Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Eigentlich verabscheute Sherryll Zugfahrten. Immer saß jemand neben ihr der entweder die ganze Zeit aß, hustete oder mit ihr reden wollte. Im schlimmsten Fall alles zusammen. Für das spontan angesetzte Meeting in Frankfurt hatte es aber leider keinen freien Flug mehr gegeben. Wohl oder übel hatte sie sich ein Ticket für die Bahn gekauft und tatsächlich: eine ältere Dame versuchte schon seit geraumer Zeit, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sheryll hatte auf ein paar Belanglosigkeiten einsilbig geantwortet und sich dann demonstrativ ihren Plänen und Unterlagen gewidmet. Dieses Projekt bereitete ihr Magenschmerzen. Seit gut 6 Monaten arbeitete sie an diesem Gebäudekomplex - und das schlimmste daran: die Grundlagen des Plans waren nicht von ihr. Sie hatte das Projekt von einer Kollegin übernommen und musste nun deren Begeisterung aufrechterhalten. Dabei fand sie es selber gar nicht so gut, nur viel ändern konnte sie nicht mehr, da die Grundlagen dem Kunden scheinbar gefallen hatten. Nicht zum ersten Mal fragte sich Sheryll, warum sie damals nicht abgelehnt hatte. Sicher, es hatte sie gereizt, dass man ihr das zugetraut hatte, aber noch mal würde sie das sicherlich nicht machen. Abgesehen davon hatte diese neue Aufgabe im Grunde ihre gesamte Freizeit geraubt. Ihre beste Freundin hatte es vor wenigen Tagen auf den Punkt gebracht: Wenn du nicht bald was änderst, dann erkennen dich deine Freunde nicht mehr, wenn sie dich durch Zufall mal sehen. Sheryll sah aus dem Fenster, versuchte sich dann aber wieder auf ihre Unterlagen zu konzentrieren. Wenn es doch hier nur nicht so eng wäre. "Sagen Sie, Sie sind nicht etwa Architektin, oder?" Sheryll seufzte, die alte Dame war doch in der Tat recht hartnäckig. "Doch, das bin ich." Ihre Sitznachbarin setzte gerade mit einem: "So ein Zufall, mein Enkel studiert auch gerade..." an, als Sheryll sie mit ihrem charmantesten Lächeln unterbrach: "Seien Sie mir nicht böse, aber ich möchte diese Zugfahrt nutzen, um mich auf einen Termin vorzubereiten." Die Dame verstummte, kramte ein in Silberpapier eingewickeltes Brot aus ihrer Tasche hervor und begann zu essen. Oh prima, dachte Sheryll, packte ihre Tasche und ihre Jacke unter den Arm und verließ ihren Platz in Richtung Speisewagen. Vielleicht hatte sie ja da etwas mehr Ruhe...
Karl, der seinen Blick nur schwer von den alten Bauten und Weinbergen entlang der Strecke trennen konnte erhob sich und sah auf seine Freundin hinunter. "Katrin, ich gehe mir einen Kaffee holen. Soll ich dir etwas mitbringen?" Sie schaute gar nicht aus ihrem Modemagazin auf: "Danke. Nein. Du weißt doch, dass mir dieser Zug-Kaffee nicht schmeckt." Seufzend verließ Karl das Abteil und sah gerade ein kleines Dorf vor dem Fenster vorbeifliegen. Wie konnte es so weit gekommen sein? Er und Katrin hatten sich vor gut zwei Jahren bei dem Geburtstag eines Freundes kennen gelernt. Sie hatten sich nett unterhalten und eigentlich viel Spaß gehabt. Wo war diese lustige Frau geblieben? Wann und vor allem warum hatte sie sich so verändert? Sie waren nach einem halben Jahr zusammen gezogen und wenn er ehrlich war, hatte das Ende ihrer schönen Beziehung da begonnen. Katrin wollte ein Loft. Mitten in Frankfurt. In der Nähe der alten Oper. Teuer. Im Dach. Mit Dachterrasse. Klaus war es eigentlich egal gewesen, nur schön wollte er es sich mit ihr machen. Katrin hatte das perfekte Objekt entdeckt, er hatte keine Argumente dagegen gefunden und sah sich nun als Mieter eines kalten, weißen, wie Katrin sagte 'skandinavischen' 150 Quadratmeter-Albtraums. Schon auf der Einweihungsparty hatte er mehr als die Hälfte der Leute nicht mal mehr mit Namen gekannt, denn seine Freundin hatte die Gelegenheit genutzt, sie in die High Society von Frankfurt einzuführen. Dabei war sie eigentlich nur Assistentin in einem Verlag in Frankfurt. Nichts wirklich besonderes, wenn er einmal ehrlich war. Ein guter Job, ja, aber eigentlich keine Grundlage für diesen Lebensstil. Und er selber fühlte sich mehr und mehr wie ein Versager. Er war Lehrer - und damit für diese Art Jetset-Leben nun wirklich nicht geeignet. Und Katrin hatte begonnen, ihn als Oberstudienrat vorzustellen. Irgendwie wurde er den Eindruck nicht los, dass ein Realschullehrer nicht genug her machte. Anfangs hatte ihr seine Belesenheit und sein pädagogischer Eifer noch gefallen und imponiert. Mittlerweile war es immer mehr ein Streitpunkt, wenn er mal wieder am Wochenende nicht mit zum Brunchen oder zum noch schlimmer zum Golfen konnte, weil Abiturklausuren auf die Korrektur warteten, oder er neue Stücke für die von ihm gegründete Theater-AG schreiben wollte. Sie fand ihn langweilig und desinteressiert und er war nur froh, dass er diesen blasierten Veranstaltungen fern bleiben konnte. Was sollte er tun? Sie darauf anzusprechen, dass sich ihre Lebensstile und -ziele in der letzten Zeit sehr voneinander entfernten, brachte nichts. Für sie war sein Unwillen nur ein Zeichen von Schwäche, weil er sich wohl nicht mit den 'Großen' messen wollte. Und ihr Drängen war ihm ein Gräuel, weil es falsch und verlogen war und er eigentlich nur seine Ruhe wollte.
"Darf ich mich mit meinem Kaffee zu Ihnen stellen?" Sheryll schaute kaum hoch und nickte. Karl wollte seinen Kaffee abstellen, da rumpelte der Waggon über eine Weiche und Kaffeespritzer landeten nicht nur auf dem Tisch, sondern auch auf der darauf liegenden, aufgeklappten Mappe mit Unterlagen. "Oh mein Gott, das tut mir leid!" Karl stellte seinen Kaffee auf den nächsten Stehtisch und griff nach Servietten. "Wenn Sie das jetzt auch noch verreiben reiße ich Ihnen den Kopf ab!" Ein stechender Blick aus blauen Augen traf Karl, der den Stapel Servietten widerstandslos in die ausgesteckte Hand legte und seine eigene untätig sinken ließ. Ein leises "Es tut mir wirklich leid" murmelnd schaute er sich sein 'Opfer' genauer an. Die Frau war einen guten Kopf kleiner als er, geschmackvoll mit einem grauen Hosenanzug gekleidet, dem eine fliederfarbene Bluse einen schönen Farbtupfer verlieh. Eine widerspenstige Strähne des halblangen, dunkelblonden Haars hatte sich energisch hinters Ohr geklemmt und tupfte nun vorsichtig auf ihren Unterlagen herum. Nett sah sie aus. Aber müde. Und angespannt. Was bin ich nur für ein Trampel, dachte KLaus. Kein Wunder, dass Katrin mit mir nichts mehr anfangen kann. Ich kann mir nicht mal unfallfrei einen Kaffee holen. "Trinken Sie Ihren Kaffee nicht mehr?" Die Frage überraschte Karl. "Ähm... eigentlich dachte ich, dass Sie, also..." "Nun nehmen Sie Sich ihren Becher schon wieder, bevor der Kaffee noch kälter wird. Ich vermute, Sie haben das nicht mit Absicht gemacht. Und um ehrlich zu sein, der Fleck auf den Unterlagen ist quasi wie ein Statement. Die Pläne sind nicht gut. Eigentlich kann man das Ganze nur als Untersetzer benutzen." Sheryll grinste Karl spitzbübisch an. Eigentlich ein ganz Hübscher befand sie. "Darf ich Ihnen jetzt vielleicht auch einen ausgeben?" "Nein, ich nehm dann doch lieber einen Tee" sagte sie schmunzelnd. Und dann sagten beide gleichzeitig: "Tee macht wenigstens keine Kaffeeflecken." Lächelnd ging Karl zum Tresen und gab der ihm noch unbekannten Gelegenheit, ihn anzuschauen. Groß und schlank war er, in Jeans und Pulli mit strubbeligen braunen Haaren. Was der wohl beruflich macht, dachte sie noch, bevor er wiederkam, den Tee vor sie stellte, ihr die Hand ausstreckte und sagte: "Karl Severin." Sheryll nahm seine Hand, "Sheryll McLoud." "Schottisch?" "Meine Eltern, ja, aber ich bin in Deutschland aufgewachsen. Der Name klingt also spannender als es ist." "Was hab ich denn da nun eben mit dem Kaffee versaut?" fragte Karl schuldbewusst. "Das waren zum Glück nur meine Unterlagen für ein Meeting, was ich heute Nachmittag in Frankfurt habe. Ich bin Architektin und meine Firma plant ein Büro- und Wohngebäude in Frankfurt. Und was machen Sie? Wenn Sie mittwochs Zeit haben anderen Leuten im ICE die Unterlagen zu versauen?" Karl erwiderte ihr Lächeln. "Ich bin Lehrer. Realschule. Letzte Woche der Herbstferien." Auffordernd schaute er ihr in die Augen. Nun sag es schon, dachte er, sag schon, ach, Lehrer, das ist sicherlich interessant. Aber es kam anders, als er erwartet hatte und gewohnt war. "Das wollte ich eigentlich auch gemacht haben", sagte sie, "aber mit einem Opa und Vater als Architekten hat die einzige Tochter keine großen Wahlmöglichkeiten." Karl war baff. "Na ja, wirklich unspannend ist Architektur doch nun nicht, oder?" "Kommt immer drauf an, was man vom Leben haben will." Sheryll merkte, dass ihr das nun fast ein wenig persönlich wurde, aber irgendwie war ihr dieser Karl sehr sympathisch. "Wollen wir uns dahinten hinsetzen?" Sie deutete auf einen gerade frei gewordenen Tisch im Speisewagen, er nickte und beide setzten sich in Bewegung.
Zum Glück war Frankfurt Endstation für den Zug. Sonst hätten die beiden ihre Station vermutlich verpasst. Angeregt unterhielten sie sich und hatten beide das Gefühl, dem anderen in der verbleibenden Zeit möglichst viel von sich erzählen zu müssen. Als die Durchsage für Frankfurt Hauptbahnhof kam tauschten die beiden die schon bereit liegenden Visitenkarten aus, umarmten sich kurz, wie zwei alte Bekannte das tun würden und Sheryll sagte: "Wenn du mich nicht anruft, ich tu's." "Dann schauen wir halt, wer schneller ist", entgegnete Karl mit einem Lächeln und begab sich schnell zurück zu seinem Platz. Katrin schien es nicht wirklich bemerkt zu haben, dass fast die Hälfte der Fahrt weg war. Wortlos räumten die beiden ihre Sachen zusammen und verließen den Zug. Sherylls Visitenkarte brannte mit einem warmen, wohligen Gefühl in Karls Hosentasche. Er wusste, er würde sie anrufen und sie würden sich wiedertreffen. Auf dem Bahnsteig trafen sich ihre Blicke noch kurz und sie tauschten ein Lächeln. Vielleicht war das Ende dieser Zugreise ja auch ein Anfang?