Tag für Tag sitzt der alte Mann auf der Bank im kleinen Park hinter dem Theater.
Kaum jemand kennt die kleine, grüne Oase in dem Häusermeer hinter dem Schauspielhaus. Manchmal kommen einige Schauspieler auf die angrenzende Terrasse. Sie lehnen sich an das brüchige Holzgitter, ziehen hektisch an ihren Zigaretten. Gegenstand ihrer Unterhaltung ist immer das Schauspiel - und natürlich der Regisseur.
Die Welt um sie herum zählt nicht. Auch nicht der Alte auf der Knüppelholzbank. Er fällt nicht auf. Einer der wenigen Parkbesucher hat ihn schon einmal für ein seltenes Hartholzgewächs gehalten. Den stillen Menschen schmerzt das nicht.
Früher, früher hätte er sehr unter Nichtbeachtung gelitten. Doch den Jahrmarkt der Eitelkeiten hat er vor vielen Jahren verlassen. Er ist mit seinem derzeitigen Leben völlig zufrieden.
Kalt ist es geworden. Der Herbst kündigt sich an. Starker Wind treibt die bunten Blätter von den Zweigen.
Ein junger Mann, nur in T-Shirt und Jeans gekleidet, steht allein auf der Veranda. Er scheint nicht zu frieren. Nur die Hände zittern. Es gelingt ihm nicht, die beruhigende Zigarette anzuzünden. Wütend schmeißt er sie auf den Boden, zermalmt sie brutal mit seinem Stiefelabsatz. Langsam schlendert der Schauspieler durch den kleinen Park.
Der alte Mann beobachtet den jüngeren. "Hoffentlich setzt er sich nicht zu mir auf die Bank", denkt Jonathan ängstlich. Seit langem nennt sich der Alte Jonathan. Jonathan ist das Code-Wort, der Schlüssel für eine ganz besondere Tür im "Haus des Lebens" dieses Menschen. Er gestattet sich nur selten, diese Tür zu öffnen. In dem Raum der Vergangenheit hat sein echter Name einen viel zu lauten Klang.
Der junge Mann setzt sich auf die Bank. Er bemerkt seinen Nachbarn nicht. Zu sehr ist er mit sich selbst beschäftigt.
Der Alte verhält sich still, wagt kaum zu atmen. Unaufdringlich betrachtet er seinen Nebenmann. Starkes Gesicht. Die leicht gebogene Nase passt zu dem schön geschwungenen Mund. Um die schwarzen Endlos-Wimpern und das dunkle, wellige Haar werden ihn Frauen und Männer gleichermaßen beneiden. Nicht mal das kleine, etwas weich anmutende Kinn wirkt störend. Im Gegenteil. Es verleiht dem Gesicht etwas kindlich Reizvolles. Allein sein Äußeres kann ihm zu einer steilen Karriere verhelfen. Sollte er charakterlich auch noch stark sein, kann nichts diesen jungen Kerl aufhalten.
Die schmalen Hände des Jungen schließen und öffnen sich unentwegt. Der Brustkorb hebt und senkt sich nervös.
"Zu angespannt, viel zu aufgeregt", denkt Jonathan.
"Wie, was?" Erschreckt schaut Mario Miller zuerst nach rechts, dann nach links, stellt fest, dass er nicht allein ist.
Zornige Blicke aus eisblauen Augen treffen den Alten.
"Habe ich dich um deine Meinung gefragt, du Penner? Was geht dich meine Aufregung an? Lass mich bloß in Ruhe. Verschwinde!"
"Ich muss wohl wieder einmal laut gedacht haben", murmelt Jonathan. Er entschuldigt sich, bleibt aber auf seinem Platz sitzen.
"Komischer Kauz, dieser Alte. Sein Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor. An wen erinnert er mich nur? Wahrscheinlich an niemanden. Alte Leute sehen alle gleich aus. Der hier ist auch nur so ein Rentner, der mit seiner Nutzlosigkeit nicht klar kommt."
Ohne Jonathan weiter zu beachten, verlässt der Schauspieler die Bank, geht ins Theater.
"Ach ja, auch ich habe mich zeitweilig für Dorian Grey gehalten", denkt der stille Mann. Er nimmt dem Jungen das schlechte Benehmen nicht übel.
Unbeirrt behauptet Jonathan in den nächsten Tagen seinen Platz auf der Knüppelholzbank. Gerne beobachtet er die jungen Leute auf der Veranda.
Mario verbringt seine Pausen immer allein. Auch heute geht er durch den Park. Sein Gesicht zeigt ein sattes Lächeln. Seine Bewegungen sind weder fahrig noch nervös. Er setzt sich auf die Bank.
"Na, Alter, willst du die letzten sonnigen Herbsttage genießen?"
Der Alte nickt, schaut mutig in Marios blitzende Augen. "Sie sehen sehr zufrieden aus. Irgendetwas ist heute gut gelaufen, nicht wahr?"
Bewusst vermeidet Jonathan das vertrauliche Du. Distanz hat ihn sein Leben lang begleitet. Hinter ihrem Schutz hat er sich stets sicher gefühlt.
Der junge Mann lehnt sich zurück, verschränkt die Arme vor der Brust. "Ich habe es geschafft! Die Hauptrolle ist mir sicher. Beinahe wäre mir der Rote zuvorgekommen. Aber den brauche ich nicht mehr zu fürchten. Der Regisseur hat endlich begriffen: Leute wie der Rote Lothar haben auf der Bühne nichts zu suchen. Natürlich habe ich dem Chef die Augen geöffnet. Wer will schon einen süchtigen Mitarbeiter?"
"Erfolg zu haben ist wunderbar. Meinen Glückwunsch! Natürlich mussten Sie Ihren Chef informieren. Sie sind noch sehr jung. Doch Sie haben schnell gelernt. Wenn Ihr Schauspiel nur annähernd so gut wie Ihr Intrigenspiel ist, haben Sie eine steile Karriere vor sich."
Jonathan erhebt sich, will unverzüglich den Park verlassen. Der junge Mann ist ihm zuwider.
Mario springt auf. Er zerrt den Alten auf die Bank. "He, was fällt dir ein, du altes Wrack? Nennst mich einen Intriganten. Nimm das sofort zurück! Wer bist du eigentlich? Seit Tagen denke ich über dich nach. Du kommst mir bekannt vor, aber ich kann dich nicht einordnen. Wieso verbringst du deine Zeit hier? Meine Kollegen und ich wissen sehr wohl, dass du uns beobachtest. Was gibt dir das? Bist du vielleicht ein Spanner? Oder fühlst du dich in der Nähe von jungen Menschen jünger, oder was?"
Jonathan räuspert sich verlegen. "Interessiert es Sie tatsächlich, wer ich bin, oder haben Sie jetzt einfach nur Ihre Wut herausgelassen? Wut hält das schlechte Gewissen in Schach. Ich weiß es nur zu gut. Sie und ich, wir beide sind aus dem gleichen Holz geschnitzt. Es ist ein gutes Holz. Hart und trocken. Leider habe ich über viele Jahre nicht bemerkt, dass es langsam aber sicher durch Fäulnis ausgehöhlt wurde. Ich mag Sie nicht besonders, junger Mann, dennoch möchte ich Sie vor dem Prozess der innerlichen Zerstörung bewahren. Erlauben Sie mir, Ihnen von dem Wendepunkt meines Lebens zu erzählen. Bis heute habe ich mit niemandem darüber gesprochen. Dort wo ich jetzt lebe, kennt man mich und mein Geheimnis zum Glück nicht."
Ernst, nicht bittend, schauen braune, leicht wässrige Augen in kalte blaue.
Mario vergisst seine Wut. Er setzt sich wieder neben Jonathan. "Na, dann schieß mal los, Alter, bin richtig gespannt. Aber beeil' dich. Meine Pause ist in 15 Minuten vorbei."
"So lange brauche ich gar nicht. Auch ich konnte mir nur ein Leben auf den Brettern, die die Welt für Leute unseres Schlages bedeuten, vorstellen. Besessenheit, Ehrgeiz, Selbstüberschätzung und ein Paar sehr spitze Ellenbogen waren meine treuen Weggefährten. Hindernisse räumte ich leicht aus dem Weg. Ein Gerücht hier oder da, falsche Freundlichkeit zu den Kollegen, auch eine abstoßende Arschkriecherei beim Intendanten oder Regisseur ebneten den Weg einer großen Karriere. Mit der Zeit schaffte ich es, alle aufstrebenden Schauspieler neben mir klein zu halten oder für ihren Rausschmiss zu sorgen. Ich hatte Macht. Ausgelebt und genossen habe ich sie. Das Schicksal meiner Kollegen war mir völlig egal. Es kamen ja immer neue Schauspieler nach. Wie viele Hoffnungen ich zerstört habe, weiß ich nicht. Noch mit über vierzig wollte ich nicht auf die Rolle des jugendlichen Liebhabers verzichten. Ich merkte nicht, dass ich peinlich wurde. Ein junger Mann, ein Typ wie Sie, hatte für die Rolle des Romeo vorgesprochen. Eine ernst zu nehmende Konkurrenz. Man war ihm gewogen. Ich nicht! Andere Charakterrollen hatte ich außer Acht gelassen. Selbstverständlich habe ich alle Register des Intrigenspiels gezogen. Es half nichts. Der neue Intendant versuchte mir schonend beizubringen, in ein anderes Fach überzuwechseln. Meine Enttäuschung, die Wut, der zerfressende Neid auf den Neuen ist allen entgangen. Tag und Nacht schmiedete ich Pläne. Du hast bis jetzt noch jeden aus dem Rennen geschmissen; auch dieses Mal wird es dir gelingen, spornte ich mich an.
Die Gelegenheit kam schneller als erwartet. Am frühen Morgen sah ich mir die neue Bühnendekoration an. Der Balkon für Romeo und Julias Szene hatte eine verstärkte Brüstung bekommen. Gefiel mir gut. Störend war nur der junge Schauspieler. Mit dem Drehbuch in der Hand lehnte er sich an das Geländer. Laut las er den Part des Romeo. Er hatte den Job bekommen, vorläufig noch als Zweitbesetzung.
Wie es zum Streit kam, kann ich nicht mehr sagen. Die Handgreiflichkeiten spüre ich heute noch. Auch den dumpfen Aufschlag höre ich viel zu oft. Aus vier Metern Höhe stürzte mein neuer 'Kollege' auf die Bühne. Mit verrenkten Gliedern lag er da. Das Entsetzen hat mich nie mehr losgelassen. Natürlich wollte ich diesen Menschen vertreiben. Aber doch nicht so!
Zwei Leben wurden an diesem Tag zerstört.
Widerspruchslos habe ich mein Urteil angenommen. Seit vier Wochen bin ich vor dem Gesetz wieder ein freier Mann. Vor mir selbst nicht. Tag für Tag, Stunde für Stunde setze ich mich mit diesem Erlebnis auseinander. Leider kann ich die Zeit nicht zurückdrehen und alles ungeschehen machen. Ich würde so gern noch ein Mal vor dem Beginn einer Karriere stehen. Heute glaube, nein weiß ich, dass ein echtes Talent sich auch ohne Intrigen durchsetzen kann. Sie, Mario, sind noch jung. Sie können sich ändern. Mein furchtbares Geheimnis sollte für Sie Anlass genug sein, den ehrlichen Weg zu gehen."
Still sitzen der alte und der junge Schauspieler auf der Bank.
"Ich weiß es endlich, ich weiß es! Sie sind der große Götz Wittenberg. In meiner Garderobe, hinter dem Kleiderständer hängt ein uraltes Plakat. Es zeigt Sie als Romeo. Wusste ich doch, dass ich Sie schon mal irgendwo gesehen habe."
Mario ist zum respektvollen Sie übergegangen. Er merkt es nicht.
"Von Ihnen habe ich viel gehört. Würden Sie mir ein Autogramm auf das Plakat schreiben, ja? Ich hole es schnell."
Die Bank ist leer, als Mario zurückkommt. Den Alten Mann hat er nie wieder gesehen.
Zehn Jahre später.
"Ach, ich freue mich so!" Das zierliche Mädchen strahlt den neuen Kollegen an. "Die Erstbesetzung ist krank. Heute darf ich endlich die Julia spielen. Mit Mario! Entschuldige, du kennst unseren Mario Miller noch gar nicht. Du weißt nicht, welche Ehre mir heute widerfährt."
"Einen Mario Miller kenne ich sehr wohl. Der ekeligste und intriganteste Mensch, mit dem ich vor zehn Jahren an diesem Theater zu tun hatte."
"Das kann aber nicht unser Mario sein. Der kümmert sich hier um alle Kollegen. Er hilft uns bei jeder Gelegenheit. Mit mir hat er auch schon mal eine Rolle einstudiert, mit Geduld und Ruhe meine Fehler korrigiert. Du kannst hier jeden fragen. Alle mögen Mario."
"Zwei Schauspieler mit dem gleichen Namen gibt es nicht. Ich gehe zur Bühne. Dort wird sich dein Mario wohl aufhalten."
Nachdenklich verlässt der Rote Lothar die Garderobe. "Und wenn es doch mein ehemaliger Kollege ist? Dann muss irgendetwas passiert sein!"