Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Sitzen! Sheryll hatte sich endlich - ihren Koffer mit der einen Hand haarscharf an Knien und Hinterteilen drängelnder Fahrgäste vorbeibugsierend, in der anderen Hand ein Salatbaguette und ihren Fahrschein mit der Platznummer - zu ihrem reservierten Platz durchkämpfen können. Als alles verstaut und sie ihren Mantel ausgezogen und aufgehängt hatte, ließ sie sich erschöpft auf den Sitz fallen und widmete sie sich ihrem Baguette, schälte es mühselig aus der aufgeweichten Serviette und biss hungrig hinein. Als sie den letzten Bissen hinuntergeschluckt und sich ein Stückchen Salat von ihrem Pullover gezupft hatte, atmete sie tief durch. Bis hierher war alles recht anstrengend und Stressbeladen gewesen. Jetzt konnte sie endlich einfach nur sitzen und ein wenig zur Ruhe kommen. Die Sonne fiel schräg durch vorbei fliegende Bäume und warf flackernde Lichtfiguren an die Wände des Abteils.
Sie schloss die Augen, vor ihrem inneren Auge tauchten Bilder auf, erhellt vom durch die Lider orange gedämpft einfallenden Licht. Sie ließ sie vorbeiziehen, versuchte nicht zu denken, nur ihrem Atem zu lauschen. Nach einer Weile öffnete sie langsam die Augen, nun ein wenig entspannter, und schaute gedankenverloren aus dem Fenster: Versatzstücke deutscher Kulturlandschaft flogen vorbei: Fetzen von Wald. Kahles Ackerland. Eine einsame Birke inmitten eines Stoppelfeldes. Hochspannungsmasten. Am Horizont eine Kirche, fast geduckt unter der Weite des sich zur Erde hin rot verfärbenden Himmelsblaus. In der Ferne stieg ein Flugzeug senkrecht in den Himmel. Äußere und innere Landschaft verschwammen miteinander. Augen-Blicke.
Zeit-Reise.
Karl schaute noch immer versonnen auf die Backsteinfassade des alten Turms.
Sein Anblick gab ihm Sicherheit. Wenigstens etwas, das Bestand hat, dachte er und verzog die Mundwinkel. Er nahm seinen Blick zurück in den Raum, ließ ihn umherwandern, bis er sich an ihrem Foto verfing. 5 Jahre, 4 Monate, 22 Tage. Nur eine Zeitbilanz und stechende Magenschmerzen waren ihm geblieben.
Leere. Abgrund. Freier Fall. Er seufzte, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und streckte seinen verspannten Rücken. Dann blickte er wieder gedankenverloren zum Turm hinüber. Ich sollte umziehen, dachte er.
Ortswechsel. Neuanfang. Dann kam ihm plötzlich eine Idee. Eine verrückte Idee. Doch noch während ihn seine innere Stimme versuchte, zur Vernunft zu bringen, hatte er sich den Mantel übergezogen, zu den Autoschlüsseln gegriffen und die Tür hinter sich ins Schloss gezogen…
Sheryll blickte sehnsüchtig zum glühenden Sonnenball, der den Himmel orange färbte und Wärme vortäuschte: -10°C, das war nicht gerade warm. Heute Morgen hatte sie im Radio einen netten Moderatorenversuch gehört, der versuchte durch Überblenden von Wellenrauschen und dem knackenden Brennen eines Kaminfeuers Leben und Wärme in den Alltag zu bringen. Sie war gerade damit beschäftigt, sich zwischen Packen und Küche aufräumen einen Kaffee zu machen und stand an der Anrichte, den Löffel mit duftendem Kaffeepulver in die Kanne katapultierend. Sie hatte inne gehalten, gelauscht. Ja, so klangen Wohlfühlen, Glück und Entspannung. Sie hatte tief durchgeatmet, die Hände auf den Tisch gestützt, ihren verspannten Rücken gestreckt und war wieder in den Alltag aufgetaucht. Das Projekt... Wäre doch erst dieser elende Termin vorbei.
Zürich. Seit ihre Kooperationsbemühungen für das Projekt in diese Richtung zu laufen begannen, wanderte sie immer wieder in Gedanken in diese Stadt.
Zürich. Konnte sie dort leben? Eigenartig, so zwischen den Welten zu hängen.
Das alte Leben abgeknipst, abgestoßen. Wie eine alte runzlige Reptilienhaut, wie ein lästiges, zerschlissenes Kleidungsstück. Das neue Leben gerade erst im Entstehen. Noch staunend über all die Neuerungen wurde sie vom Leben weiter gestoßen, den Blick fest auf den fernen Horizont geheftet, um nicht ins Wanken zu geraten. Wie in diesem Moment, in dem Innen- und Außenwelt eins waren. Das Auge versuchte Anker zu werfen, einen Haltepunkt in der unendlich scheinenden Weite zu finden. Zu diesem ließe sich ein Seil hinüberwerfen, um sich, ohne nasse Füße zu bekommen, zum rettenden Ufer hinüberzuhangeln. Oder war es nur ein kleines Schiff auf dem weiten Ozean des Lebens? Spielte das überhaupt eine Rolle? Alles war doch sowieso in ständiger Bewegung.
Sie erwachte viele Minuten später aus ihrem Gedankenreigen. Schläfrig wickelte sie einen verklebten Ingwerbonbon aus, lutschte auf ihm herum und genoss, wie sich die wohlige Schärfe in ihrer Mundhöhle ausbreitete. Ihr Blick wanderte zum Fenster, wollte hindurch, doch Dunkelheit hatte nun von der Landschaft Besitz ergriffen. Stattdessen sah sie ihr eigenes Bild, seltsam unwirklich und verzerrt.
Jemand öffnete die Tür und kalte Luft strömte herein, entführte sie nach Norwegen. Sie roch norwegische Winterluft - so klar und frisch, als wäre sie dort. Sah norwegische Landschaft in bezaubernde weite Winterstille gehüllt.
Dann ging ein kleiner Stich durch ihr Herz, sie verzog die Mundwinkel.
Dieses Land war mit einem Menschen verbunden, mit dem sie beinahe 7 Jahre ihres Lebens geteilt hatte. Seltsam. Nur der Geruch an norwegische Winterluft war ihr geblieben.
Sie konnte nun im Licht von Straßenlaternen Bäume erkennen, von einer Haut aus Zuckerguss bedeckt. Wann war sie das letzte Mal mit dem Zug nach Frankfurt gefahren? Das war irgendwann Anfang August letzten Jahres gewesen.
Mit unfreiwilligem Stopp mitten auf der Strecke wegen Böschungsbränden. Es war ein trockener und heißer Spätsommer gewesen. Stoppelfelder glühten unter der unbarmherzigen Sonne. Sie hatte zwischen lauter betrunkenen, aggressiven Fußballrowdies gesessen und fühlte sich unwohl. Bis ihre Augen auf ein Paar freundliche, auffallend grüne Augen getroffen waren, die zu einem sehr männlichen Schutzengel gehörten, der sich ihrer annahm (hatte sie ihn nicht
gerufen?) und sie in eine ruhige Ecke des Zuges in Sichtweite der Polizei geleitet hatte. Auf dem Bahnhof hatten sie noch einen Kaffee zusammen getrunken. Er fragte, ob sie sich wieder sehen können? Nein. Sie war doch in einer Beziehung. Herz dicht. Dass bereits Brände an ihrer Beziehungsböschung nagten und sie und ihr Freund sich wie Rowdys auf dem Beziehungsfeld aufführten, hatte sie da noch nicht wahr haben wollen. Mit dem grünäugigen Schutzengel hätte sie mittlerweile verheiratet sein können. Ein möglicher Lebensweg - von wie vielen eigentlich? Wie viele Entscheidungsmöglichkeiten hat ein Mensch auf seinem Lebensweg? Wie viele bemerkt er? Und wie viele ziehen still und unbemerkt vorüber?
Der Zug würde in 2 Minuten eintreffen. Karl hatte seinen Wagen einfach im Halteverbot geparkt, stand frierend auf dem Bahnsteig und starrte in die Ferne auf die roten Lichter der Signale. Er spürte in sich eine seltsame, kribbelnde Unruhe, wie Lampenfieber. Etwas Neues würde beginnen. Hier und Jetzt. Er spürte es.
Sheryll hatte sich inzwischen von ihrem Sitz erhoben, hatte ihre Tasche und den Koffer aus dem Abteil in den Gang getragen und vor sich auf den Boden gestellt. Sie war seltsam unruhig, das Gefühl, ein leichtes Kribbeln im Magen, fühlte sich fast an wie Lampenfieber. Etwas Neues würde beginnen.
Hier und Jetzt. Sie spürte es. Sie wartete mit den anderen Fahrgästen, bis der Zug in den Bahnhof eingefahren war und stieg als erste aus dem Zug. Ihr Blick fiel auf einen Mann, der seltsam verloren vor der Tür stand. Während ihre Augen den seinen begegneten - es waren freundliche, auffallend grüne Augen - streckte er seine Hand aus und nahm ihren Koffer entgegen.