/Wie kann ich an Gott glauben, wenn sich erst letzte Woche meine Zunge in der Walze der Schreibmaschine verheddert hat?/
/Woody Allen/
Du weißt nicht, wie sehr du mich verletzt hast. Natürlich nicht.
Ich balle eine Faust und blicke auf: Verschwommene Landschaftsfetzen in Gelb und Grün ziehen gemächlich am Zugfenster vorbei. Die tief stehende Sonne blendet in meinen Augen und Zigarettenrauch hängt träge in der Luft. Die alte Frau mir gegenüber scheint eingeschlafen zu sein. Ihr Kopf jedenfalls ruht auf der Brust, die sich ganz ruhig auf und ab bewegt. Die Hände hat sie im Schoß gefaltet. Ich stelle die Füße auf den Sitz und ziehe meinen Pullover über die Knie, wie ich es schon als Kind immer getan habe, wenn ich in meinem Dachzimmer las oder meinen Träumen nachhing. Den größten Teil meiner Kindheit habe ich so dort oben verbracht, da ich kaum Freunde hatte und nur selten nach draußen ging.
Mit einem leisen Seufzen lehne ich den Kopf zurück.
Es war ein freundlicher Herbsttag gewesen, einer der letzten in diesem Jahr. Wir hatten uns in der Stadt getroffen. So lange ich denken kann, war sie da gewesen. Ihre Haut stets blass, wie ein von der Sonne ausgebleichtes Stück Papier. Der Körper so dürr und ausgemergelt, dass sich die Knochen unter ihrer Kleidung abzeichneten. Ihr Gesicht besaß scharfe Konturen und ernste Züge, obwohl sie gern lachte. Die Augen waren groß und wundervoll braun. Ich habe mich immer wieder in ihnen verloren.
Ein ganzes Jahr hatte es gedauert, bis ich ihr meine Liebe gestand. Es war Weihnachten und wir hatten uns einige Zeit nicht gesehen. Ich rief an diesem Abend eigentlich nur bei ihr an, um ihr fröhliche Weihnachten zu wünschen und um zu hören wie es ihr in der letzten Zeit so ergangen war. Im Laufe des Gesprächs überkam mich jedoch wieder der quälende Wunsch, ihr endlich meine Liebe zu gestehen. Ich wurde dabei so furchtbar hilflos und nervös. Ich stammelte Wortfetzen und meine ruhelosen Augen suchten ständig einen Punkt an der Wand, an den sie sich hoffnungsvoll klammern konnten. Eine ganze Stunde dauerte es, bis ich mich schließlich doch überwand. Ihre Antwort war bloß ein: "Ich weiß" und ein "Ich liebe dich auch".
Damals waren wir ziemlich oft zusammen. Wir hatten beide wieder einmal keinen Job und verspürten auch keine große Lust uns einen zu suchen. Wir lebten gut von den Schecks die wir von unseren Eltern bekamen. Meine Mutter hatte die schreckliche Angewohnheit, sie immer persönlich bei mir vorbeizubringen. Sie räumte dann überall in meiner Wohnung auf, wusch und kochte für mich. Sie ließ es sich dabei nie nehmen, ein schier apokalyptisches Schreckensbild von meiner Zukunft vor mir auszubreiten.
Mir war das aber ziemlich egal. Ich saß dann meistens nur irgendwo herum, rauchte eine Zigarette nach der anderen und sagte nicht viel.
Es war Vormittag als wir uns trafen. Wir besuchten einige Antiquariate in der Altstadt, um nach Büchern zu stöbern. Wir liebten das: Diesen Geruch von Staub und altem Papier, das dämmrige Licht, die meist engen, verwinkelten Räumlichkeiten mit ihren Gängen, die so schmal waren, dass jeweils nur einer hier stehen konnte. Wir liebten es, uns hier zu verlieren, ohne jegliche Empfindung für Zeit, abzutauchen zwischen den von Büchern überladenen Regalen, mit dem Wunsch nie mehr wiederzukehren zu müssen.
Nach unserem Streifzug konnte ich eine ziemlich zerfledderte Ausgabe von Hamlet und einen Band mit Kafkas Erzählungen mein Eigen nennen, obwohl ich beides schon in mehren Ausgaben besaß, sowie ein Buch mit alter japanischer Lyrik. Sie erstand einzig "Leonce und Lena".
Wir hatten uns bei einem asiatischen Imbiss Onigiri und grünen Tee mitgenommen und waren gerade auf Weg zum Park, als wir an einer kleinen Kirche vorbeikamen, die schmutzig und grau in den Himmel ragte. In ihrem kargen Vorgarten mit seinem schlammigen Boden mochte nicht einmal das Gras gedeihen. Wir gingen den Steinweg entlang zum Eingang. Die Tür war verschlossen. Am Knauf hing ein verwittertes Pappschild mit der blassen Aufschrift: "Bin außer Haus".
Wir lagen zusammen im Park auf einer Decke aus meinen Kindertagen. Meine erste Erinnerung an meine Mutter ist mit dieser Decke verbunden. Es war mein erster Tag im Kindergarten gewesen und ich hatte mich voller Angst und Schüchternheit die ganze Zeit abseits gehalten. Nach dem Mittagessen musste sich jedes Kind zum Schlafen hinlegen. Als ich nun dort auf der Pritsche lag, brachen all die angestauten Gefühle aus mir heraus. Ich fing fürchterlich an zu weinen. Die Erzieherin, die am Eingang des Schlafsaales saß, kam sofort herbeigeeilt, konnte mich jedoch nicht beruhigen. Die anderen Kinder erwachten und sofort war von überall her ihr leises Gemurmel und Getuschel zu vernehmen. Ich wollte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Nach dem die Erzieherin keinen Rat mehr wussten, rief sie meine Mutter an, die auch kurze Zeit danach erschien.
Mit großen Schritten kam sie auf mich zu gelaufen, in der Hand diese Decke. Ohne ein Wort zu sagen hüllte sie mich darin ein und nahm mich in ihren Arm. Ich hörte ihren ruhigen Herzschlag und ihren Atmen. Ich schloss die Augen und schlief ein.
Meine Mutter, glaube ich, hatte in ihren Augen vor meiner Geburt keine wirkliche Funktion erfüllt. Sie war einfach nur da. Mein Erzeuger, der als Ingenieur für eine große Baufirma oft im Ausland unterwegs war, kam oft über Monate hinweg nicht nach Hause. Meine Mutter war so erfüllt mit Liebe und wollte zudem nur ihrer von klein auf vorbestimmten Rolle als gute Ehefrau gerecht werden. Sich einen anderen Mann zu suchen kam für sie überhaupt nicht in Frage. Ihr Herz musste sich mit so viel Glück und Liebe gefüllt haben, als sie mit mir schwanger wurde. Sie war nicht mehr funktionslos.
Bei meiner Geburt war mein Erzeuger nicht anwesend. Viel mehr noch, er nahm auch nicht an meinem weiteren Leben teil. Auch was Treue anging, hatte er eine gänzlich andere Ansicht als meine Mutter. Er legte sich nämlich bei einem seiner Auslandaufenthalte ein Geliebte zu. Mein Erzeuger brachte es sogar fertig sie zu Weihnachten mit nach Hause zu bringen, um sie meiner Mutter und mir vorzustellen. Zu meiner Überraschung jedoch blieb meine Mutter trotz dieser Erniedrigung und der Nichtbeachtung von Seiten meines Erzeugers stets die treue Seele von Ehefrau, die sich wohl jeder Mann wünscht. Aber für all die Liebe, die in ihr war, gab es nur noch ein einziges Ziel: Mich.
Die Sonne schien mit schmalen Strahlen durch das bunte Blätterdach und wärmte leicht den Boden. Der Wind trug den Geruch sterbender Pflanzen mit sich und ließ die rot- und gelbfarbenen Blätter, die überall von den alten, knochigen Bäumen herabfielen, in der Luft tanzen. Wir aßen den mitgebrachten Imbiss und ich hatte gerade begonnen aus meiner neuen Geschichte vorzulesen, als sie mich jäh unterbrach. Sie legte den Kopf etwas schief und sagte leise, sodass es fast nur ein Flüstern war, dass das Leben eine Ansammlung von Splittern sei, die sich zwar berühren, aber niemals zusammen passen wollen. Ich nickte bloß und dann aßen wir stumm aus unseren Lackschächtelchen weiter.
Auf dem Weg zur U-Bahn kamen wir an einem Buchladen vorbei. Es war keiner dieser Geschäfte, in welche ich gewöhnlich ging. Er war mir zu groß - ganze drei endlose Etagen nahm er für sich ein und glich doch im Inneren einem von Menschen überquellenden Supermarkt. Sie sah aus den Augenwinkeln zu einem Obdachlosen in seinem Schlafsack herüber, der unter dem Vordach sein Lager aufgeschlagen hatte, und deutete mit einem Kopfnicken in seine Richtung. Er las vertieft im fahlen Licht der Schaufenster ein Buch. In diesem Moment bedauerten wir wohl beide, keinen Fotoapparat bei uns zu haben, um dieses herrlich absurde Bild festzuhalten.
Wir verabschiedeten uns in der U-Bahn Station nahe dem Park. Sie küsste mich auf die Augen und strich mir sanft durchs Haar. Dann nahm sie meine Hand in ihre. Ich spürte einen kalten, scharfkantigen Gegenstand, den wir beide fest umschlossen. Es schien als wollte sie etwas sagen, aber dann zog sie nur ihre Hand zurück und eilte stumm die Treppe hinauf in das letzte Licht des Tages. Ich blieb allein im Halbdunkel der Station zurück, die Hand immer noch fest zusammengeballt. Blut tropfte auf den Boden herab. Nach diesem Treffen waren einige Monate vergangen, in denen wir uns fast gar nicht gesehen hatten. Es war schon Abend, als ich von der Arbeit zurückkam. Ich arbeitete ein paar Stunden in der Woche in der Universitätsbibliothek. Ein Job ohne viel Freude, aber immerhin verdiente ich mal wieder mein eigenes Geld. Ich öffnete die Wohnungstür.
Ein Luftzug entwich durch den schmalen Spalt und das Windspiel am Fenster erklang. Ich lächelte und trat ein. Meine kleine Wohnung war dunkel und kalt.
Ich hatte hier eine kurze Zeit mit einer Frau zusammen gelebt. Sie war ein paar Jahre jünger als ich und studierte an der Universität Literatur. Ich hatte sie in einem Sudentencafé auf dem Campus kennen gelernt und wir waren recht schnell ins Gespräch gekommen. Wir redeten über Musik und Literatur. Wir zählten die Autoren auf, die wir besonders mochten. Ab diesem Zeitpunkt bin ich nicht mehr zu Wort gekommen. Ohne jede Atempause redete sie nur noch von Kafka. Vielleicht hätte mir dies schon damals merkwürdig vorkommen müssen.
Am Abend lud ich sie zu mir nach Hause ein. Ich kochte für sie und nach dem Essen schliefen wir miteinander. Beim Sex streichelte sie immer wieder über meinen Unterleib und sagte dann mir, wie dünn ich doch sei.
Ich sah an mir hinab, erblickte aber nur meinen fetten Bauch.
Als wir dann richtig in Fahrt kamen, begann sie ganz plötzlich Kafkas Namen zu stöhnen und wurde dabei immer hemmungsloser, was mich wiederum vollkommen verwirrte und meiner Libido natürlich nicht gerade zuträglich war. Ich war zutiefst verstört und beschämt, sagte jedoch nichts dazu.
Bald darauf zog sie bei mir ein. Sie hatte mir erzählt, dass sie nach der Trennung von ihrem Freund ohne Bleibe gewesen wäre und wieder bei ihren Eltern wohnte. Sie setzte dabei das Gesicht eines ausgesetzten Katzenbabys auf. Ich war es einfach leid einsam zu sein, allein am Abend ins Bett zu gehen und allein wieder aufzuwachen. Außerdem mag ich Katzen. Ich konnte sie einfach nicht zurückweisen.
Die Beziehung hat nur zwei Monate gehalten. Eigentlich war alles sehr angenehm und schön. Wir gingen oft in das Theater oder Museum. Wir verbrachten die Nachmittage im Park oder in den Cafes der Altstadt. Ich nahm sie auch immer wieder in die kleinen Hinterhofkinos mit, in die ich so gerne ging. Wir kochten zusammen und am Abend lasen wir uns einander aus unseren Lieblingsbüchern vor. Doch ich habe sie nie geliebt. Sie war einfach da, gab mir das Gefühl geborgen zu sein, geliebt zu werden. Ich kann verstehen, dass sie gegangen ist. Ich konnte ihre Liebe einfach nicht erwidern.
Nach dieser Beziehung empfand ich eine große Abneigung gegenüber Kafka und seinen Büchern. Ich habe mich oft gefragt, ob Kafka wirklich in irgendeiner Form sexuell anziehend sein kann. Das ist für mich bis heute eine sehr bizarre Vorstellung.
Ohne das Licht anzumachen nahm ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank und schaltete das Radio ein. Ein Lied von Tom Waits lief. Seine trunkene Stimme war unverkennbar. Ich setzte mich an den Küchentisch und ging den kleinen Stapel mitgebrachter Post durch. Ich hatte eine meiner Geschichten bei einer Zeitung eingesandt und hatte nun jeden Tag auf eine Antwort gehofft, aber auch diesmal war kein Brief dabei gewesen. Es sollte auch keiner mehr kommen.
Ich hatte so viel Arbeit in diese Geschichte gelegt. Für mich ist Schreiben wie das Zusammensetzten eines zerbrochenen Spiegels. Jeder Splitter ist eine eigene Erinnerung oder die einer anderen Person, die ich mir sorgsam ausgeborgt habe. Ich bin nur der Sammler dieser Dinge und der, der versucht, die Splitter passgenau zusammenzusetzen.
Ich gehe sehr gern in einen Salon ganz in der Nähe meiner Wohnung. Er hat rund um die Uhr geöffnet, bietet einen ausgezeichneten Automatenkaffee und zudem kann ich hier auch ab und zu Schach spielen. Was jedoch noch viel wichtiger ist: Ich treffe, wenn ich dort auf meine Wäsche warte, immer wieder auf interessante Charaktere und Geschichten. Es ist wie eine kleine Bühne, auf der jeder sein eignes Stück aufführt. Ich greife mir das Interessanteste heraus und forme es mit vielen anderen Ideen zu einem Ganzen. Am Ende kann ich darin mein eigenes Spiegelbild erkennen.
Ich trank das Bier mit hastigen Schlucken aus und ging ins Badezimmer, wo ich Hose und Shorts herunterzog. Ich spielte ein wenig an meinem schlaffen Penis herum, bis er stand, und holte mir dann einen runter.
Ich kam schnell, spritze in die Toilette. Das Sperma sah im Wasser aus wie kleine Rauchwolken, die sich langsam auflösten. Einen Moment lang starrte ich gebannt in das Becken, dann trottete ich ohne zu spülen wieder zurück in die Küche. Das Lied wurde unterbrochen und der Moderator meldete sich zu Wort.
The God of Grunge war tot. "And I swear that I don't have a gun."
Arschloch! Genau dieses Wort stand mit meinem Blut geschrieben an der Wand und ich lag darunter in der Badewanne. Um mich herum auf dem Boden brannten Kerzen und ein paar Räucherstäbchen. Alles war still. Ich hörte einige Zeit lang dem tropfenden Wasserhahn zu und fragte mich, ob er noch den Knall gehört hatte. Was ist schneller: Die Kugel oder der Schall? Dann wurde mir das Wasser zu kalt. Ich stieg aus der Wanne, rauchte mein letztes Gras und ging schlafen.
Ich ging etwas früher von der Arbeit fort und besuchte meinen Dealer. Es war schon dunkel geworden und es regnete. Die Menschen liefen eingemummt und missmutig durch die Straßen. Ich schlug meinen Kragen hoch und schob meine Mütze tiefer in das Gesicht.
Der Dealer wohnte in einer heruntergekommenen Hochhaussiedlung am Stadtrand. Sie war bei ihm. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen, nur ein paarmal nachts telefoniert. Sie und der Dealer waren damals ein Paar. Sie hat es mir bei einem unserer Telefonate erzählt, geschickt versteckt in irgendeinem Nebensatz. Ich bin einfach darüber hinweg gegangen. Er war groß, gut gebaut und hatte eine Glatze. Er trug meist schwarze Lederklamotten und sprach sehr schwerfällig und grob, als ob er wegen den ganzen Drogen die er nahm, zurückgeblieben wäre. Wir redeten nie viel miteinander. Ich, weil ich nicht wollte; und er, weil er nicht konnte.
Sie lag ziemlich zugeknallt auf dem Sofa und hatte ein weißes Kleid mit goldenen Plastik-Engelsflügeln an. Im Fernsehen lief die Wiederholung des Haru Basho ohne Ton, stattdessen kam aus der Anlage leises Meeresrauschen. Sie war nicht ansprechbar. Ihr glasiger Blick verlor sich irgendwo im Raum. Ich kaufte ein bisschen Gras und ein paar Löschblättchen mit LSD für das Wochenende. Das Angebot auf irgendeine ganz angesagte Party zu gehen, lehne ich rasch ab. Lieber hätte ich wohl Sex mit Kafka gehabt.
Ich öffne die Augen, betrachte meine zerschnittenen Arme und mein Gesicht in einem kleinen Spiegelbruchstück. Jeder Schnitt eine Erinnerung, um niemals zu vergessen. Du weißt nicht wie sehr du mich verletzt hast. Natürlich nicht.
Sanft streicht sie mit ihren Fingerspitzen an meinem Arm entlang, bis hinunter zu dem Lederbändchen, das sich wie ein fein gegliederter Reptilienpanzer um mein Handgelenk schmiegt. Sie nimmt mir die Scherbe aus der Hand. Ein Kleinwüchsiger in Schaffneruniform schreitet den Mittelgang entlang und ruft durch eine Flüstertüte den nächsten Bahnhof aus. Sie lässt den Splitter in die Jackentasche der alten Frau mir gegenüber gleiten, dann küsst sie mich auf den Mund und kuschelt sich an mich heran. Ich schließe die Augen. Das letzte was ich höre sind Wassertropfen.