Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sherryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnellstrasse beträgt die Fahrzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
"Aber ich muss doch nach Hause, dem Jung was zu Essen machen", hörte Karl eine panische Stimme vom Flur. Waltraud Meier hatte mal wieder die Orientierung verloren.
"Sie sind jetzt hier zu Hause, Frau Meier", antwortete die Pflegerin mit erhobener Stimme und führte Frau Meier zurück in den Aufenthaltsraum. Karl war es so satt und er hoffte nur darauf, dass der Tod ihn vor der Demenz holen würde. So wollte er nicht leben. Er holte sich Hut, Jacke und Stock aus seinem Zimmer und machte sich auf. Das Abenteuer, die Landstraße zu überqueren, stand ihm bevor, doch drüben im Park um den alten Turm war er vor den anderen Bewohnern des Seniorenstifts sicher. Das Hupen und Schimpfen der Autofahrer ignorierte Karl wie jeden Tag und die Gefahr, überfahren zu werden, war so wild auch nicht. Besser so, als qualvoll jahrelang in einem Krankenhaus vor sich hin sterben. Im Park angekommen setzte er sich auf seine übliche Bank und streckte die Beine aus.
Fast verärgert klappte Sheryll ihr Laptop zu, als der Zug in den Frankfurter Hauptbahnhof einfuhr. Der Bericht über ihre Besuche bei den Fernseh- und Radiosendern in Köln war noch nicht fertig, jetzt würde sie heut Abend im Hotel noch mal ran müssen. Die Verwaltungen, zu denen sie wegen der Drehgenehmigungen für den Turm müsste, waren um die Zeit bestimmt nicht mehr besetzt. Am besten sie nahm sich ein Taxi und fuhr erst mal zu der Location hin. Falls sich rausstellen sollte, dass sie für den Videodreh gar nicht geeignet wäre, hätte die Agentur sonst die Kosten für die Drehgenehmigungen an der Backe und es war ja klar, wer das dann wieder ausbaden musste.
Der Taxifahrer war offensichtlich Vietnamese, redete aber im breitesten Frankfurterisch. Doch Sheryll hörte ihm nicht zu, sondern blätterte die Unterlagen über den Turm durch. Es war ein denkmalgeschützter Turm aus dem 14. Jahrhundert und Sheryll konnte sich schon vorstellen was das wieder für ein Aufwand würde, die Drehgenehmigung zu bekommen. Diese Amis stellten sich so was immer so einfach vor und ihre Agentur konnte dann mit den deutschen Behörden kämpfen. Na ja zumindest war es diesmal ein Titel für den Sheryll diesen Kampf gern aufnahm. Seit sie die wundervolle Ballade "Love is like a Tower" der amerikanischen Newcomer-Band gehört hatte, hatte sie mit allen Mitteln gekämpft, dieses Projekt machen zu dürfen.
Schon von weitem sah Sheryll den Turm und war gleich überzeugt, dass er das sei. Sie zahlte ihr Taxi und trat in den Park. Außer einem alten Mann, der offensichtlich schlafend auf der einzigen Bank saß, war der Park menschenleer. Seitdem sie den ersten Blick auf den Turm geworfen hatte, war die Melodie wieder in ihrem Kopf. Jetzt war ihr klar, warum es gerade dieser Turm sein musste.
Die Location war ideal und bot alles, was für den Videodreh gebraucht wurde. Sheryll war gefangen von der Atmosphäre und mochte noch nicht ins Hotel fahren. Warum auch, sie konnte sich doch genauso gut dort zu dem alten Mann auf die Bank setzen und den Bericht weiterschreiben. Sie setzte sich vorsichtig hin um ihn nicht zu wecken.
"Interessantes Bauwerk unser Turm, nicht?", Sheryll zuckte zusammen als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden.
"Entschuldigung, ich dachte Sie schlafen", meinte sie.
"Brauchst dich doch nicht entschuldigen Kindchen", erwiderte Karl, "ich bin jeden Tag hier. Weißt du, damals, vor dem Krieg hab ich meine Margot hier kennen gelernt, genau hier auf dieser Bank. Ich meine, das war natürlich eine andere Bank damals, aber sie stand genau hier."
Sheryll wollte eigentlich ihr Laptop auspacken und Karls Erzählungen genauso ausblenden wie sie das sonst immer tat, aber die Atmosphäre um den Turm, die Melodie in ihrem Kopf und Karls Erzählung bildeten eine Art Einheit, die sie nicht zu zerstören wagte.
"Damals kamen wir jeden Sonntag hierher, zuerst ich und Margot und später dann auch mit unserer kleinen Louise. Die Kleine hat hier Laufen gelernt. Und als sie grad laufen konnte, da kam der Krieg und ich musste fort. Hier haben wir uns verabschiedet und es war uns immer klar, hier würden wir uns auch wiedersehen. Ich wurde an der Ostfront verwundet und geriet in Gefangenschaft. Und die ganze Zeit dort hat mich der Gedanke aufrechterhalten, dass Margot und Louise dort an unserem Turm sein würden wenn ich heimkäme. Ich kam sehr spät heim, war einer der letzten die noch heimkamen. Aber heim kann man eigentlich gar nicht sagen: unsere Straße war zerstört worden und war inzwischen schon wieder neu aufgebaut. Aber keiner der alten Nachbarn lebte mehr dort. Seitdem bin ich jeden Abend hier am Turm. Anfangs weil ich gehofft hatte, Margot kommt irgendwann wieder her. Aber irgendwann hab ich mir gesagt, "Karl," hab ich gesagt "sie sind sicher nicht mehr am Leben, mach dir nichts vor." Trotzdem bin ich weiter jeden Abend hergekommen und deswegen bin ich auch dort drüben in den Seniorenstift gezogen obwohl ich mir da vorkomm wie im Irrenhaus." Karl brach ab und versank in Gedanken.
Sheryll saß nur still auf der Bank, kein Gedanke an Videodrehs, Behörden oder Fernsehsender, ganz gefangen in der Geschichte. Sie wurde erst unterbrochen als Karl aufstand.
"Ich muss jetzt gehen, Kindchen, heut gibts Milchreis zum Abendbrot und das will ich auf keinen Fall verpassen. Vielleicht sehn wir uns ja noch mal hier bei unsrem Turm.", meinte er noch und ging langsam, auf seinen Stock gestützt aus dem Park. Sheryll saß noch lange auf der Bank und wunderte sich, welche Einheit der Turm, Karls Geschichte und die Ballade einer amerikanischen Band bilden konnte.
Als die Durchsage kam, dass die Maschine aus Los Angeles jetzt gelandet sei, klappte Sheryll ihr Laptop zu und sah auf die Uhr. Bei der Verspätung müssten sie direkt zum Drehort fahren, keine Zeit mehr für irgendwas anderes. Sie begrüßte die Band und fuhr sie zu dem Turm. Als er in Sicht kam spürte sie sofort wieder die Stimmung und erinnerte sich an Karls Erzählung. Ob der alte Herr heute wieder zu seinem Turm kommen würde und was er wohl von dem Videodreh halten würde?
Komischerweise war Chuck, der Frontmann der Band verstummt sobald der Turm in Sicht kam. Sheryll musste sich darauf konzentrieren einen Parkplatz zu finden und konnte deshalb nicht nachfragen. Doch als sie im Park standen kam Chuck zu ihr und sagte in fast perfektem Deutsch: "Sheryll, ich wollte danke sagen, dass ihr den Turm gefunden habt. Meine Mom und meine Grandma haben immer davon erzählt. Sie sind Deutsche weißt du, und damals hat meine Grandma hier gelebt und war immer hier in dem Park. Alle Erinnerungen, die meine Mom noch an Deutschland hat, drehen sich um diesen Turm. Hier hat sie ihren Dad zum letzten Mal gesehen und hier haben sie damals nach dem Krieg jeden Abend gesessen und darauf gewartet, dass er aus dem Krieg zurückkommt. Als sie keine Hoffnung mehr hatten, trafen sie hier im Park einen GI der Charles hieß. Meine Grandma hat immer erzählt, dass sie sich sicher war, ihr Karl hätte ihr den geschickt, damit sie nicht mehr alleine sei. Grandpa Charlie hat die beiden mit nach Amerika genommen, als er abkommandiert wurde, aber den Turm hier und ihren Karl hat sie nie vergessen. Als sie im letzten Jahr gestorben ist, hab ich "Love is like a Tower" für sie und ihre große Liebe geschrieben."
Sheryll hatte Chuck die ganze Zeit nur angestarrt. Das konnte doch kein Zufall sein. "Hieß deine Grandma Margot und deine Mom, heißt die Louise?", fragte sie atemlos.
Als Chuck erstaunt nickte, war Sheryll schon aus dem Park gelaufen und überquerte die Landstraße ohne auf das Hupen der Autofahrer zu achten. Im Seniorenstift erkundigte sie sich atemlos bei der ersten Pflegerin die ihr über den Weg lief: "Entschuldigen Sie, ich suche einen alten Herrn namens Karl, der nachmittags immer gegenüber in dem Park an dem alten Turm sitzt. Kennen Sie ihn?"
Die Pflegerin nickte: "Herr Schlösser ja, wir haben ihm immer wieder gesagt, dass es zu gefährlich ist, die Straße zu überqueren. Aber er wollt ja nicht hören, sagte er wäre ja nur hier wegen dem Turm. Schreckliche Sache das mit seinem Unfall gestern. Ins Universitäts-Krankenhaus hat man ihn gebracht und ich hab gehört es soll gar nicht gut um ihn stehen. Sind Sie eine Verwandte?"
Doch da war Sheryll schon wieder aus dem Seniorenstift heraus und überquerte wieder die Landstraße.
Inzwischen hatte der Videodreh begonnen und Chuck war voll eingespannt. Sheryll wurde jetzt nicht gebraucht. Sie schrieb eine Nachricht für Chuck und fuhr zum Universitätskrankenhaus. Der Schwester in der Intensivstation erzählte sie, sie sei Karls Enkelin, damit sie zu ihm gelassen wurde. Die Schwester machte ihr nicht viel Hoffnung, sie sagte: "Gut, dass Sie noch gekommen sind." Und auf Sherylls Frage nach den Heilungschancen schüttelte sie nur den Kopf.
Sheryll setzte sich an Karls Bett, eingeschüchtert von den Maschinen und Apparaten und von Karls zerschundenem Körper der trotzdem so still wirkte. Doch dann richtete sie sich entschlossen auf. Karl musste erfahren, wie lange Margot auf ihn gewartet hatte und dass sie ihn bis zum Schluss geliebt hatte. Er musste wissen, dass Louise in Amerika ihr Leben lebte und er musste von Chuck erfahren, der ein Lied für ihn und Margot und ihren Turm geschrieben hatte.
Und so begann sie, obwohl es ihr schwer fiel, zu sprechen: "Karl, ich bins Sheryll, das "Kindchen" dem sie vor ein Paar Tagen an Ihrem Turm begegnet sind. Ich muss Ihnen was erzählen und ich hoffe, Sie können mich hören.", und sie erzählte ihm die ganze Geschichte. Die Bewegung hinter sich nahm sie nicht wirklich wahr.
Als sie alles erzählt hatte zuckte sie zusammen als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Es war Chuck der schon vor einer Weile hereingekommen war und mit Tränen in den Augen hinter ihr stand. Auch Sherylls Augen füllten sich mit Tränen als sie Chuck in den Arm nahm. "Da hat er seit seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft jeden Abend an dem Turm verbracht, über fünfzig Jahre lang und an dem Tag, bevor er erfahren kann was aus seiner großen Liebe und seiner kleinen Louise geworden ist passiert so was", flüsterte sie.
"Gut, dass du da warst um uns noch zusammenzubringen. Ich muss Mom anrufen, wie soll ich ihr das bloß erklären? Bleib bei mir Sheryll, ich mag nicht allein bleiben jetzt."
Sheryll nickte, es ging ihr genauso. "Sing ihm das Lied vor.", flüsterte sie.