Ein sternenklarer Februarhimmel spiegelte sich in der schneelosen Eisfläche. Der aufgehende Wintermond mit seinem kalten Licht begleitete uns auf dem glitzernden Eis bis zum vermeintlichen Ende, da, wo am Horizont eine aus Eichenpfählen grob gezimmerte mächtige Brücke die beiden Ufer des Wintersees überspannte. Einst rollten mit Feldfrüchten beladene Lorenzüge darüber. Nun aber rosteten die Gleise vor sich hin. Gespenstisch wirkten die Silhouetten der niedrigen Weidenbüsche, die im Sommer, wenn die Wiesen nicht überschwemmt waren, die Schlängellinie des Flusslaufs kennzeichneten. Wir mieden jetzt diese Stellen, da um sie herum das Eis meistens nicht trug. Am Abend, wenn die Jüngeren bereits zu Hause waren, gehörte uns das riesige Eismeer, auf dem wir unsere beginnenden Kräfte erprobten und mit unserem Können wetteiferten. Wiederholt spürten wir, dass uns die Mädchen aufmerksam beobachteten. Sie spornten uns zu unglaublichen Leistungen und manchen waghalsigen Kunststücken an. Ihre durchdringenden Blicke faszinierten uns, besonders wenn sie einem Bestimmten galten, der dann mit vergrößerter Willensanstrengung den Empfang bestätigte. Sobald sich jedoch ein Blick gezielt wiederholte, war man so erregt, dass für Sekunden alle Aktivitäten gelähmt waren. Noch konnten wir mit dem Gefühl nichts anfangen, doch die Freude auf den nächsten Abend war plötzlich so ganz anders. Nicht das Schlittschuhlaufen zog uns aufs Eis, sondern das Zusammentreffen mit den Mädchen.
Auch an diesem Abend drehten wir, die Mädchen sehnlichst herbeiwünschend, wie zufällig und vorgeblich mit uns selbst beschäftigt, einige Runden, bis sie endlich vor uns standen und uns mit beiläufigen Bemerkungen zu einem Gespräch animierten. Wir redeten zumeist nur über Nebensächliches oder ganz Allgemeines und waren peinlich darauf bedacht, unser wahres Streben zu verhüllen. Nur ganz verborgen wurde Interesse für jemanden gezeigt. Dennoch machte alles, was gesagt wurde, neugierig, jedes Wort war für uns wichtig und fesselte uns so, dass man manchmal sogar sein eigenes Herz schlagen hörte. Welch ein Augenblick! "Verweile doch, du bist so schön!" Als wir uns vom Ufer entfernten, herrschte eine atemlose Spannung. Das Gefühl für Zeit und Raum war uns verloren gegangen. Fünf Mädchen und fünf Jungen trieb die Weite des Eises und das noch Unerklärliche. Die Schlittschuhe hatten wir längst abgeschnallt, als unser Dialog immer mehr versiegte und wir wortlos fragend dahinschlitterten. Der nun schon höher stehende Mond mag den Mädchen die befreiende Idee eingegeben haben, ein Lied anzustimmen. Sie sangen ein in den 50er Jahren oft gehörtes und gesungenes Liebeslied, zweistimmig und alle drei Strophen. Wir lösten uns von der bedrückenden Stille und lauschten dem Gesang. Die Loreley auf dem Rheinfelsen hat wohl kaum eine größere Macht entfaltet. Unter dem frostigen Sternenhimmel erstrahlten fünf anmutige Augenpaare und gingen auf in den unbefangenen, fast noch kindlichen Stimmen. Kein Widerspruch zwischen diesem frühlingshaften Frohlocken und der so eiskalten Zeit störte unser erstes Sehnen nach einem noch unbekannten Vereinen.
Die Brücke, die vorhin noch so fern war, stand plötzlich vor uns. Obwohl sich die Eisfläche dahinter immer weiter zog, stiegen wir die Böschung hinauf. Alles war wie gewollt, niemand fragte nach dem Wohin, wir gingen einfach, es war unsere Bestimmung. Als wir voneinander schieden und je zwei ihrem eigenen Ziel zustrebten, erahnten wir nicht, dass es wohl der endgültige Abschied von der Kindheit war.
Um uns zwei war es nun ganz still geworden, es bedurfte auch keiner Worte, keiner Frage, sie wäre sicher ohne Antwort geblieben. Wir standen neben dem Feldbahngleis und schauten ratlos auf die ausgedienten Schienenstränge, als könnten wir aus ihrem unauflöslichen Miteinander unsere Zweisamkeit begreifen. Die leblosen, kalten Schienen konnten uns freilich keine Antwort geben. Da berührte mich ganz zaghaft eine Hand. Wie ein Wollen ohne Willen griff ich zu, ich musste ergreifen, was ohne Sehnsucht war und doch sehnsüchtig erwartet wurde. Es war ein nicht enden wollendes Fühlen. Wir schauten einander an und ahnten, dass mit uns etwas geschehen war. Unsere Hände waren fest ineinander gefügt, als wollten sie verhindern, dass sie sich verlieren, und eine wohltuende Wärme strömte durch unsere aufgewühlten Körper. Immer noch schweigend gingen wir unseren Weg, den Weg, der erste Liebe hieß. Und wir trennten uns an der Stelle, wo die Gleise die bisherige Richtung änderten, um in der Ferne scheinbar zusammenzufinden. Mit einem zufriedenen Lächeln und dem Versprechen, uns am nächsten Abend wieder zu sehen, zur gleichen Zeit und am gleichen Ort, verabschiedeten wir uns.
Von Engeln getragen schwebte ich nach Hause. Weltabgewandt und in mich gekehrt habe ich dem lieben Gott gedankt, aber wofür, ich weiß es nicht mehr. Etwas Neues, von dem ich früher noch nichts wusste, war in mir geboren. Zu der Liebe, die mich mit meiner Mutter verband, war eine andere hinzugetreten, eine Liebe, die erwartungsvoll schön war, nicht mit dem Verstand zu erfassen, nicht zu ergreifen, nur ganz einfach zu fühlen. Ein nicht zu stillendes Begehren erfüllte mich und bestimmte mein Hoffen. So manchem Mädchen habe ich zuvor zum Gruß die Hand gegeben, aber die eine hat mich nur berührt, und ich musste ihre Hand nehmen und festhalten. Nun war nichts mehr so wie vorher, ein Mensch war in mein Leben getreten, der für mich einen ungewohnten, nicht mehr wegzudenkenden Wert gewann.
Mit Freude erwarteten wir jedes Zusammensein und waren von dem Wunsch beseelt, den anderen zu spüren, ihn zu betrachten und seinen Zauber einzuatmen. Die Abende wurden heller und wärmer. Der Frühling kündigte sich an, und das erste Grün war nicht mehr zu übersehen. Die Knospen an den Fliederbüschen waren so prall, als wollten sie jeden Augenblick aufspringen. Wir trafen uns wie einst an dem großen Wiesensee, aber das Wasser war längst wieder in den Bach zurückgeflossen. Nichts erinnerte mehr an das riesige Eismeer. Doch der unermesslich weite Sternenhimmel war immer noch über uns und spiegelte sich in den freudestrahlenden Mädchenaugen. Ich wollte mich satt sehen an diesen Sternenaugen, als sie meinen Kopf in ihre Hände nahm und sich unsere Lippen berührten, sekundenlang, als wollten sie beieinander bleiben. Wir waren eins geworden. Das Glücksgefühl wollte überfließen, so unendlich viel wollte man sagen und war doch stumm. Meine Gedanken hatten sich in dem soeben Erlebten verloren, als sie sich an mich lehnte und zu singen begann, ganz leise, ganz andächtig. Mit dem letzten Satz des Liedes "… und du weißt, ich liebe dich" hob sie ihren Kopf, sah mich viel sagend an und schmiegte sich noch enger an mich. Jedes weitere Wort war überflüssig, der Zukunftsglaube war so vorurteilsfrei und ohne Zweifel, wie er wohl nie wieder werden sollte.
Es war Sommer geworden und wir hatten nach den Abenden nun auch den Tag für uns erobert. Nicht mehr der Mond, die Sterne und die kalte Winternacht waren unsere Begleiter, sondern die blühenden Wiesen und die wogenden Getreidefelder. Wir saßen am Hang und schnipsten mit den kugeligen Sandknöpfchen um die Wette, so wie wir es als Kinder gemacht hatten. An der Flussbiegung beobachteten wir die immer wiederkehrenden Strudel, saßen im Schatten unter dem schützenden Blätterdach oder pflückten am Feldrain die blauen und roten Blumen, die die geschickten Mädchenhände zu einem Kranz wanden. Glücklich, mit geschmücktem Kopf wie ehedem zum Kinderfest rief sie: "Sieh, ich bin die Königin, gefall ich dir?" Schön wie unser gemeinsamer Sommer war an uns und um uns so vieles wichtig geworden. Es war ein Geschenk, wie wir die erste Liebe im Erblühen der Wälder, Felder und Auen erleben durften. Nie zuvor hat uns das Wundervolle in der Natur so berührt, nie zuvor war der Liebreiz des anderen so gegenwärtig und noch nie war das Bedürfnis so groß, von allem Besitz zu ergreifen, nichts mehr herzugeben. Und doch war alles vergänglich: die erste Liebe, der erste Schwur, das erste Verlangen.
Glückselig bemerkten wir kaum, wie der Sommer sich neigte. Ein herrlicher Tag ging zu Ende, als wir wieder einmal an unserem Feldbahngleis standen und die beiden Schienenstränge unendlich weit zusammengehen sahen. "Ob sie sich womöglich doch vereinen?" Sie hatte wohl erraten, was ich dachte. "Dort finden sie sich noch nicht, vielleicht jedoch ganz am Ende. Wir können es nur nicht sehen, aber …" Hier brach sie ab. Ihre Stimme klang fremd, wie aus einer anderen Welt. Erst nach einer bedrückenden Pause sah sie mich an und ihr versonnener Gesichtsausdruck wandelte sich. Wie immer in einer schwierigen Situation suchte sie den Beistand in einem Lied. Aber ihr Gesang war anders als sonst, als ob sie sich aus tiefer Traurigkeit befreien wollte. "Übers Jahr, wenn die Kornblumen blühen, komm ich wieder." Kornblumen unseres Sommers, so blau wie ihr Blumenkleid, die Farbe der Treue, an der ich nicht zweifelte. Der weitere Text ging an meinem Ohr vorbei, ihre betörend liebliche Stimme verführte mich. Nur das letzte "Ich hab dich gern, warte nur auf mich" blieb haften. Gernehaben war die Hauptsache für mich, deshalb verschwendete ich keinen Gedanken daran, ihr Singen könnte mehr bedeuten. Ihr drittes Lied aber war ihr letztes.
Die gemeinsamen Tage waren gezählt. Noch bevor die Schwalben zum Süden zogen, kam sie nicht mehr wieder, auch im nächsten Jahr nicht, als die Kornblumen blühten. Sie kam nie mehr und war für immer fort. Ihre Eltern waren nach dem Krieg in den anderen Teil Deutschlands verschlagen worden und wollten ihre Tochter wieder bei sich haben. Den unmenschlichen Krieg hatten wir überstanden, aber die Teilung unseres Vaterlandes mit den verheerenden Folgen nicht, und gegen diese Grausamkeit waren wir machtlos. Mir blieb die schöne Erinnerung, damals ein hoffnungsloser Trost in meinem Kummer. Ohne Wehmut denke ich an meine erste Liebe zurück. Heute weiß ich, dass diese Liebe der Anfang und die Brücke zu jeder künftigen Liebe war. Ich bin dankbar, dass ich eine Liebe erfahren habe, die "nicht das Ihre suchte" und die sich schließlich erfüllt hat in meiner letzten großen Liebe.