Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Der Vormittag war anstrengend gewesen und Karl liebte es, die heißen Stunden der Sommernachmittage in seinem alten Lesesessel zu sitzen, seine Pfeife im Mund und die Welt da draußen einfach eine Weile sich selbst zu überlassen.
Nun waren die Tage des alten Turms also gezählt. O nein, sie würden ihn nicht abreißen. Er war eine willkommene Bereicherung für den Hotelkomplex, der dort entstehen sollte.
Nun ja, das war eben so.
Er hatte Eingaben gemacht, Briefe geschrieben, Erklärungen getippt und am Ende doch verloren. Wenngleich man ihm, in dem Brief, der achtlos auf dem Tisch lag, versicherte, man werde selbstverständlich den Vertreter des örtlichen Denkmalsschutzes hören, wenn er berechtigte Einwände vorzubringen habe. Die Augenauswischerei kannte er inzwischen.
Der Schlag der alten Uhr riss ihn aus seinen Grübeleien. Zeit für die Probe. Liebevoll strich er über seine Trompete, bevor er sie ins Futteral legte. Schmarrn, nutzlose Grübeleien.
Sobald die Trompete zu spielen beginnen würde, würde er sie vergessen haben. Seine Freunde warteten auf ihn.
Und so nahm er den Autoschlüssel vom Wandhaken, das Instrument von der Anrichte und stieg die Treppe hinunter.
Sheryll fluchte leise in sich hinein. Was sollte diese Verzögerung? Nicht genug, dass sie Der junge Mann, mit Gelehrtenbrille und früher Halbglatze, der ihr am Verhandlungstisch fast gegenübersaß, machte doch nur Schwierigkeiten. Was wollte er? Die Sache war doch im Grunde genommen schon beschlossen und unterschrieben.
Baudenkmal? Unfug ...
Sie war von Köln hergekommen in der Erwartung, ihre drei Kreuze an die richtige Stelle machen zu können und zum Abendbrot wieder zu Haus zu sein. Nun brach bereits die Dämmerung herein und sie war noch immer hier.
Während die Vertreter der Hotelkette und der Baufirma genervt den blumenreichen Worten dieses Spätstudenten zuhörten, Männchen auf die ausgelegten Mappen malten oder an den zu späten Feierabend dachten, schien diesen das nicht zu stören, er psalmodierte in Ruhe weiter. Ätzend - Menschen, die nie verstehen, wann Sie verloren haben.
"Frau Dr. Siegmund, haben Sie den Turm jemals gesehen, über den Sie da das Urteil gesprochen haben?"
Auch das noch!
"Mir lagen Fotos und Gutachten vor, auf Grund derer ich mich sehr wohl in der Lage sah, den historischen Wert dieses Bauwerks neu zu beurteilen - o ja."
"Ich meinte, ob Sie ihn je wirklich gesehen haben."
"Wozu? Würde ich mir jedes Bauwerk ansehen wollen, um dessen Beurteilung ich gebeten werde, käme ich nicht mehr zum Arbeiten."
"Auch wenn ich jetzt unverschämt klinge, darf ich Sie dennoch fragen - was verstehen Sie eigentlich unter Ihrer Arbeit?"
Während Sheryll gerade zu einer gereizten Antwort ansetzen wollte, stand der Vertreter der Hotelkette auf.
"Herr Immler, wir haben uns gefreut, dass Sie sich die Zeit genommen haben, heute hierher zu kommen und Ihre Meinung zu diesem Projekt einzubringen. Vielen Dank dafür. Doch, wie Frau Dr. Siegmund und die Bauexperten ausführlich in den Expertisen, welche auch Sie in Kopie erhielten, dargelegt haben, bestehen weder aus der Sicht der Bauleute, noch von Denkmalsschutzseite her Bedenken, das Projekt, so wie geplant, auszuführen. Schließlich spricht auch niemand davon, den Turm abzureißen, sondern die Hotelanlage wird, im Gegenteil, seine Architektur noch wesentlich besser zur Geltung kommen lassen, als das heute der Fall ist. Damit ist es an der Zeit, die letzten Unterlagen zu unterzeichnen und diesen, für alle erfolgreichen Tag mit einem Glas Wein ausklingen zu lassen."
Er verbeugte sich noch einmal leicht nach allen Seiten, setzte sich und schlug die schwarze Ledermappe auf. Der letzte Amtsakt - seine eigene Unterschrift, war eigentlich nur noch eine pro-forma-Sache.
Herr Immler, Jan, wie sie ihn in Gedanken nannte, denn die offizielle Anrede wollte so gar nicht zu ihm passen, saß auf seinem Stuhl und putzte hingebungsvoll die spiegelnden Gläser seiner Brille.
Sheryll zog unmerklich verächtlich einen Mundwinkel herab. Der würde weiß Gott noch heulen wegen des alten Gemäuers. Waschlappen!
Nun, ein Glas Wein durfte sie sich genehmigen, glücklicherweise brauchte sie die Rückfahrt nicht wieder mit dem Zug machen, sie hasste die Bahnfahrerei. Den Leihwagen würde sie in Köln abgeben können. Praktisch.
Als Karl aus dem Auto stieg, begann es zu dämmern. Er war gereizt. Irgendwie war heute nichts gelaufen wie es sollte. Auch die Musik konnte nicht verhindern, dass der Stachel der Niederlage festsaß. Frau Dr. Siegmund- wirklich wunderbar der Titel. Ob sie wohl einmal hier gewesen war, um sich anzusehen, was sie da einbetonieren wollte?
Gewohnheitsmäßig sah er hinüber, die Sonne war nur noch ein rotes Halbrund neben dem Turm.
Ohne dass es ihm wirklich bewusst wurde, lenkte er seine Schritte den Weg hinunter. Wie oft war er hier als Kind entlang gerannt? Da war noch kein Asphalt, nur ein ausgetretener Fußsteig zwischen einigen Wiesen. Und so stand er auf einmal vor der alten Treppe, die hölzerne Tür des Turms existierte schon lang nicht mehr, und stieg die steinernen Stufen hinauf. Als Jungen hatten sie dort oben die Prinzessin befreit, mit Holzschwertern tausendköpfige Drachen erlegt. Doch das wusste der Mann nicht mehr. Er sah von der Turmplattform hinunter, doch da war kein Wald mehr, keine Felder, keine Wiesen, nur die neue Siedlung... Er wusste nicht warum, aber es machte ihn wütend. Er ließ sich auf einem abgebrochenen Stück der alten Mauer nieder und atmete tief durch. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er die Trompete mitgenommen hatte und er grinste ironisch. Der einsame Trompeter - wie romantisch. Ein Horn wäre wohl passender zu dieser elegischen Abendlandschaft. Aber trotzdem packte er seine Freundin aus, strich nachdenklich über ihre glänzende Haut und setzte sie, wie testweise, an die Lippen.
Der Ton war wie Glockenklang in der klaren Abendluft und ein zweiter, ein dritter ...
Die Leute auf der Straße unter dem Turm hielten sich die Ohren zu - ein Irrer - das fehlte gerade noch. Jemand musste die Polizei rufen - das war ja nicht auszuhalten.
Er ließ die Trompete sprechen, gab ihr die Stimme seiner Traurigkeit, seiner Wut ...
Sie war nicht ganz freiwillig hier. Doch eine Umleitung hatte sie in die Nähe des kleinen Ortes gebracht, in dem ihr "Opfer" stand. Sheryll schimpfte in sich hinein. Wieso dachte sie solchen Unsinn? Auch aus der Nähe war dieses Ding, mit dessen Bau man um 1320 begonnen hatte, nichts weiter als ein Mosaik. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war hier immer wieder ab-, an- und umgebaut worden. Wertlos. Und ein paar Verrücke schien es hier auch zu geben, urteilte man nach dem ohrenbetäubenden Lärm, der wohl so etwas wie Musik darstellen sollte. Das konnte ja wohl nicht angehen!
Empört stieg sie aus und begann die steile Treppe zu erklimmen. Der Mensch da oben befand sich auf fremden Grund und Boden. Das musste ihm doch einmal jemand klarmachen.
Die Sonne ging unter. Ihre letzten roten Strahlen spiegelten auf dem Instrument und Karl schloss die Augen. Und auf einmal konnte er sie wieder sehen, den Wald, die Felder, die Mädchen, die lachend über bunte Sommerwiesen liefen.
Er spielte nicht mehr, doch seine geübten Finger ließen die Trompete klingen, ließen sie in ihrer ureigenen Sprache all das sagen, was er fühlte, dachte. Das Instrument lachte und weinte, scherzte, schimpfte, spottete, neckte die Vögel ... sie erzählte von großen Träumen und zerplatzen Hoffnungen, Siegen, Niederlagen, Kämpfen ...
Und die Menschen da unten nahmen vorsichtig die Hände von den Ohren und lauschten, einen Augenblick herausgerissen aus der Hektik ihres Alltags.
Als der letzte Lichtstreifen am Horizont verschwunden war und ein kühler Windhauch über den Turm strich, wachte Karl auf wie aus einem Traum. Er wusste nicht warum er sich traurig fühlte, aber auch zufrieden, irgendwie, auf eigenartige Weise, glücklich.
Im schwachen Licht des aufgehenden Mondes verpackte er liebevoll die Trompete und begann den nicht ungefährlichen Abstieg.
Sheryll war irgendwo, auf halber Turmhöhe, auf den Stufen sitzen geblieben. Es war wie ein Zauber. Wenn sie die Augen schloss und nur den Tönen lauschte, dann sah sie, was die Trompete erzählte.
Nun waren vorsichtige Tritte auf der Treppe zu hören und Sheryll eilte hastig hinunter zu ihrem Auto. Sie wollte dem Musikanten nicht begegnen. Sie wusste wer er war, die Trompete hatte es ihr erzählt, ihren Ohren, ihren Gefühlen, ihrem Herzen. Ihr Verstand tönte, augenblicklich noch im Hintergrund, ihre Augen würden sie überzeugen, dass nichts davon wahr sei ...
Doch das musste sie nicht herausfinden, heute nicht.
Karl hatte keine Eile. Die Nacht war frisch, aber nicht kalt. Ein Stück vor ihm lief eine junge Frau, wohl eine Auswärtige, die sich verfahren hatte und jemanden suchte, den sie nach dem Weg würde fragen können.
'Schöne Beine das Mädel', dachte er und kicherte einen Moment später in sich hinein. Musik war gefährlich. Sie ließ einen nicht nur die Zeit, sondern auch das Alter vergessen.
Inzwischen war die Frau um die Ecke der Häuserreihe gebogen und außer Sicht.
Bevor er an der Straße angekommen war, hörte er, wie ein Motor ansprang und sie davonfuhr.
Schade ...
Während Sheryll, langsamer als sonst, auf der nächtlichen Landstraße nach Hause fuhr, klang ein leises Echo der Melodie in ihr nach. Sie wußte- morgen, wenn die Sonne aufging, würde sie nur ein spöttisches Lächeln dafür haben, doch jetzt, in diesem Augenblick wußte sie- sie war dabei ihre eigenen Träume zu zerstören. Und die zwei silberhellen Tränen, die die Trompete nicht weinen konnte, fielen aus ihren Augen.