Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Während ihr Blick durchs Fenster hinaus ins Leere starrte, grübelte sie, wie sie wohl aus dieser ausweglosen Situation herauskommen könnte. Es war unglaublich naiv gewesen, zu glauben, niemand in der Firma würde den kurzzeitigen Verlust von zwei Millionen Euro bemerken.
Diese Summe hatte sie von einem Firmenkonto im Ausland transferiert, um damit einige einflussreiche Leute zu bestechen, die ihrem Arbeitgeber dann den aussichtsreichen Auftrag zum Bau eines Hundertfünfzig-Millionen-Wohn-und-Geschäftskomplexes erteilten. Aber nur so hatte sie eine Chance gehabt, dieses Projekt gegen die zahlreichen Mitbewerber an Land zu ziehen.
Steve von der First International Bank hatte ihr den Gefallen getan, die Transaktion als Rechnungsbuchung einer Materialanforderung einer Scheinfirma zu tarnen. Dafür hatte sie sich bereit erklärt, ihn ein Wochenende lang auf seine Finca auf Teneriffa zu begleiten...
Sie fuhr erschreckt zusammen, als der ICE an einer Lärmschutzwand vorbeifuhr und sich das leise Fahrgeräusch abrupt zu einem fauchenden Rauschen steigerte.
Nervös fingerte sie eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Sie nahm ein paar tiefe Züge und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Warum musste sich diese verdammte Steuerfahndung auch gerade jetzt ankündigen? Erst vor einem knappen Jahr hatten sie die Firma komplett auf den Kopf gestellt und dabei nichts gefunden. Sheryll war sich danach sicher, dass sich die Schnüffler erst in drei oder vier Jahren wieder blicken lassen würde. Aber jetzt? Als sie in den Zug gestiegen war, hatte sie noch einmal im Büro angerufen. Conny, ihre Sekretärin, hatte ihr mitgeteilt, dass die Steuerfahndung wohl heute Nachmittag über die Bühne gehen müsste. Alle Mitarbeiter waren angewiesen worden, erst dann nach Hause zu gehen, wenn es ihnen von den Beamten erlaubt werden würde.
Da Sheryll nicht unmittelbar in der Buchhaltung arbeitete und am Nachmittag auf der Konferenz in Frankfurt mit der Projektleitung sprechen sollte, hatte man sie gehen lassen.
Aber es gab keinen Ausweg. Sie hatte Steve in der Bank nicht erreicht.
Und wenn schon? Die Zeit wäre zu knapp gewesen, um zwei Millionen zu transferieren. Außerdem - woher nehmen, wenn nicht stehlen? Die Sache war geschickt eingefädelt, wenn alles nach Plan gelaufen wäre. Sie hatte die Baukosten mit Absicht etwas höher geschraubt, um einen kleinen finanziellen Spielraum zu haben. Und was waren schon zwei Millionen bei einer Summe von 150 Millionen? Peanuts! Sheryll lachte bitter.
Sie hatte überlegt, ob sie sich heute morgen schon stellen sollte. Dann hätte dieses bohrende Gefühl in der Brust endlich ein Ende gehabt. Doch sie hatte nicht den Mut, es zu tun. Solange es eben möglich war, wollte sie diesen Moment der Niederlage hinauszögern. Solange es noch eine Möglichkeit gab, sich der Verantwortung zu entziehen, wollte sie lieber davor davonlaufen.
Der Zug fuhr bereits durch die Frankfurter Außenbezirke. Sie fühlte, wie er allmählich langsamer wurde. Die Gleise teilten sich mehrmals und das erste "Klack-klack", als der Zug über eine Weiche fuhr, erinnerte Sheryll plötzlich wieder daran, dass sie über eine Stunde zu früh in Frankfurt eintreffen würde!
Sie erhob sich aus dem Sitz, strich das teure Kostüm glatt, das sie extra für dieses Meeting gekauft hatte und holte den kleine Aktenkoffer aus dem Fach über ihr. Als der Zug einige Sekunden an einer Lärmschutzwand vorbeifuhr, betrachtete sie ihr Spiegelbild in der tadellos blank polierten Fensterscheibe ihres Erste-Klasse-Abteils.
Ihr gefiel, was sie da sah: Eine erfolgreiche Karrierefrau, Anfang vierzig, gepflegt mit dunklen langen Haaren, die sie heute zu einem kleinen Arrangement hochgesteckt hatte. Das machte einen seriöseren Eindruck auf ihre Gesprächspartner.
Nein, es war zu früh, um einfach ein paar Jahre ihres Lebens hinter Gefängnismauern zu verbringen. Sie würde es ihnen so schwer wie möglich machen. Aber die Zeit drängte und sie hatte noch keine Ahnung, wie sie ihren Kopf aus der Schlinge ziehen sollte...
Auf dem Bahnhofsvorplatz nahm sie sich ein Taxi, nannte dem Fahrer die Adresse ihres Hotels und setzte sich absichtlich in den Fond des Wagens, um einem Gespräch mit dem Fahrer aus dem Weg zu gehen. Außerdem erinnerte er sich dann nicht so leicht an sie, falls sie doch schnell verschwinden musste.
Sie musste nachdenken. Es musste doch einen Weg aus der Zwickmühle geben. Es musste einen geben...
Auf Karls Stirn stand kalter Schweiß. Immer wieder spähte er hinüber zum Turm, der in einer hübschen Gartenanlage stand, die wiederum Bestandteil einer kleinen Festung war. Der Turm war aber eindeutig das älteste Teilstück der Festung, die gerade aufwändig saniert worden und jetzt auch zur Besichtigung frei gegeben war.
Wie hatte er das nur tun können? Wie konnte er nur auf die Schnapsidee kommen, eine Bank zu überfallen würde alle seine Probleme lösen? Aber er hatte es getan. Und die Schlinge um seinen Hals wurde immer enger: Mehrere Streifenwagen waren bereits an seinem geparkten Wagen vorbei gefahren, und eine Fußstreife kontrollierte auf der anderen Straßenseite gerade einen jungen Studenten, dessen lange, ungepflegte Mähne ihn wohl verdächtig gemacht hatte.
Noch suchte die Polizei nach einem Mann mit Sonnenbrille, Schnurrbart und mit einem Blaumann bekleidet. Diese Sachen lagen allerdings bereits zusammen mit einem Stein in einer Plastiktüte auf dem Grund des Mains, wo er sie gleich nach dem Überfall losgeworden war. Jetzt trug er einen dunklen Nadelstreifenanzug. Sein Blick fiel auf den Aktenkoffer, der neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Man sah ihm nicht an, dass er Geldbündel im Wert von ungefähr zwei Millionen Euro beinhaltete. Eine hübsche Summe, die ihn aller seiner Sorgen entledigen sollte...
In der letzten Zeit waren ihm die Schulden über den Kopf gewachsen. Als er dann noch eine beträchtliche Summe in ein zwielichtiges Aktienpaket investiert hatte und dieses dann vollends den Bach runter ging, sah er nur noch einen Ausweg. Aber den hatte er jetzt schon bereut. Sein Leben war endgültig verpfuscht. Er war ein Verbrecher geworden! Verzweifelt tastete er nach der Pistole in der Innentasche seiner Jacke. Eigentlich sollte sie mit den anderen Sachen zusammen im Fluss sein, aber er hatte sich dann doch anders entschieden. Vielleicht würde er sie noch brauchen, wer weiß?
Die Polizisten hatten den Studenten nach gründlicher Überprüfung wieder ziehen lassen. Einer sprach nun in sein Sprechfunkgerät und sah dabei genau zu Karl herüber. Verdammt! Wie verdächtig musste einer aussehen, der minutenlang in seinem Wagen sitzen blieb, während um ihn herum nach einem Bankräuber gefahndet wurde?
Karl öffnete die Tür, langte nach dem Koffer neben sich und hielt sein Handy ans Ohr. Es sollte so aussehen, als ob er gerade ein Gespräch im Wagen geführt hatte und deshalb sitzen geblieben war. Außerdem hoffte er, so den Eindruck eines seriösen Bankers zu machen. Vielleicht würden ihn die Beamten während eines Telefongesprächs unbehelligt lassen. Karl sah sich um und überquerte die Straße. Als er in Hörweite der Beamten kam, brüllte er ins Telefon: "Herrgottnochmal! Ich sagte, weg mit den Fondsanteilen, die liegen uns nur schwer im Magen. Nein, das hat nicht Zeit bis morgen! Ich verlange, dass das heute noch über die Bühne geht. Wenn ich gleich ins Büro komme, haben Sie das erledigt, Schönberger, hab ich mich deutlich genug ausgedrückt?"
Einer der Polizisten sah ihm zwar hinterher, aber in diesem Moment hatte Karl die hohe Hecke der Parkanlage erreicht und verschwand dahinter.
Verstohlen sah er sich über die Schulter hinweg um. Er konnte aber nicht erkennen, ob ihm die Beamten folgen würden. Er klappte sein Handy zu und schob es in die Innentasche seiner Jacke. Dort klackte es gegen die Pistole. Karl erschrak. Hastig sah er noch einmal über die Schulter und beschleunigte seine Schritte. Er sah nur einen Ausweg. Er musste diesen Turm erreichen, bevor die Bullen um die Ecke biegen würden. Dann war er außer Sichtweite und hatte erst einmal etwas Zeit gewonnen. Karl begann zu laufen. Die nackte Angst trieb ihn jetzt. Mit mächtigen Schritten erreichte er die schwere Eichentür und riss sie mit Schwung auf. Eine moderige, staubige Luft stieß ihm entgegen und er konnte im ersten Moment nichts erkennen. Hastig trat er ein und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Das donnernde Geräusch hallte noch sekundenlang nach in der Stille zwischen den dicken Mauern. Er atmete schwer nach dem kleinen Spurt durch den Park. Nach einigen Sekunden hatten sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt. Direkt vor ihm führte eine alte, ausgetretene Steintreppe nach oben. Da es der einzige Weg war, den er einschlagen konnte, hetzte er, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Als er zweimal der Treppe rund um den Turm gefolgt war, erreichte er eine Zwischenebene. Durch einen schmalen Spalt in der Mauer, offenbar eine Schießscharte, fiel gleißendes Tageslicht. Karl kniff die Augen zusammen und spähte hindurch. In einiger Entfernung entdeckte er die beiden Polizisten, die den Weg zum Turm eingeschlagen hatten. Der größere von beiden sprach immer noch ins Funkgerät, während er sich intensiv umsah. Der andere folgte ihm in einigem Abstand und beobachtete die wenigen Leute, die im Park anzutreffen waren.
Karl geriet in Panik. Er griff nach der Pistole und zog sie aus der Jackentasche. Sein Puls raste und das lag nicht nur an den Treppenstufen, die er eben bewältigt hatte. Sein Blick folgte den Beamten, bis sie unter ihm den Turm erreicht hatten und aus seinem Sichtfeld verschwanden. Seine Gedanken überschlugen sich. Obwohl er nicht mehr sehen konnte, was vor sich ging, konnte er es sich lebhaft vorstellen: Nachdem der größere Verstärkung angefordert hatte, würden sie in wenigen Augenblicken den Turm betreten. Sie würden mit den Waffen im Anschlag Stufe um Stufe den Turm erklimmen, der eine den anderen mit der Waffe sichernd, während dieser den nächsten Treppenabsatz zu erreichen versuchte. Es war aus! Karl gab sich noch maximal sechzig Sekunden, bis er auffliegen würde und sich die Handschellen um seine Gelenke schließen würden! Doch er hatte noch die Waffe. Sollte er sich verteidigen? Aber er war kein guter Schütze. Selbst in der Bank hatte er niemals in Erwägung gezogen, die Pistole zu benutzen. Wenn man ihn allerdings mit der Pistole in der Hand stellen würde, hatte er keine Chance mehr. Die Bullen würden ohne Warnung sofort schießen... Er musste eine Entscheidung treffen. Jetzt sofort und hier. Unten öffnete sich quietschend die schwere Eichentür. Die Gewissheit, dass jetzt in wenigen Augenblicken alles ein Ende haben würde, ließ Karl eiskalt erschauern. Er ließ die Schlösser des Koffers aufschnappen und klappte den Deckel zurück. Da lagen die Bündel, sauber verpackt mit den Bandarolen der Bank. Mit einem irren Gesichtsausdruck betrachtete er den Inhalt des Koffers, der ihm in wenigen Augenblicken nichts mehr nützen würde. Und plötzlich wusste er, wie er aus der Sache herauskommen würde. Er hob die Waffe und setzte den kalten Stahl an die Schläfe. Als er abdrückte, wurde der Schuss von dem donnernden Geräusch der unten ins Schloss fallenden Tür nahezu verschluckt...
*
Sheryll sah während der Fahrt durch die Mainmetropole zwar aus dem Fenster, aber sie nahm kaum wahr, was draußen an ihr vorbeizog. Ihre Gedanken jagten sich und überschlugen sich sogar zeitweise. Sie kramte im Aktenkoffer nach ihren Zigaretten, als sie das Nichtraucherschild im Wagen bemerkte. Einen Moment überlegte sie, ob sie es ignorieren sollte. Durch einen Streit mit dem Fahrer würde er sich später aber nur allzu gut an sie erinnern... Seufzend ließ sie die Packung wieder in den Koffer gleiten.
Das Taxi wurde langsamer und musste schließlich am Ende einer langen Autoschlange anhalten. Sheryll sah am Rücken des Fahrers vorbei nach vorne, um den Grund dafür zu erhaschen. Sie konnte allerdings den Anfang des Staus nicht erkennen. Auf der anderen Straßenseite erstreckte sich eine Grünanlage, die von einer mannshohen Hecke umgeben war. Mehrere Eingänge, die kunstvoll in die Hecke geschnitten worden waren, ermöglichten den Zugang. Hinter der Hecke erkannte sie in einiger Entfernung eine Art Burganlage, deren Blickfang eindeutig ein beeindruckender, mittelalterlicher Turm war.
Ein weiterer Blick durch die Scheibe sagte ihr, dass sich der Stau nicht so schnell wieder auflösen würde. Sie erkannte zwei Streifenpolizisten auf der anderen Straßenseite, die gerade einen jungen Studenten mit Bob-Marley-Frisur kontrollierten. Erst jetzt fiel ihr auf, dass mehrere Streifenwagen in einiger Entfernung an Fahrbahnrand parkten. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Obwohl sie unmöglich der Grund für diese massive Polizeipräsenz sein konnte, durchfuhr sie ein eisiger Schreck. Sie konnte nicht hier bleiben. Während sie den Betrag auf dem Taxameter beobachtete, öffnete sie ihre Geldbörse und zog einen Zwanziger heraus.
"Würden Sie mich bitte hier absetzen?", bat sie den Fahrer und reichte ihm den Schein über die Schulter. Der griff nach ein paar Münzen, die auf der Ablage neben ihm lagen.
"Nein, lassen Sie, der Rest ist für Sie!", meinte Sheryll und öffnete ihre Wagentür. Sie nahm den Aktenkoffer vom Sitz und ließ dir Tür ins Schloss fallen. Als sie sich umdrehte, um die Strasse zu überqueren, bemerkte sie, wie die Streife dem Studenten gerade seine Papiere zurückgab und sich verabschiedete. Sie nutzte eine Lücke im Verkehr und steuerte einen der Durchgänge in der Hecke an. Sheryll hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte.
In einiger Entfernung entdeckte sie den Turm. Instinktiv hatte sie das Gefühl, hinter den dicken Mauern wäre sie sicher. Obwohl sie gerne ins Laufen gefallen wäre, zwang sie sich, langsam weiter zu gehen. Sie hatte das Gefühl, die Blicke der Polizisten im Rücken spüren zu können, die offensichtlich auch den Park betreten hatten. Was sollte sie tun? Sie ging zielstrebig auf eine Bank zu, die in unmittelbarer Nähe zum Eingang des Turms stand. Während sie sich setzte, zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte ihre eigene Nummer im Büro. Sie betete, dass Conny ihrerseits gerade telefonieren würde und den Anruf nicht entgegen nehmen würde. Es sollte nur so aussehen, als ob sie ein Gespräch führen würde, bis die Beamten an ihr vorbei gegangen waren. Als diese aber näher kamen, entspannte sich Sheryll wieder. Der größere sprach gerade ins Funkgerät und sie erfasste die Wortfetzen: "Wir haben verdächtige Person verloren." Er ging vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Ein paar Schritte hinter ihm folgte der kleinere von beiden. Dessen Blick allerdings fiel beunruhigend lange auf sie und sie bemerkte, wie sich schlagartig ihre Gesichtsfarbe in ein aufregendes Rot verwandelte, dessen Grund ihr schlechtes Gewissen war!
Plötzlich huschte ein schelmisches Lächeln über das Gesicht des Beamten, während er den Blick abwandte und seinem Kollegen folgte. Sheryll sah verschämt zu Boden und bemerkte schlagartig, warum sie die Aufmerksamkeit des Polizisten erregt hatte. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, als sie auf der Bank Platz genommen hatte und diese Geste hatte ihren Rock höher rutschen lassen, als ihr lieb gewesen war! Dieser "Blickfang" hatte den Polizisten also einen Moment seine eigentliche Aufgabe vergessen lassen und sie wahrscheinlich vor einer Kontrolle bewahrt. Ihr Erröten war in diesem Fall als Verlegenheit interpretiert worden und nicht als schlechtes Gewissen. Erleichtert lächelte sie in sich hinein. Hier hatte offenbar ihr weiblicher Charme unbewusst Schlimmeres verhindert. Männer! dachte sie amüsiert. Die uralten weiblichen Schlüsselreize funktionierten also immer noch! Oder immer wieder...
Sheryll wartete, bis die beiden am Turmeingang vorbei waren. Dann erhob sie sich, zog den Rock nach unten und schlenderte hinterher. Als sie die schwere Eichentür erreicht hatte, musste sie mit beiden Händen an der Tür ziehen, um sie öffnen zu können. Widerstrebend und mit einem entsetzlichen Quietschen schwang die Tür weit auf und sie konnte hindurch huschen. Für einen Moment blieb sie stehen, um sich nach den gleißenden Sonnenlicht an das Halbdunkel im Innern des Turms zu gewöhnen. Als die sich schließende Tür mit einem gewaltigen Donnern hinter ihr ins Schloss fiel, erschrak sie zu Tode. "Beinahe wie ein Schuss", fuhr es ihr durch den Kopf, "und eindeutig viel zu laut!" Doch dann überlegte sie, ob dieses Geräusch der sich schließenden Tür sogar gewollt war, um den beeindruckenden Turm noch etwas beeindruckender und bedrohlicher zu machen. Kopfschüttelnd nahm sie den einzigen Weg, den sie nehmen konnte: Die Treppe hinauf ins Obergeschoss des Turms...
*
Als Sheryll einige Stufen nach oben gestiegen war, erweiterte sich die Treppe zu einer Art Zwischenebene. Eine Schießscharte spendete diffuses, unwirkliches Licht. Ein Mann saß in der Nische mit der Schießscharte. Der teuren, eleganten Garderobe nach zu schließen, war er wohl ein Mitarbeiter der zahlreichen Bankhäuser, die es hier in der Nähe zuhauf gab. Er schien eingenickt zu sein. Sheryll wäre eigentlich an ihm vorbei gegangen, um weiter nach oben zur Aussichtsplattform zu steigen, als sie neben dem Mann auf dem Boden einen aufgeklappten Aktenkoffer entdeckte. Ihre Augen weiteten sich und sie unterdrückte mit letzter Kraft einen Schrei.
Der Koffer enthielt bündelweise Banknoten, die alle mit der Bandarole einer hiesigen Bank versehen waren! Sheryll wurde schlagartig klar, woher das Geld stammen musste. Die massive Anwesenheit so vieler Polizisten konnte nur eine Erklärung haben: Die Bank war überfallen worden und hier vor ihr schlief wohl der Täter. Als sie ihn genauer betrachtete, bemerkte sie die Pistole in seiner Hand. Sie biss sich heftig in die vorgehaltene Hand, um nicht neuerdings einen Schrei auszustoßen. Was, wenn er jetzt gerade aufwachte? Würde er sie erschießen? Oder sie als Geisel benutzen, um freien Abzug zu erhalten? Sheryll wich entsetzt zurück. Um die Treppe zu erreichen, musste sie einen Schritt nach links machen. Sie ließ den Mann nicht aus den Augen, als sie das Blut hinter ihm bemerkte, das in einem feinen Strahl an dem grauen Stein hinunter zu Boden floss. Jetzt wurde ihr auch bewusst, dass der Mann kein Lebenszeichen mehr von sich gab und - er hatte ein Loch in der Schläfe! Er war tot! Sherylls Herz raste wie wild. Dieser Mann wurde gerade draußen von Dutzenden Polizisten gesucht und offenbar waren ihm auch die beiden Beamten aus dem Park auf den Fersen, aber sie hatten ihn verloren. Klar, er hatte den Turm betreten und sie waren vorbeigegangen. Auch er hatte, wie sie, einen letzten verzweifelten Versuch unternommen, um aus seiner Situation zu entkommen. Sheryll wusste nicht, warum sie vor dem Meeting noch einmal hierher kommen wollte. Warum war sie jetzt auf einmal in dieser unwirklichen Situation? Der Mann sah keinen anderen Ausweg mehr, als sich das Leben zu nehmen. Sollte sie sich auch gleich hier erschießen? Sie könnte ja auch die Waffe benutzen. Aber dazu hatte sie nicht genug Mumm. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man sie hier finden würde. Vielleicht hängte man ihr dann auch die Mittäterschaft an dem Überfall an, oder, noch schlimmer: Sie hätte ihn erschossen!
Jetzt musste sie schnell handeln. Aber Moment: Der Mann wurde gesucht, nicht sie. Noch nicht. Man konnte sie bisher nicht mit ihm in Verbindung bringen. Die Beamten hatten nicht gesehen, dass sie den Turm betreten hatte! Und dann fasste Sheryll einen kühnen Plan! Sie kauerte auf den Boden und öffnete ihren Aktenkoffer. Mit ihrem Kugelschreiber angelte sie die oberste Lage der Banknoten aus dem anderen Koffer, indem sie die Spitze des Stifts unter die Bandarole einhakte. Sie holte aus und schleuderte ein Bündel nach dem anderen an die Wand über Karls Kopf. Die Bandarolen zerrissen und die Geldscheine flatterten auf die Leiche herunter. Nach sechs oder sieben Bündeln waren einige Scheine auf seinem Kopf und den Schultern liegen geblieben. Der Rest lag in heillosem Durcheinander auf dem Boden zerstreut. Nun sah es so aus, als ob er in der letzten Minute seines Lebens noch einmal in einem irren Anfall mit Geld geworfen hätte. Sheryll nahm den Rest der Scheine aus seinem Koffer und packte sie in ihren. Da die letzte Lage der Scheine vor ihr auf dem Boden lag, blieb jetzt noch genug Platz in ihrem Koffer, um ihre Papiere und Unterlagen für das Meeting obendrauf zu packen. Sie betrachtete zufrieden den Inhalt ihres Koffers und klappte ihn zu. Dann verstellte sie rasch die Zahlenkombination. Sie stand auf und drehte sich noch einmal zu Karl um, allerdings sehr darum bemüht, ihn nicht von der anderen Seite seines Gesichts sehen zu müssen.
"Ich weiß zwar nicht, wer du bist und wie du heißt. Und es tut mir leid, dass du dein Leben verloren hast. Meins allerdings hast du soeben gerettet!", murmelte sie halblaut vor sich hin. Sie drehte sich um, nahm den Koffer auf und stieg die Treppe hinunter. Als sie unten den Park betrat, schloss sie geblendet die Augen. Sie schob sich die Sonnenbrille wieder ins Gesicht, die sie sich im Turm einfach in die Haare gesteckt hatte.
Während sie dem Parkausgang zustrebte, arbeitete ihr Kopf fieberhaft. Noch suchte man nur nach dem Mann. Wenn man allerdings feststellte, dass ein Großteil des Geldes verschwunden war, würde der Ring um die Bank immer enger werden. Sie musste die Zeit, bis es so weit war, nutzen, um hier rauszukommen. Der Flughafen kam nicht in Frage. Der war sicher schon dicht. Ebenso der Bahnhof.
Sie hielt an der Ecke, an der zuvor der Student von den beiden Polizisten kontrolliert worden war und sah sich vorsichtig um. Ein Stück die Straße hinauf standen die beiden dann auch und beobachteten die Passanten. Mist! Ein zweites Mal konnte sie nicht auf ihr Glück vertrauen, noch einmal ungeschoren vorbei zu kommen. Sie ging ein paar Schritte zurück und schlug den Weg ein, der parallel zur Hecke an der Innenseite des Parks verlief. Nach hundert Metern betrat sie den Rasen und lugte durch das Blattwerk der Hecke. Perfekt! Sie war genau auf gleicher Höhe mit der Bushaltestelle auf der anderen Seite. Sie ging in die Hocke, öffnete den Koffer und nahm ein Bündel Hunderter heraus.
Jetzt musste sie nur noch den richtigen Zeitpunkt abwarten. In den nächsten Minuten musste ein Bus fahren, denn sonst wären nicht so viele Leute an der Haltestelle. Und genau das war ihre Chance. Durch das Loch in der Hecke konnte sie ein Stück der Straße einsehen. Der Verkehr war wieder flüssiger geworden in den letzten Minuten, so dass sie nicht befürchten musste, der Bus würde Verspätung haben. Und da kam er auch schon! Ein langer Ziehharmonikabus, der schon gut besetzt war, bevor er die Haltestelle ansteuerte. Ein weiterer Vorteil für sie, denn so konnte sie bereits im Bus in der anonymen Menge verschwinden. Jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen! Sheryll fing an zu laufen, um den Parkausgang zu erreichen. Nach ein paar Schritten zeriss sie mit den Fingern die Bandarole des Geldbündels und schleuderte es über die Hecke. Auf der anderen Seite regnete es auf einmal Hunderter auf den Gehsteig. Sheryll konnte nicht sehen, was dort passierte, aber sie konnte es hören und sich lebhaft vorstellen. Erstaunte Rufe wurden laut, Schritte und Papiergeraschel. Die Rufe wurden lauter und ungehaltener, und erste Handgemenge schienen stattzufinden. Als Sheryll um die Hecke bog, war sie zufrieden mit dem, was sie zu Gesicht bekam. Die Haltestelle war verwaist, denn alle wartenden Fahrgäste krochen auf allen Vieren über den Gehsteig oder rangen mit anderen Passanten um die Scheine. Mittendrin in dem Gewühl erkannte sie zwei Polizeimützen, die verzweifelt versuchten, Herr der Lage zu werden. Na, die beiden waren erst mal abgelenkt. Sie begann zu laufen, denn der Bus rollte gerade an der Haltestelle aus. Wer sie jetzt beobachtete, konnte keinen Verdacht schöpfen. Es sah so aus, als ob sie lediglich versuchte, ihren Bus noch zu erreichen. Die Türen öffneten sich und Sheryll sprang hinein. Als sie sich umdrehte, war das Handgemenge immer noch im Gang. Lediglich die beiden Beamten hatten nun Unterstützung bekommen von einigen Kollegen. Zischend schlossen sich die Türen und der Bus setzte sich in Bewegung. Er reihte sich in de fließenden Verkehr ein und Sherylls Herz frohlockte. Sie würde bis zur Endstation sitzen bleiben, die sich irgendwo in den Außenbezirken Frankfurts befinden musste. Dort würde sie einen Wagen mieten, sorgfältig darauf bedacht, ihre Kreditkarte nicht zu benutzen. Mit dem Wagen würde sie nach Köln fahren, dort ein Flugzeug nach Paris besteigen und von dort aus nach Südamerika fliegen. Wenn sie das schaffte, ohne geschnappt zu werden, dann war sie sicher. Und dort war es nicht schwer, mit dem Geld, das sie bei sich hatte, neu anzufangen.
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hatte immer daran geglaubt, einen Ausweg zu finden. Allerdings hätte sie im Traum nicht daran gedacht, dass er so aussehen würde...