Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnellstraße beträgt die Fahrzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden ...
Sheryll war übrigens Archäologin und Geschichtsforscher. Wenn es nach Dr. Maroni gehen würde, eine der besten. Zusammen waren sie unschlagbar. Das erzählte er ihr nämlich immer. Sheryll verdrehte die Augen. Dieser Schmeichler war manchmal unausstehlich. Er hatte immer noch nicht verkraftet, dass sie seinen Heiratsantrag letztes Jahr abgelehnt hatte. Gerne wäre sie aus den gemeinsamen Forschungsarbeiten ausgestiegen. Doch mittlerweile waren ihre Forschungen fast beendet. In Frankfurt würde sie in seinem Institut letzte Ergebnisse vergleichen und die Arbeit zum Abschluss bringen. Das würde mal wieder ein nettes Sümmchen Geld verheißen. Maroni bezahlte nicht schlecht. Das musste man ihm lassen. Sheryll schreckte aus ihren Gedanken auf. Der ICE wurde spürbar langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Als sie aus dem Fenster sah, stellte sie fest, dass sie in einer kleinen Stadt gehalten hatten.
Durch die Lautsprechanlage, gelangte die Stimme des Zugführers in jedes Abteil: "Werte Fahrgäste, entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich muss Ihnen leider Mitteilen, dass sich die Weiterfahrt um einige Zeit verschiebt. Auf Grund eines Erdrutsches ist die Strecke vorübergehend gesperrt. Aufräumarbeiten sind aber schon im Gange. Bitte haben Sie Geduld."
Ein Raunen ging im Abteil um. Allgemeiner Ärger machte sich breit.
Sheryll seufzte auf. Auch das noch. Den Termin mit Dr. Maroni konnte sie erst mal vergessen. Dafür hatte sie jetzt mitunter drei Stunden Wartezeit vor sich.
Karl blickte währenddessen immer noch missmutig aus dem Fenster. Er wartete.
Er warte darauf, dass etwas geschah. Etwas ganz bestimmtes natürlich. Karl wusste, er war etwas zu früh, aber er wollte das Schauspiel um keinen Preis verpassen. Er wollte lieber sichergehen. Es war knapp 17 Uhr, also würde es noch etwa 30 Minuten dauern.
Sheryll schnappte ihre Sachen und verließ den Zug. Bevor sie unnütz herumsaß, wollte sich lieber die kleine Stadt ansehen.
Es war nach ihrer Meinung ein richtig "süßer" Ort. Eine dieser Kleinstädte wo sich Sheryll am liebsten aufhielt. Sie bewunderte das malerische Flair, welches solche Orte an sich hatten. Die Straßen waren gesäumt von Fachwerkhäusern und auch die Luft war nicht ganz so verpestet wie in der Großstadt.
Sie nährte sich einer Kreuzung und überquerte die Straße, denn sie hatte etwas gesehen. Ein Hinweisschild. Sheryll las sich die verschiedenen angezeigten Orte durch. Ein Pfeil zeigte in nördlich Richtung. Er war beschriftet mit "Turmruine" Das hörte sich schon mal nicht schlecht an.
Sie folgte der Ausschilderung und konnte auch bald den Turm entdecken. Er stand in mitten eines Parks, der sich neben einer Wohnsiedlung befand. Von weitem würde sie nach ihren Kenntnissen auf die Entstehungszeit 14. Jahrhundert tippen. Die ganze Umgebung war merkwürdig still. Kein Mensch hielt sich draußen auf.
Karl sah eine junge Frau, die sich dem Turm nährte. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie ging um den Turm herum, klopfte gegen das Mauerwerk und begann nun auch den Turm von innen zu betrachten, obwohl ein auffälliges Schild jedes Betreten der Ruine verbot. Sie musste es wohl doch übersehen haben. Was tat sie dort? Das war wohl der ungünstigste Moment des Tages, den sie sich nur aussuchen konnte. Warum ging sie nicht weg? Anscheinend war sie nicht von hier.
Karl blickte auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Er musste sie warnen. So schnell wie er konnte schlüpfte er in seine Schuhe und rannte er die Treppe hinunter.
"Hey, Sie da!", rief er von weitem.
Sie konnte ihn nicht hören. Er sah nur eine Hoffnung für die Frau. So schnell er konnte rannte er zu ihr und packte sie am Arm um sie wegzuzerren.
"Lassen Sie mich sofort los!", schrie Sheryll.
Karl zerrte sie mit Gewalt weg.
"Sie müssen sofort von hier verschwinden.", redete er auf sie ein und fügte hinzu: "in wenigen Sekunden, wird hier alles in die Luft fliegen. Eine Sprengung ist angeordnet."
Sheryll erstarrte. Der Griff um ihre Hand lockerte sich, dann rannten beide los. So weit weg wie möglich. Sheryll dachte zuerst es wäre ein Scherz, sah jedoch die Ernsthaftigkeit auf seinem Gesicht.
Sie waren grade weit genug entfernt, als es einen riesigen Knall gab und der Turm in sich zusammenfiel.