Man kann die Empfindungen anderer nur deuten. Sie bleiben schummerig, angedeutete Schatten, die um einen kreisen, die sich auf Gehwegen überkreuzen und hastig, vielleicht zwischen Bäumen, wieder aus dem Blickfeld verschwinden. In einer Großstadt ist Vegetation schon ein Kunstwerk, der Traum der Natur zusammengepfercht und im Muster angeordnet. Irgendwo bellt ein Hund. Ansonsten nur Häuser, Quadrate, aneinandergereiht, Flucht über Treppen.
Dazwischen eine versilberte Fabrikhalle voller Gespenster. In Aluminium gekleidete Wände ... Alles soll schimmern, soll reflektieren, soll ablenken von einem selbst. Ein getarntes Atelier. Der Künstler schweigt und kaut Kaugummi.
Plötzlich findet man sich selbst sitzend vor einer Leinwand wieder, die staubig und grau an der Wand klebt. Unbequem auf diesem kleinen Hocker sitzt man steif und erwartet eine Handlung.
Ein seltsamer Geruch nach Erinnerung und Phantasie. Das Aufschlagen eines Bildbandes mit grausigen, bunten Bildern. Grelle Drucke von Berühmtheiten, jegliches Sein daraus verbannt. Dann Photos von verharrenden Menschen mit starren Augen.
Drei Minuten muss man sitzen ..., drei Minuten in eine Kamera starren, wenig Bewegung, am besten nicht blinzeln.
Wir schaffen lebendige Tote.
Der Künstler steht gähnend, immer versteckt hinter seinem surrenden Gerät. Vielleicht träumt er von einem anderen Leben. Manchmal holt er sich Kaffee, wie diese gelangweilten Psychiater, wenn sie den Neurosen ihrer Patienten lauschen. Kunst als Therapie. Hier mal ganz anders. Überall liegen verstreute Tonbandgeräte wie Warnungen ... Die Menschen müssen festgehalten, aufgezeichnet, verstaut werden. Wenige akzeptieren das Vergängliche, die eigene Bedeutungslosigkeit. Weite Streuungen, zur Nichtigkeit reduziert. Hunderte an Stimmen, hunderte an Leben, wenn schon kein Bild malen, dann wenigstens die Oberfläche skizzieren. Ein ganzes Leben in drei Minuten auf Celluloid gebannt. Die Zeit ist eine Spirale, windet sich immer schneller. Es bleibt kein Raum für endlose Sitzungen. Im Laufe der Zeit haben die Maler trotzig ihre Pinsel fortgeworfen. Reste davon mit Zahnabdrücken auf dem Betonboden der Fabrikhalle. Das Zerwürfnis ist beendet.
Kleine Filme nun, ratternd gespult im Hintergrund. Darin Menschen in steifer Haltung, mit Blick nach vorne, direkt in die Linse. Niemand darf reden. Soll still verharren, zur Statue werden ... Michelangelo hat seine Statue aus einem einzigen Stück Stein gefertigt. Weggehauen, was an Überflüssigem vorhanden war, bis nur noch die Seele übrig blieb. David, lebendig in Marmor, geschaffen für eine Andeutung von Ewigkeit. Auch der Künstler behaut seinen Stein, fertigt Persönlichkeiten für die Ewigkeit. Seine Ewigkeit besteht aus Massenproduktionen, reduziert auf drei Minuten, er muss alles herausholen, was in dieser Hektik möglich ist. Er richtet seine Kamera so lange auf Menschen, bis sie unsicher werden, Gefühle zeigen, erstarren oder zum Clown werden. Er kitzelt Emotionen aus ihnen heraus und überlässt sie schwebend und nackt sich selbst. Das Kunstwerk ist unabhängig vom Künstler. Er selbst sammelt nur noch Schachteln voller Papierschnipsel und Fotos. Als hätten sie eine Bedeutung dadurch, dass sie existieren.
Doch hier ist man alleine. Man sitzt auf diesem Ersatz von Stuhl, schiebt das Gesäß hin und her, nicht aus der unbequemen Position heraus, vielmehr ungeduldig, nervös. Mit einem Knistern zucken nun Zahlen und Kreise über die aufleuchtende Leinwand, wie Blitze, die einen erschrecken sollen.
Der Künstler ist längst tot. Nur noch einmal aufgefrischt in der Erinnerung mit kalten Augen, mit Perücke und der starren Maske seines Gesichtes, jetzt noch starrer. Hier dürfte niemand sein.
Sequenzen ... immer im Verdacht vertieft, ständig deutet man die Hintergründe, die sich nicht deuten lassen. Erinnerungen, schlechtes Wetter, Besinnungen, die Liebe. Alles hinterfragt man, und gerade darum ist man Mensch. Die Leinwand knistert.
In Wellen formt sich die eigene Reflexion, das eigene Gesicht, riesig und stumm, verängstigt und erstaunt, blau, schattiert, mit geometrischen Zügen.
Zuerst starrt man nur. Das Selbst so unabdingbar vor Augen zu haben, jedes Detail in erstaunlicher Genauigkeit, da spielt man schon mal mit der Mimik, verzieht den Mund, beißt sich auf die Lippen, bleckt die Zähne, ist der Bewegungen aber schnell überdrüssig, weil man sich beobachtet fühlt.
Und dann dieses grauenhafte Schweigen.
Man blickt sich um, die Stirn in Falten gezogen, versucht das Hinten, das Danach zu ergründen. Ein schwarzes Loch saugt alle Materie in sich und hinterlässt kein Licht und keine Klarheit.
"Wer bist du?", hört man eine Stimme sprechen. Man ist wütend und beschließt, nicht zu antworten. Das führt zu weit. Der Blick ins Innere wird nicht geduldet. Und doch sitzt man hier, lässt Bilder vor den eigenen Augen entstehen, zügelt seine Unsicherheiten. Man fühlt sich hereingelegt, weil man kein Geräusch, keine Bewegung vernimmt. Nur die Stimme wiederholt ihre Frage, unabdingbar, ohne Erschöpfung. Die Ausdauer ist bewundernswert. Man möchte doch aufstehen, ein bisschen im Raum herumschleichen, aus dem Fenster blicken. Doch, hier gibt es keine Fenster.
Man wartet weiter, ruft ein paar Belanglosigkeiten in den Raum. Denn egal, wo man sich befindet, man geht trotzdem und grundsätzlich davon aus, dass schon irgendwer zuhören wird. So alleine man sich auch glaubt, so bedingungslos hält man an einer zweiten Meinung fest. Ein immanenter Drang nach Bestätigung, und wenn es nur ein Echo ist.
Dann bemerkt man, dass sich das eigene Gesicht auf der Leinwand langsam verändert, sich entstellt, in eine Anamorphose gestaltet. Alles bleibt offen für Deutungen.
Der Mund formt Wellen von Trotz und Unsicherheit, zeigt diese kleine, nackte Seele in aller Offenheit.
Man bemerkt das Abdriften, das Zurechtrücken durch eine höhere Macht. Dann ertönt ein schallendes Lachen.
Man ist geduckt unter der Allmächtigkeit der eigenen Gedanken. Sie quälen Vermutungen, schaffen Gitter an Ängsten, bauen die Mauer, in denen das Echo klingt.
Die Leinwand wiederholt die eigenen Belanglosigkeiten unzählige Male. Ein grausamer Widerhall an Selbsterkenntnis. Man fühlt sich, als stände man tatsächlich auf einem Berg, brülle gegen die Felsen, um eine Antwort zu erhalten, und löse dabei eine Lawine aus.
Sind da Schatten? Tanzt da eine Seele um das eigene Bedauern? Man wirft das Gesicht in alle Richtungen, nur, um sich nicht mehr selbst auf der Leinwand zu sehen.
Und gerade, als einem der Kopf zerspringen will, besinnt man sich und spürt ein leicht schwingendes Vibrieren im ganzen Körper.
Eine kurze Ahnung dämmert durch das Geistesgut.
Der Künstler hat wohl selbst Angst gehabt.
So hört man auf zu warten. Man hört auf zu lachen.
Die Leinwand erlischt wieder zu einem grauen Fetzen an der Wand.
Die eigenen Gefühle erschaffen die größten Täuschungen.
Drei Minuten für diese Erkenntnis ... Das war knapp.