In einem ungewöhnlich warmen Winter lernten wir uns kennen. Zuerst nahmen wir in den dunklen, kurzen Tagen kaum mehr voneinander wahr als unsere nassen Schuhabdrücke im Flur. Seine wirkten doppelt so groß wie meine und verschluckten sie gnadenlos.
Der Frühling schlich sich an und mit ihm das Erstaunen darüber, dass wir inzwischen zusammen arbeiteten als ginge das seit Jahren so, wortlos und eingespielt. Er schnitt morgens die Brötchen für die Heimbewohner auf, ich belegte sie mit Salami und Schweizer Käse. Er servierte den alten Leuten die Tabletts auf die Zimmer, ich machte solange ihre Betten. Er wechselte freundliche Worte mit ihnen, ich setzte das Gespräch nahtlos fort, wenn er schon aus der Tür war.
Als die Meisen im Nest vor dem Personalzimmerfenster flügge wurden, vermisste ich Laurin zum ersten Mal, als er frei hatte. Ein andermal sprach er mich an: "Wenn du keinen Dienst hast, macht mir die Arbeit weniger Freude als sonst."
Ich mochte an ihm, dass er auch nach Feierabend nicht nach Hause eilte, sondern noch die kaputte Leselampe von Frau Ammeyer reparierte, damit sie nicht auf das tägliche Kapitel in ihrem Krimi verzichten musste. Dass er seinen großen, muffigen Hund mitbrachte, damit Herr Singer mit ihm spazieren gehen konnte. Herr Singer, dessen Worte einem Schlaganfall zum Opfer gefallen waren, war niemals glücklicher, als wenn er mit Merlin losziehen durfte. Laurin folgte ihm mit Abstand, damit nichts schief ging. Wir begannen, diese Spaziergänge in unsere Mittagspause zu legen, damit ich ihn begleiten konnte.
So brachen wir in den langen, feuchten Sommer auf: Herr Singer mit seinem glücklich verwunderten Lächeln und Merlin, weit dahinter Laurin und ich. Da wir stets nur eine Stunde hatten, umkreisten wir immer denselben See im Stadtpark, der doch jedes Mal neu aussah. Irgendwann hatten wir entdeckt, dass wir dieselben Bücher lasen. Wir diskutierten leidenschaftlich über Hermann Hesse und moderne amerikanische Literatur, während vor uns Merlin mit heraushängender Zunge Herrn Singer und sein glückliches Lächeln zwischen Kindergruppen und Bikinimädchen hindurchmanövrierte. Laurin hielt meine Hand fest mit seiner linken und gestikulierte so heftig und ausholend mit der rechten, als könne er ganze Länder und Jahrhunderte heraufbeschwören, die alle uns gehörten, für diese Stunde, diesen Mittag, diesen Krümel Leben.
Laurin war um Einiges größer als ich. Wenn ich ihn ansehen wollte, musste ich den Kopf in den Nacken legen, und so traf mein Blick außer in seine Augen auch immer gleichzeitig den Himmel. Immer noch schwebt, wenn ich an Regentagen im Sommer nach oben sehe, sein schmales Gesicht mit den feinen mausbraunen Haaren, den unterschiedlich schiefen Brauen und den waldhonigfarbenen Augen einen Atemzug lang vor den Wolken.
Manchmal kaufte er uns Erdbeereis. Dann saßen wir einträchtig auf einem nassen Baumstamm und schmeckten alten Kinderträumen nach, während der Nieselregen kleines Silber auf unser Haar sprühte: Herr Singer mit Merlin zu seinen Füßen; ich an Laurins Schulter gelehnt, als wäre es für immer.
Wir überlegten einmal, ins Kino zu gehen wie andere auch, aber unsere Liebe war in Räumen nicht zuhause. So trafen wir uns vor Frühdienstbeginn, parkten Merlin, dessen zotteliges Fell wir kaum wieder trocken bekommen hätten, verbotenerweise in Herrn Singers Zimmer und gingen schwimmen. Wenn die Regentropfen auf die flachen Wellen trafen, stellte ich mir vor, die Worte, die wir uns zuwarfen, verursachten die sich ausbreitenden Ringe. Zwischen den Schwänen wirkte Laurins Lachen, als triebe es auf der Wasseroberfläche. Um seine Größe beraubt, schien er plötzlich nahe. Wenn ich heute Schwäne sehe, glaube ich immer noch, dieses Lachen durch das neblige Morgenlicht zu hören, wie es über den See springt, einem flachen Kiesel gleich.
Doch unter der Oberfläche war das Wasser so tief, dass ich nicht darin stehen konnte. Ich musste schwimmen, konnte nicht anhalten, und so hielten auch die Tage nicht an, egal, wie sehr ich mich mühte. Der Sommer verschwand unmerklich um eine Ecke, die ich erst sah, als ich davor stand. Wir hatten alle Pusteblumen verbraucht, die im Park wuchsen. An ihrer Stelle lagen reife Kastanien schwer im Gras. Laurin hob eine auf, überzeugte sich davon, dass kein Kratzer und kein Fleck ihren waldhonigfarbenen Glanz störten und legte sie behutsam in meine Hand. "Ich habe endlich meinen Studienplatz bekommen", sagte er. "Meine Kündigung habe ich vorhin bei der Heimleiterin abgegeben."
Es war kein Geheimnis gewesen, dass er auf diesen Studienplatz in einer Stadt am anderen Ende des Landes gewartet hatte, schon bevor er mich kannte, und dass ihn weder eine Liebe noch eine Katastrophe davon abhalten würde, ihn anzutreten. Nur war für mich diese Tatsache mit jedem Erdbeereis unwirklicher geworden.
"Kommst du mit?" fragte er und sah zu mir herunter. Der Herbsthimmel wog grau über ihm als wäre bereits wieder Winter.
Ich beerdigte die Kastanie in meiner Tasche und schüttelte nur den Kopf. Das hatten wir alles schon besprochen, als der Sommer noch neu war. Der Herbst änderte nichts. Meine Wege, Menschen, Träume, Fragen, alles lebte in dieser Stadt. Die Erinnerung an Laurin kam nun noch hinzu.
Eine Woche später war er fort. Merlin blieb da, beim Hausmeister; Laurin konnte ihn nicht mitnehmen. Im November starb Herr Singer. In den Mittagspausen ging ich allein mit Merlin um den See. Wir gingen andersherum als früher, wie um alten Bildern zu begegnen, die wir sonst nicht hätten einholen können. Vor uns tobte der Wind goldene Blätter über den Weg und warf sie in den See, wo sie langsam zwischen den Schwänen ertranken. Hinter uns stempelten sich die Abdrücke meiner Schuhe in den Schlamm. Wenn wir den See umrundet hatten und an den Anfang zurückkehrten, sah ich, dass inzwischen Füße, fast doppelt so groß wie meine, die Spuren gnadenlos verschluckt hatten.