenstrahlen erhellen den Ort.
Damit fängt wieder ein neuer Tag an,
mit himmlischer Liebe und voller Harmonie,
die Engel treten in den Hintergrund und wir sind dran,
es liegt an uns den Abend zu begrüßen mit der gleichen
Melodie.
"Der Humor trägt die Seele über Abgründe hinweg und lehrt sie mit ihrem eigenen Leid spielen. Er ist eine der wenigen Tröstungen, die dem Menschen treu bleiben bis an das Ende." (Anselm Feuerbach)