Vermutlich kommt jeder Mensch irgendwann einmal in eine Situation, in der er sich fragt: Was mache ich jetzt mit meinem Leben, welches Ziel setze ich mir, welchen Weg will ich einschlagen? Die meisten Menschen stellen sich derartige Fragen gegen Ende ihrer Schulzeit, wenn es darum geht, was sie einmal studieren oder welchen Beruf sie erlernen sollen. Dann verzweigen sich die Lebenswege. Jeder schreitet auf der von ihm gewählten Bahn mehr oder weniger erfolgreich voran und entwickelt dabei besondere Fähigkeiten und Neigungen, während andere Dinge, die bisher von Bedeutung erschienen, in den Hintergrund treten und allmählich verblassen.
Bei mir war das alles leider nicht so einfach. Nach dem Abitur versuchte ich einmal dies und einmal jenes, konnte aber nirgends so recht heimisch werden. Ich wusste nur, dass ich irgendetwas Künstlerisches machen wollte. Doch meine Vorstellungen davon waren sehr verschwommen. Ich malte und zeichnete, schrieb gelegentlich Gedichte und las exzessiv. Doch das ergab noch keinen Beruf, mit dem man sein Brot verdienen konnte.
Schließlich wurde ich Gehilfe eines Plakatmalers. Dieser hatte seine Werkstatt in einer schmalen Gasse, in einem ehemaligen Laden. Er arbeitete hauptsächlich für die zwei Kinos der Stadt, indem er Bilder der Schauspieler und markante Filmszenen mit Hilfe eines durchnummerierten Liniennetzes von den Filmprogrammen auf große Pappwände übertrug. Im Lauf von Jahrzehnten hatte er eine routinierte Geschicklichkeit erworben. Auf seinem Gebiet galt er als gestandener Künstler und seine Kreationen wurden von den Angestellten der Filmtheater ehrfürchtig bestaunt. Jeden Freitag war Programmwechsel, und dann schafften wir die Kolossalgemälde zu ihrem Bestimmungsort. Herr Krämer, der Maler, trug dabei einen weißen Kittel und eine Baskenmütze, wodurch er zugleich professionell und bohèmehaft wirkte.
"Das sind echte Kunstwerke, die Ihnen da jede Woche gelingen, Herr Krämer", sagte der Kinodirektor, ein kleiner, dicker Mann, der sich die Haare in fettigen Strähnen über seine Halbglatze legte, immer wieder. "Das macht Ihnen keiner nach. Sie sind ein wahres Genie. Ihre Bilder sind so lebendig und beeindruckend. Sie scheinen förmlich von der Leinwand herabgestiegen zu sein. Man sollte Ihre Werke einmal in einer Galerie ausstellen."
"Kunst kommt eben von Können und nicht von Wollen, sonst hieße es nicht Kunst sondern Wulst", pflegte Herr Krämer dann gerne zu sagen. Mit dieser Bemerkung zielte er auf Leute wie mich, die zwar Rosinen im Kopf hatten, aber sonst nichts zu leisten vermochten.
Zu jener Zeit nahm ich regelmäßig Mal- und Zeichenstunden an einer Abendschule. Von besonderem künstlerischen Wert schien mir der Unterricht dort nicht zu sein und ich machte auch keine großen Fortschritte. Ich ging aber dennoch hin, da ich die Hoffnung nicht aufgab, vielleicht doch noch ein reguläres Kunststudium aufnehmen zu können und Maler zu werden. Das Abendstudium zählte als Vorbereitungskurs für die Akademie, was sich bei einer Bewerbung vorteilhaft auswirkte. Ich war nicht untalentiert, aber auch nicht gerade herausragend. Wir machten Studien nach der Natur, Stillleben, Figuren, Porträts oder Landschaften; und der Lehrer, ein regional bekannter älterer Künstler, zeigte uns allerlei Tricks und Kniffe, mit deren Hilfe wir unsere Arbeiten interessant gestalten konnten. Zum Beispiel, wie man Lichter setzt und die Schatten effektvoll betont, wie man mit verschiedenen Techniken arbeitet oder perspektivische Wirkungen erzielt. Auch jemand, der eigentlich nur wenig Talent besaß, konnte so mit Fleiß und ein wenig Geschick im Laufe der Zeit vorzeigbare Arbeiten zustande bringen. Für Hobbymaler war das ganz gut und nützlich. Hatte man aber ernsthaftere Ambitionen, brachte es einen nicht weiter. Im Grunde unterschied es sich nicht allzu sehr von dem, was Herr Krämer machte.
An einem schönen Sommertag, es war ein Wochenende und ich hatte frei, machte ich mich zu Fuß auf den Weg nach dem kleinen Städtchen W., einer früheren fürstlichen Residenz. W. ist nicht weit von meiner Heimatstadt entfernt. Es gibt dort eine bedeutende Kunstsammlung, in der ich mich einmal in aller Ruhe umsehen wollte. Ich hatte eine große Tasche umgehängt, in der ich mein Malzeug verstaut hatte, um vielleicht die eine oder andere Studie mit nach Hause zu bringen.
Ich verließ die Stadt auf einer Landstraße, die links und rechts von Bäumen gesäumt war. Wenn mich gelegentlich ein Auto überholte, winkte ich, aber kein Fahrzeug hielt. Ich bemühte mich auch nicht besonders, denn das Wandern machte mir Spaß, die Sonne schien und die sanfte, hügelige Landschaft erfreute das Auge. Meine Gedanken kreisten um die Kunst und darum, ob ich wohl das Zeug zu einem Maler hätte. War denn eine solche Laufbahn überhaupt erstrebenswert? Als professioneller Künstler wäre ich dazu verdammt, tagein, tagaus ständig malen und zeichnen zu müssen. Schon jetzt ging es mir so, dass ich alles um mich herum unwillkürlich unter dem Gesichtswinkel betrachtete, ob es ein gutes Motiv für ein Bild abgäbe. Was hatte es denn für einen Sinn, die Welt, die an sich schon viel Schönes enthielt, noch einmal auf Papier und Leinwand nachzuahmen? Wahrscheinlich war es die Aufgabe des Künstlers, an sich langweiligen Dingen, wie einem Heuhaufen oder einem Tonkrug, durch raffinierte Kunstgriffe ein interessantes Aussehen zu geben, die Welt also imposanter erscheinen zu lassen als sie in Wirklichkeit war. Täuschung und Betrug, darauf lief das Ganze am Ende hinaus.
Natürlich konnte man auch abstrakt malen, aber das war letzten Endes auch nichts anderes. Man kleckste großspurig irgendetwas hin, was bedeutungsvoll aussehen sollte, verwendete vielleicht noch besonders raffinierte Techniken oder ausgefallene Materialien, gab dem Ganzen einen hochtrabenden Titel - und fertig war das Kunstwerk. Es gab immer genügend Dumme, denen so etwas imponierte und die dafür Geld ausgaben. Voraussetzung war allerdings, dass man in der Szene bekannt war, dass man einen Namen hatte. Danach richtete sich der Verkaufswert der Bilder. Der Erfolg eines Künstlers war letztlich nur eine Frage geschickter Reklame.
Derart in Gedanken vertieft, war ich in einen Seitenweg eingebogen, der von der Landstraße wegführte. Ich hoffte, eine Abkürzung nehmen zu können, da sich die Landstraße hier mäanderhaft durch die Gegend schlängelte. Der Weg verlief durch ein Wäldchen, das allmählich zu immer dichterem Wald wurde, anstatt sich zu lichten. Bald hatte ich jegliche Orientierung verloren und wusste nicht mehr, wo ich mich befand. Ich ging dennoch weiter, denn ich sagte mir, dass der Weg ja irgendwohin führen musste, und Umkehren hätte das Eingeständnis eines ärgerlichen Fehlers bedeutet.
Tatsächlich lockerte sich der Wald schließlich auf und wurde durch Büsche und vereinzelte Bäume abgelöst. Ich schritt zügiger aus, und plötzlich, hinter einer Wegbiegung, bot sich mir ein wunderbarer Ausblick. Zu meinen Füßen lag eine Stadt. Ihre Kuppeln und Türme leuchteten in smaragdenem Grün und schienen mich lebhaft zu grüßen. Ich erkannte einen stattlichen Dom, mehrere Kirchen und ein imposantes Schloss, umringt von den spitzgiebeligen Dächern alter Bürgerhäuser. Um die Stadt wand sich ein breiter Fluss, über den eine steinerne Brücke führte. Das alles überspannte ein heller, blauer Himmel mit vereinzelten weißen Wolken.
Ein Gefühl von Glück und Freude durchströmte mich. Der lange Weg hatte sich also gelohnt. Der Anblick der Stadt brachte eine bislang verborgene Saite in mir zum Klingen. Ich wusste plötzlich, dass ich Maler werden würde, und sei es nur, um dieses eine Bild zu malen, diese Stadt, die mir wie die Verheißung und zugleich Erfüllung einer großen Sehnsucht erschien.
Und mehr noch. Ich würde diese Stadt nicht nur malen, ich würde dort leben. Wo sonst auf dieser Welt könnte ich jemals glücklich sein. Nach diesem wunderbaren Ort hatte ich insgeheim gesucht, unsicher im Dunkeln tastend wie ein Blinder. Deswegen konnte mich bisher nichts zufrieden stellen, musste mich alles enttäuschen. Fast schon hatte ich resigniert. Beinahe hätte ich die großen Erwartungen, die ich einmal dem Leben gegenüber gehabt hatte, als naive Illusionen abgetan und wäre, wie so viele, zum Zyniker geworden.
Ich nahm einen Zeichenblock aus der Umhängetasche und begann Skizzen zu machen. Zunächst hielt ich die Umrisse der Stadt mit Kohle fest, ihre markanten Formen und einige charakteristische Details. Dann versuchte ich, mit rasch verteilten Farbtupfern das Atmosphärische, die besondere Ausstrahlung des Ortes wiederzugeben. So entstanden mehrere Blätter, die mir als Grundlage für ein größeres Bild dienen sollten, das ich später malen wollte. Die Zeit verging schnell und schließlich beschloss ich, vorerst Schluss zu machen. Es war inzwischen schon Nachmittag geworden. Ich packte meine Malsachen wieder ein, hängte die Tasche um und ging auf dem Weg weiter. Zunächst hoffte ich, zu neuen Aussichtspunkten zu kommen und mich der Stadt allmählich zu nähern, doch das erwies sich als Irrtum. Der Weg führte wieder in dichteren Wald hinein und nach einer ermüdenden Wanderung kam ich gegen Abend in ein kleines Dorf, das mir zumindest dem Namen nach bekannt war.
Durch den Ort führte eine Landstraße und ich ging zunächst zur Bushaltestelle unweit des Ortseingangs. Ein Blick auf den dort ausgehängten Plan sagte mir, dass heute kein Bus mehr fahren würde. Auch am nächsten Tag, einem Sonntag, nicht. Mit einem Mal fühlte ich mich schwach und erschöpft. Und ich merkte, wie hungrig ich war. Schließlich hatte ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Ich ging weiter in den Ort hinein und fand zu meinem Glück bald eine Gaststätte, einen schönen Dorfgasthof, direkt am Marktplatz gelegen. Müde, aber hoffnungsvoll betrat ich das alte Fachwerkhaus.
Die Gaststube war angenehm kühl und menschenleer. Ich lehnte meine Tasche an die Wand und setzte mich erleichtert an einen der Tische. Nach kurzer Zeit kam eine Frau mittleren Alters herein und brachte mir eine handgeschriebene Speisekarte. Ich bestellte eine Portion Bratkartoffeln mit Spiegeleiern und eine Cola. Später kamen noch einige andere Gäste, die sich an ihren Stammtisch setzten, Bier tranken und über die Ereignisse des Tages sprachen. Ab und zu blickten sie verstohlen zu mir herüber.
Als die Wirtin die Rechnung brachte, fragte ich, ob sie auch Zimmer zu vermieten habe. Sie bejahte, sagte, dass ein Zimmer frei wäre und nannte einen mäßigen Preis für eine Übernachtung mit Frühstück. Ich war froh, eine Unterkunft gefunden zu haben und sagte, ich würde über Nacht bleiben. Für heute war ich genug gelaufen. Die Wirtin zeigte mir das Zimmer, das sich im Obergeschoss des Hauses befand. Die Toilette wäre am Ende des Flures, erklärte sie, Frühstück gäbe es am nächsten Morgen bis zehn Uhr. Dann ließ sie mich allein.
Ich öffnete meine Umhängetasche und holte die Skizzen heraus, die ich tagsüber gemacht hatte. Sie waren nicht schlecht. Ja, die Blätter schienen sogar besonders gut gelungen zu sein. Eigentlich könnte ich sie schon so wie sie waren in meine große Präsentationsmappe aufnehmen, die ich bei meiner Bewerbung an der Akademie einreichen wollte. Aber ich würde auch noch ein ausgearbeitetes Bild anfertigen, wie ich es mir vorgenommen hatte. Das würde sicher einen guten Eindruck machen, erst die Skizzen und dazu das fertige Bild. Bald spürte ich, wie mich die Müdigkeit übermannte und ich legte mich schlafen.
In jener Nacht träumte ich, dass ich wieder den Waldweg entlangging. Ich hatte meine Tasche umgehängt und eine transportable Staffelei auf den Rücken geschnallt. Mein Ziel war die schöne unbekannte Stadt. Ich wollte dorthin, um für immer zu bleiben. Dort würden sich alle meine Wünsche erfüllen, das wusste ich ganz genau. Nach einer Weile kam ich erneut an die Wegbiegung, und dahinter strahlte mir die Stadt in ihrer ganzen Schönheit entgegen. Ich jubelte innerlich vor Freude auf. Jetzt sah ich auch, dass ein Weg zu der Stadt hinabführte, den ich zuvor übersehen hatte. Ich schlug ihn ein und kam bald an den Fluss, über den die breite, steinerne Brücke führte. Als ich hinüberging, wurde ich von gleißendem Sonnenlicht umflutet, das durch die glitzernde, von kleinen Wellen bewegte Wasseroberfläche vielfach reflektiert wurde. Außer mir waren noch andere Menschen auf der Brücke, die ebenfalls in die Stadt wollten, Handwerker und Händler offenbar. Ein Pferdewagen rumpelte an mir vorbei. Alle bewegten sich auf das große Tor am Ende der Brücke zu und verschwanden dahinter.
Schließlich hatte auch ich die Brücke überquert und näherte mich dem Stadttor. Da trat aus einem kleinen Anbau des Tores ein Polizist oder Stadtsoldat heraus. Er winkte mich zu sich heran. Die anderen Leute konnten passieren, offenbar kannte der Polizist sie oder fand zumindest nichts an ihnen auszusetzen.
"Wo soll es denn hingehen?", fragte mich der Stadtwächter. Er ähnelte dem Kinodirektor in meiner Heimatstadt. Aber natürlich konnte er es nicht sein. Sicher war die Ähnlichkeit rein zufällig.
"Ich will in diese schöne Stadt, um für immer dort zu bleiben", erwiderte ich unbefangen. Es war ja nichts Unrechtes, was ich vorhatte. Städte sind dazu da, dass Menschen in ihnen wohnen.
"So, so", antwortete der Wächter. "Du hast also vor, für länger zu bleiben. Wovon willst du denn leben, wenn man fragen darf? Hast du einen Beruf gelernt? Vermögen besitzt du ja wohl nicht. Wir können es uns nicht leisten, Habenichtse und Hungerleider durchzufüttern. Und betteln ist streng verboten, das sage ich dir gleich, damit du nicht hinterher behaupten kannst, du hättest es nicht gewusst."
Ich lachte über seine unsinnigen, kleinbürgerlichen Vorstellungen. Solche Leute können eben nur in bestimmten Schablonen denken. Ich sagte herablassend: "Da täuschen Sie sich, verehrter Herr Ordnungshüter. Ich bin kein Bettler, sondern Künstler, wie Sie ja an der Staffelei erkennen können, die ich auf dem Rücken trage. Das ist eine tragbare Vorrichtung, wie sie Kunstmaler benutzen. Auch van Gogh hatte so eine. Damit ging er in Frankreich in die Natur hinaus und malte Bilder, die heute in den bedeutendsten Museen hängen und Millionen wert sind. Vor einer solchen Staffelei hat er sich auch eine Kugel in die Brust geschossen. Er ist allerdings nicht sofort gestorben, sondern erst zwei Tage später."
Der Torhüter betrachtete mich mit wachsendem Misstrauen, ja fast schon unverhohlener Feindseligkeit.