Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnellstrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Sheryll wollte von Frankfurt mit dem Zug weiter in ein kleines Dorf. Dort konnte man noch eine der größten Eulenarten in Deutschland beobachten, den Uhu. Ihr Projekt befasste sich mit der Rettung dieser vom Aussterben bedrohten Tiere. Was nützte aber alle Literatur, wenn man die Möglichkeit hatte, den Uhu in Natur zu beobachten. In Anbetracht dieses bevorstehenden Ereignisses konnte die Bahnfahrt nicht schnell genug vergehen.
"Ist schon komisch", dachte Karl, "dass sich ausgerechnet ein Uhu-Paar den Turm als Brutplatz ausgesucht hat." Auf seinem Schoß lagen Fachzeitschriften, die über das Leben dieser seltenen Tiere Auskunft gaben. Es würde nicht leicht werden, sie zu beobachten, denn die Natur hatte diese Tiere für die nächtliche Jagd mit Supersinnen ausgestattet - Ohren, wie Parabolspiegel für den leisesten Laut, Augen hundertmal lichtempfindlicher als bei anderen Vögeln und schallgedämpfte Federn für einen geräuschlosen Flug. Es würde eine Herausforderung werden. Die nächsten Nächte, Vollmond-Nächte, würden ideal sein, die Vögel zu beobachten.
Der schrille Klingelton seines Telefons riss ihn aus seinen Gedankengängen heraus.
"Hallo", hier Bernd.
"Hallo Bernd, was gibt es denn?"
"Wollte dir nur mitteilen, dass wir Besuch bekommen. Eine Frau Sheryll Schmidt hat sich angekündigt. Sie kommt wegen des Uhu-Paares, Doktorarbeit. Du wirst dich um sie kümmern."
"Mensch, Bernd, ich, wieso ich, du weißt doch, dass ich lieber alleine gehe und dann noch eine aus der Stadt. Das kann stressig werden."
"Keine Widerrede, du bist der Beste und du weißt, dass wir auf jedes Geld für unsere Forschungen angewiesen sind. Also, hol sie um 18.00 Uhr vom Hotel ab - und viel Spaß!"
So war halt Bernd. Vorbei war die Ruhe, die gute Laune gedämpft und der Turm sah gleich viel düsterer aus. Karl packte seinen Rucksack, zog sich um und fuhr gegen 18.00 Uhr zum Dorfhotel, um Frau Schmidt abzuholen. Lässig an dem Jeep gelehnt blickte er zum Eingang und bereitete sich seelisch und moralisch auf das Kommende vor.
Dann sah er sie. Fachgerecht gekleidet, einen Rucksack um die Schulter geworfen, die kurzen Haare gaben der schlanken Figur ein freches Outfit und ein feines Lächeln umspielte ihren Mund, als sie ihn sah.
"Hallo, ich bin Sheryll und freue mich, dass Sie mir helfen wollen, die Uhus zu sehen."
Karl war so angenehm überrascht, dass er einen Augenblick sprachlos war, sich dann aber fasste und vorstellte. Mann, war das eine Frau! Da konnte ein Männerherz schon schwach werden. Und diese Augen, stahlblau.
Sie war so locker und nett, wusste unwahrscheinlich viel über diese Tiere, dass es einfach Spaß machen musste, gemeinsam das Uhu-Paar zu beobachten. Alle Bedenken seinerseits waren verflogen.
"Den Jeep müssen wir hier stehen lassen und weiter zu Fuß gehen", sagte Karl.
Auf den Weg zum Turm sahen sie einen wunderbaren Sonnenuntergang.
Sheryll genoss es sichtlich. Karl erklärte ihr auf dem Weg dies und das, sprach auch über seine Projekte und Sheryll war eine aufmerksame Zuhörerin.
Kurz vor dem Turm bestiegen sie den Hochsitz und Karl zeigte ihr, wo die Brutstätte des Uhu-Paares war. Mit dem Fernglas suchten sie die Turmfront ab und entdeckten diese auch.
"Wir müssen auf die Wiese achten", flüsterte Karl. "Sie jagen am liebsten im offenen und nur locker bewaldeten Gelände."
"Ich weiß", antwortete Sheryll und blickte dabei Karl tief in die Augen.
So saßen sie auf dem Hochsitz und warteten auf den Uhu. Die Zeit verging. Jeder hing seinen Gedanken nach. Dann kam er. Lautlos glitt er über die Wiese und schoss dann auf den Boden zu, um dann mit der ergriffenen Maus-Beute gen Nest zu fliegen.
Für die beiden Menschen, die für diese Sekunden den Atem anhielten, war es ein aufregendes Erlebnis.
Später, als sie den Hochsitz verließen und in Richtung Auto gingen, sprachen sie kein Wort. Ein sachter Wind fuhr durch die Bäume. Der Mond schien romantisch auf die zwei Menschen. Karl blieb stehen, sah Sheryll an, nahm ihre Hände in die seinen und ohne Worte wussten sie, dass das Schicksal der Uhus sie zueinander geführt hatte.