Die beiden Weißkittel standen schon eine Weile nebeneinander und starrten interessiert durch die große Scheibe. Sie beobachteten den Neuankömmling. Er saß auf dem Bett und wiegte seinen Oberkörper hin und her wie ein buddhistischer Mönch. Ein kleines handgeschriebenes Schild an der Tür ohne Klinke gab dem Menschen einen Namen: Werner Specht.
"Wann wurde er eingeliefert, Masur?"
"Gestern Abend, Herr Professor."
"Einweisung durch richterlichen Beschluss?"
Der Oberarzt sah kurz auf die Unterlagen. "Nein, die Ehefrau besitzt schon lange die Vormundschaft. Sie hat den Notarzt gerufen und uns einige Informationen gegeben."
Etwas mitleidig schaute er wieder zu dem Neuen.
"Und weiter, Mensch, Masur, lassen Sie sich doch nicht immer alles aus der Nase ziehen."
Der beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen. "Eigentlich ist er ein alter Kunde. Ursprünglich ein Politischer, saß acht Jahre in Bautzen ein, ist seitdem psychisch völlig aus der Bahn. Genaues wissen wir noch nicht. Er befand sich schon einmal bei uns in der Charité, 1969, für mehrere Monate. Lebte danach zu Hause, betreut durch seine Frau. Über zwanzig Jahre keine Besonderheiten. Und nun kam es beim täglichen Spaziergang zu einem Vorfall. Er ist über einen Mann brutal hergefallen. Es ist noch nicht klar, ob es sich um einen Bekannten handelte oder ob es Zufall war. Jedenfalls will der Betroffene auf eine Anzeige verzichten."
"Hmm", meinte Professor Fischer nachdenklich, "das klingt alles sehr merkwürdig. Haben wir von damals noch Unterlagen?"
Masur schüttelte den Kopf. "Nein, nichts zu finden. Und wenn wir noch was gehabt hätten, dann wäre es wahrscheinlich den Bilderstürmern oder irgendwelchen Beauftragten in die Hände gefallen. Im Moment tauchen ja jeden Tag Leute auf, angeblich Offizielle, die irgendwas suchen. Und wenn sie weg sind, fehlt eine Menge."
Professor Fischer blickte zum Kalender an der Wand. Eine mitlaufende rote Datumsmarkierung zeigte den Tag an: 3. Juli 1990.
"Tja, es sind besondere Zeiten, Masur, in denen wir unsere Arbeit machen und so arme Würstchen wie diesen Specht versorgen müssen. Und genau den lege ich Ihnen ans Herz. Vorerst werden wir nur über die Ehefrau weiterkommen. Ansonsten, Sie kennen ja mein neues Behandlungskonzept: Schnell mit Elektrotherapie beginnen. Hat sich immer bewährt, jedenfalls dort, wo ich herkomme." Und Fischer taxierte noch einmal den Patienten.
"Westmethoden!", dachte Masur, sagte aber nichts.
Elfriede Specht war eine etwa fünfzigjährige Frau. Sie saß Masur mit maskenhaftem Gesicht gegenüber. Die vielen kleinen Fältchen um die Augen zeigten ihre Erschöpfung. Auf dem Schoß umkrampften die Hände eine alte Tasche.
"Ihr Mann war schon einmal bei uns, vor fast zwanzig Jahren, das ist doch richtig?", begann Masur vorsichtig.
"Ja, das stimmt", erwiderte sie mit leiser Stimme, biss sich leicht auf die Unterlippe. Nur nicht zu viel sagen.
Masur lächelte. "Das war weit vor meiner Zeit. Ich lebe seit dem Frühjahr wieder hier, bin nach der Wende zurückgekommen. Erst Prag, die Botschaft, dann den Westen erschnuppert, jetzt doch lieber zurück. Bin halt 'ne Ostpflanze. Sie wissen schon, was ich meine." Masur blickte auf das vor ihm liegende leere Blatt. "Wir haben von damals keine Unterlagen mehr, es würde uns helfen, wenn Sie mir etwas über seine frühere Behandlung sagen könnten."
Sie taxierte ihn. Plötzlich war es in dem kleinen Büro sehr still. Dann hatte sie sich entschieden.
"Mein Mann war früher Redakteur. Wir haben uns hier in Berlin kennengelernt, 1958. Er war 25 Jahre alt, hatte gerade seine erste Anstellung, bei der Jungen Welt. Ich war Schülerin, kurz vor dem Abitur. Es war Liebe auf den ersten Blick."
Masur hatte seinen Stift beiseite gelegt.
"Wir haben schnell geheiratet. Es war wunderbar, wir hatten so viele Pläne, Hoffnungen. Im Nachhinein unsere beste Zeit, wir haben es damals nur nicht gewusst. Aber dann kamen schnell die beruflichen Einschränkungen, die Direktiven, Verbote, Zensur. Werner war aber keiner, der so schnell in die Knie geht, der alles schluckt. Er wurde mehrfach vor die Kommission zitiert, verwarnt. Irgendwie war er schon auf Bewährung, das haben wir beide geahnt. Und dann kam der 13. August, der Mauerbau, 1961. Wir konnten es nicht fassen."
Sie hielt ein, walkte ihre Tasche durch und blickte durch das Fenster nach draußen, als könnte sie die Ereignisse von einst dort wieder sehen.
"Werner war wie von Sinnen, ließ sich nicht beruhigen, wollte nur noch raus. Ich konnte ihn nicht aufhalten, hatte selbst so furchtbare Angst, dass etwas geschehen könnte. Ich habe den ganzen Tag und die Nacht gewartet, aber er kam nicht wieder. Dann, am nächsten Morgen, der Anruf. Er war festgenommen worden, warum, sagte man mir nicht. Später hieß es, staatsfeindliche Umtriebe, Republikflucht. Erst Tage später durfte ich ihn besuchen. Er saß in einer kleinen schmuddeligen Zelle, war nicht mehr wiederzuerkennen. Von da an war er ein gebrochener Mann. Was man mit ihm gemacht hat, ich weiß es nicht, jedenfalls sprach er seit jenem Tag kein Wort mehr, nicht ein einziges, zu niemandem, auch nicht zu mir. Es war ein Rückzug in sich selbst. Dieser beredte Mann, der immer so wortgewandt, mitteilsam, witzig und charmant war, schwieg fortan. Als wäre seine Fähigkeit zum Kommunizieren eingemauert worden."
"Was warf man ihm vor?", fragte Masur.
Sie sah ihn an wie aus einer anderen Zeit kommend. Stockend fuhr sie fort: "Er ... ist an der Grenzlinie entlanggelaufen, soll immer wieder auf die Soldaten, die Bauarbeiter eingeredet haben, und hat dann versucht, die frisch gesetzten Steine wegzudrücken, die Mauer wieder einzureißen. Er ist festgenommen worden, soll sich wie ein Berserker aufgeführt haben. Was man danach mit ihm machte, kann man sich vorstellen."
Frau Specht schwieg, sah verloren vor sich hin. Masur wollte heißen Kaffee nachschenken, sie schüttelte nur den Kopf.
"Und, wie ging es weiter?", fragte der Arzt vorsichtig.