Mit ihrem gerade absolviertem, ausgezeichneten Lehrerexamen konnte die 24jährige Sybill wahrlich zufrieden sein.
Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, war sie von einer Schwester ihres viel zu früh verstorbenen Vaters an Kindesstatt angenommen und großgezogen worden. Das Verhältnis der Pflegeeltern ihr gegenüber prägte absolutes Pflichtgefühl, aber nicht die tiefe Zuneigung, die jedoch für Sybills normale seelische Entwicklung extrem wichtig gewesen wäre. Nicht nur ein kleines Kind braucht die Geborgenheit fürsorglicher Liebe. Nein, in gleichem Maße spielt intensive Zuwendung eine wesentliche Rolle für das psychische Gleichgewicht des heranwachsenden Teenagers.
Trotz überdurchschnittlicher Leistungen in ihrer Schulzeit wurde Sybill nicht zur egozentrischen Streberin, sondern zeigte sich weniger begabten Klassenkameraden gegenüber stets aufgeschlossen und hilfsbereit. Das brachte ihr viele Freundschaften ein, die auch in der späteren Studienzeit bestehen blieben. Doch trotz der Beliebtheit, die sie überall genoss, fehlte weiterhin der passende Lebensgefährte an ihrer Seite. Wahrscheinlich hatte sie ihrer zwar behüteten, aber recht lieblosen Kindheit wegen Schwierigkeiten, sich ganz auf einen Gefährten einzustellen, ihm ihr Innerstes rückhaltlos zu öffnen. Sie hätte die Schutzmaske der erfolgreichen jungen Frau ablegen und vor dem Partner die eigenen Mängel und Fehler aufdecken müssen. Ganz offensichtlich war sie noch nicht so stark, diesen Schritt zu tun.
Zudem stellte Sybill extrem hohe Ansprüche; nicht nur an sich selbst, sondern erst recht an einen möglichen Partner.
Ihre beste Freundin Isabell sah Sybills Sololeben mit Trauer. Schon seit Jahren hoffte sie, dass ihre attraktive Freundin endlich ihr passendes Deckelchen fände. Aber, wie konnte sie ihr bloß helfen? So aufgeschlossen sich die junge Frau draußen auch zeigte, zog sie sich bei jeder noch so geringen Annäherung sofort in ihr inneres Schneckenhaus zurück und wurde dann völlig unzugänglich. Selbstschutz? Angst, es könnte jemand die Unsicherheit in dieser Frauenseele entdecken, sie als normalen Menschen mit Mängeln und Fehlern sehen? Ihr den Schutzmantel des leistungsbezogenen Selbstbewusstseins nehmen und ihr wahres Ich zum Vorschein bringen??
Allmählich machte sich Isabell deswegen Sorgen. Sie wollte unbedingt verhindern, dass ausgerechnet diese im Freundes- und Bekanntenkreis überaus beliebte junge Frau sich innerlich total abkapselte. Aber wie nur?
Wie als Zeichen des Himmels kam da die Einladung zu einer großen Party in ihrer Clique gerade zurecht! Und, siehe da! An dem betreffendem Abend geschah es endlich: Wie Isabell es hocherfreut beobachtete, funkte es zwischen Marcus, einem Freund des Gastgebers, und Sybill offensichtlich heftig. Die beiden jungen Menschen hatten nur noch füreinander Augen und die Umwelt völlig vergessen. So intensiv bemühten sich dieser Marcus und ihre Freundin umeinander. Sollte endlich, endlich deren Einsamkeit der Vergangenheit angehören? Ach, wäre das himmlisch!
Sybill schwebte tatsächlich auf Wolken. Das starke Herzklopfen zurück drängend, das sie bereits von der ersten Minute an während des Gespräches mit diesem jungen Mann verspürt hatte, startete sie den erfolglosen Versuch, das für sie unbekannte, aufkeimende Gefühl in ihr zu ignorieren. Doch dann kapitulierte sie, gestand sich ein, dass die versuchte Selbsttäuschung eine vergebliche war. Keine Flucht mehr möglich! Vor diesem Gefühl, das sie sich in ihren Träumen ach so oft gewünscht, sich aber dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit energisch verboten hatte. Diesmal gab es kein Entrinnen. Diesmal nicht, es hatte sie erwischt!! Isabell betrachtete Marcus prüfend und stimmte Sybill im Stillen unbedingt zu. Groß, gutaussehend, ein sehr intelligentes Gesicht. Ein Mann mit einer tollen Ausstrahlung, einem anziehenden Lächeln und einer tiefen, wohlklingenden Stimme. Nicht allein das Äußere, auch sein Benehmen machte Eindruck. Tadellose Manieren. Eben ein richtiger Gentleman. Genau der, den sich Sybill so oft erträumt hatte.
Isabell durfte optimistisch in die Zukunft sehen. Ihr sehnlicher Wunsch erfüllte sich. Nach dieser Feier wurden die Beiden ein Paar, das täglich gemeinsam etwas unternahm und seine Verbindung langsam immer enger werden ließ. Sybill blühte auf, lachte viel ungezwungener als all die Jahre vorher. Sie schwebte in den ersten Monaten des Zusammenseins sichtlich im 7. Himmel. Doch in der Regel ist der Aufenthalt dort kurzzeitig begrenzt. Dann holt einen der Alltag ein. Und im täglichen Allerlei beweist sich die Qualität und Beständigkeit einer menschlichen Beziehung.
Weshalb sollte es Sybill anders ergehen?.
Sie hatten sich zusammen gerauft, Marcus und sie. Alle kleineren und größeren Probleme der letzten Monate hatten sie gemeinsam gemeistert, kleine Streitereien ausgefochten, die anschließende Versöhnung aus vollem Herzen genossen und auch die Freude darüber miteinander in innigster Weise geteilt. Doch nach Ablauf eines halben Jahres registrierte die junge Frau zunehmend die Schwächen ihres Partners als auch Eigenarten, die sie vorher in erster Liebe übersehen hatte. Unbewusst, oder auch willentlich! Es kristallisierte sich heraus, dass Marcus, der Sohn aus vornehmer Familie, ein absoluter "Knecht" der Lebensart seiner großbürgerlichen Gesellschaftsklasse war. Er erwartete von der Partnerin absolute Anpassung und teilweise sogar Unterordnung ihm gegenüber. Sybill entsprach in ihrem Verhalten jenem Anspruch, doch mit der Zeit litt sie zunehmend darunter, diese Art zu leben zu akzeptieren. Sie war Freiheit gewohnt, wie auch Entschlussfreiheit! Und jetzt übernahm Marcus drängend immer strenger ihre gemeinsame Lebensplanung. Meistens fällte er die wichtigen Entscheidungen. Oft sogar, ohne zuvor ihr Einverständnis einzuholen. Die Streitereien häuften sich und endeten jedes Mal mit einem hilflosen Heulanfall Sybills. Sie liebte ihn doch; hatte sich angepasst, ihre Selbstständigkeit aufgegeben, um ihn glücklich zu machen! Weshalb tat er ihr das an? Wo war seine einfühlsame, rücksichtsvolle Art geblieben, die sie mittlerweile so sehr vermisste; dringend brauchte, um Geborgenheit zu empfinden?
Da sie ihn um keinen Preis verlieren wollte, gab sie klein bei und überließ letztendlich alles ihm. Empfand er es etwa gar nicht, oder, ein weitaus quälenderer Gedanke für seine junge Frau, oder er verdrängte bewusst das aufkommende Wissen um ihr Leid? Durch ihr Verhalten unterstützte Sybill Marcus` Bestreben, die Führerrolle, auf die er keinesfalls zu verzichten gedachte, in vollem Maße auszuleben. An seiner Seite akzeptierte er ausschließlich eine Partnerin, die sich in allem den Konventionen seines akademischen Elternhauses beugte. Ein zu eigenständiges Verhalten der Gefährtin hätte das Ende des gemeinsamen Lebensweges nach sich gezogen!!
Ihre Liebe zu ihm, aber auch der von ihr so oft ersehnte Wohlstand bedeuteten Sybill dermaßen viel, dass sie sich keine für Marcus unerträgliche Eigenmächtigkeiten von ihrer Seite aus erlaubte, um ja die Beziehung nicht zu gefährden. Viel zu glücklich war sie, endlich die ärmliche Kindheit und Jugend vergessen und stattdessen den Luxus um sie her genießen zu können. So schluckte sie tapfer alles hinunter, was sie in dieser Partnerschaft zu quälen begann. Sie spielte brav die von ihr erwartete Rolle einer jungen angepassten Dame der Gesellschaft. Auf diese Weise entkräftete sie innerhalb kürzester Zeit die Vorurteile, die ihr wegen ihrer ärmlichen Herkunft von Seiten der Eltern ihres Freundes entgegengebracht worden waren. Allen voran, war vor allem Marcus Vater von Sybill begeistert und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass die Beiden ihr gemeinsames Leben durch eine baldige Heirat legalisierten. Ja, Sybill wäre die richtige Frau für seinen Sohn. Aber auch die passende, vorzeigbare Schwiegertochter für ihn und seine Gattin. Sie war intelligent, hatte die erforderlichen Umgangsformen und war obendrein noch sehr hübsch. Was wünschte man sich mehr!?
In den zurückliegenden Monaten hatte Isabell eine beunruhigende, schleichende Veränderung Sybills registriert. Darauf angesprochen, versicherte ihr ihre Freundin, es sei alles wie sonst, alles in bester Ordnung. Doch diesen verzweifelten Selbstbetrug stand Sybill nur eine kurze Zeit durch. Als Folge wachsender, innerer Verkrampfung verstummte ihr fröhliches Lachen mehr und mehr. Sie verschloss sich zusehendst.
Einige Wochen später hakte Isabell nochmals eindringlichst nach und ließ nicht locker, bis Sybill ihr unter Tränen gestand, dass sie sich wie in einem goldenen Käfig gefangen, wie angekettet fühle. So, als ob sie ihre Persönlichkeit hätte aufgeben müssen. Entsetzt lauschte Isabell diesen verzweifelten Worten. Aus Sybill brach in diesem Gespräch alles hervor, was sich in den langen, langen vergangenen Monaten an Frust und Ängsten angestaut hatte. Ihre Freundin sah erschüttert ihre Befürchtung bestätigt, dass Sybill mit ihrer Kraft fast am Ende war. Wie lange wäre die junge Frau noch seelisch in der Lage, die ihr aufgezwungene Rolle durchzustehen? Urteilte sie nach dem, was sie da erfahren hatte, ließe der Nervenzusammenbruch nicht mehr lange auf sich warten. Es war eine Frage der Zeit, dass Sybill langsam innerlich zu Grunde ginge. War der neue Lebensstil das denn wert? War es für sie dermaßen wichtig, an Marcus` Seite als zukünftige Dame der Gesellschaft eine ihr bis dann ungekannte Art der Anerkennung und Bewunderung genießen zu können? Setzte sie dafür sogar ihre psychische Gesundheit aufs Spiel, agierte nur noch wie eine Marionette - ohne eigenen Willen, im Bewusstsein des Verlustes sämtlicher Entscheidungsfreiheit??
Offensichtlich ja! Sonst hätte ihre einst so selbstbewusste Freundin doch sicher längst den Schlussstrich unter diese vom Prestigedenken dirigierte Verbindung gezogen. Oder liebte die ihren Marcus trotz all dem so sehr, dass sie alles, aber auch wirklich alles in Kauf nahm??
Zwei Wochen nach dieser Aussprache telefonierten die beiden Freundinnen miteinander. In jenem Gespräch klang Sybill ungewohnt euphorisch, so ganz anders als in der allerletzten Zeit. Isabell stutzte, horchte auf und ließ sich die Neuigkeiten berichten, die Sybill zum Besten gab. Sie hatte per Zufall in der Nachbarstadt in einem kleinen Cafe die Bekanntschaft eines Mannes gemacht, der so ganz anders war als Marcus. Nämlich unkonventionell, spontan und voller Humor. Sie gab Isabell gegenüber - schließlich war die ihre beste Freundin - auch ehrlich zu, dass dieser Mann einen gewissen Reiz auf sie ausübte. Sie hatte anscheinend im Gespräch mit jenem Fremden einen Hauch der ihr verlorenen, inneren Freiheit gespürt. Sybill war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass sie allein durch ihr Interesse an einem länger währenden Kontakt zu dem Unbekannten den ersten Schritt zum Vertrauensbruch ihrem Freund gegenüber getan hatte. Dennoch genoss sie jedes Wiedersehen und ließ es zu, dass es nicht nur bei oberflächlichen Treffen blieb, sondern zeigte offen ihr Verlangen nach einer innigeren Beziehung. In den folgenden drei Wochen trafen sich dieser Mann, Fred mit Namen, und Sybill heimlich regelmäßig hinter Marcus Rücken, der von alledem selbstverständlich nichts ahnte. Die Vertrautheit wuchs; auch die gegenseitige körperliche Anziehungskraft. Beide widerstanden nicht und schliefen in dieser Zeit mehrmals miteinander.
Doch nach dieser Zeit voller Glück beschlich Sybill die Furcht vor Entdeckung. Sie beendete das Verhältnis. Hegte Marcus auch nur einen diffusen Verdacht, könnte sie ihn und ihr luxuriöses Leben vergessen. Er würde nicht verzeihen. Er würde sich sofort von ihr lossagen. Der Preis war ihr zu hoch.
Fred reagierte sehr gekränkt, als sie ihm ihre Trennungsabsicht mitteilte. Mehr war er nicht für sie gewesen, nur eine Blitzaffaire? Enttäuscht zog er sich zurück.
Mit erleichtertem Gewissen kehrte Sybill zu ihrem Lebensgefährten Marcus zurück. Schlüpfte wieder in die ihr nun so vertrauten Rolle der jungen Dame der Gesellschaft. Doch sollte ihre Hochstimmung sehr schnell verfliegen. Zwei Wochen später blieb ihre Periode aus. Sie musste sich von einem Arzt sagen lassen, dass sie schwanger wäre. Wie vom Blitz getroffen saß sie in der Praxis. In ihren Ohren dröhnte nur dieses für sie schreckliche Wort: Schwangerschaft! Schwangerschaft - Schwangerschaft!!
Selbst die entsetzliche Beklemmung, die dann von ihr Besitz ergriff, hätte sie nicht zu dazu veranlassen können, eine Abtreibung vornehmen zu lassen.. Nein, da blieb sie ihrer Auffassung treu. Abtreibung war Mord in ihren Augen; egal, zu welchem Zeitpunkt!. Das kam absolut nicht in Frage. Aber, was dann? Wie fände sie einen Weg aus diesem Teufelskreis? Diese ungewollte Schwangerschaft, dieses wachsende Kind unter ihrem Herzen befehligte fortan ihr Leben. Schier unerträglich drückte sie die Einsicht, außer Isabell gegenüber niemals auch nur ein einziges Wort darüber äußern zu dürfen. Sie war dazu verurteilt, in Zukunft ihrem sämtlichen Freundeskreis für den Rest ihres Lebens als Lügnerin zu begegnen, wollte sie nicht alles, alles aufs Spiel setzen, was ihr so teuer war. Der Verschwiegenheit ihrer Freundin fühlte sie sich sicher. Nie dränge durch eine Indiskretion Isabells, selbst nicht im Krach, ein Sterbenswörtchen über ihr schreckliches Geheimnis an die Öffentlichkeit, geschweige denn, zu Marcus! Ausschließlich diese vermeintliche Sicherheit gab ihr in ihrer wie ausweglos erscheinenden Lage innere Kraft. Innere Stärke, die sie zur nervlichen Bewältigung dieser Katastrophe nützen müsste. Sie hätte ihre nun gefährdete Zukunft irgendwie in den Griff zu bekommen!!
Nach einer Reihe schlafloser Nächte, in denen sie Gewissensbisse und panikartige Gedanken plagten, rang sich Sybill zu einem Entschluss von ungeahnter Tragweite durch. Der leibliche Vater des Babys sollte unter keinen Umständen je erfahren, dass dieses kleine Leben ihn sehr wohl etwas anging. Ihr Plan stand fest: Um Marcus nicht zu verlieren,, täte sie etwas Ungeheuerliches: Sie würde behaupten, das Kind wäre von ihm! Gestünde sie dagegen ihren Fehltritt, zerstörte sie jegliche Chance für die Fortsetzung ihrer Lebensgemeinschaft!
In dem diesbezüglichen, nachfolgenden Vertrauensgespräch zwischen den Freundinnen versuchte Isabell - von Sybills Absicht, die Zukunft auf einer solch schwerwiegenden Lüge aufzubauen - aufs Äußerste schockiert, ihre Freundin mit vehementen Vorhaltungen von diesem ihrer Auffassung nach unsittlichen Vorhaben abzubringen. Nein, sie verabscheute das Ganze zutiefst!! Doch da war ihre fast lebenslange Freundschaft mit all ihren Höhen und Tiefen, mit Tagen voller Freude und Spaß, aber auch mit Zeiten voller Probleme und Sorgen, die sie beide stets gemeinsam bewältigt hatten. All dies band sie an diese junge Frau, die ihr nun situativ bedingt charakterlich so fremd erschien. Wie es die Verzweifelte erhofft und eigentlich fast erwartet hatte, gab ihr ihre Freundin aus übergroßem Mitleid das Versprechen, dieses Wissen für alle Zeiten in ihrem Herzen zu verschließen. Sybill wähnte, sich nach diesem Schwur auf deren Verschwiegenheit verlassen zu können. Schließlich war Isabell ihre lebenslang engste Freundin!
Wie gut traf es sich da, dass Marcus seiner Lebensgefährtin ein paar Tage später einen offiziellen Heiratsantrag machte. Unverständlich für Isabell, verdrängte Sybill mit Erfolg ihr schlechtes Gewissen und willigte glücklich ein. Nicht nur sie selbst, sondern auch das werdende Leben da unter ihrem Herzen wären gut gesichert. Ihr Kind würde keine Armut erleiden müssen!
Die Hochzeit wurde sehr prunkvoll gefeiert. In Anwesenheit der 200 geladenen Gäste gaben sich Sybill und Marcus bei strahlendstem Sommersonnenwetter das Eheversprechen. Sie mit dem festen Vorsatz, von nun an Marcus eine treue, folgsame Ehefrau zu sein, und dem Kind eine wunderbare Mutter; gewissermaßen so Abbitte für ihren schwerwiegenden Fehltritt während ihrer bisherigen Partnerschaft zu leisten. Da war sie sich ganz sicher: Wäre das Kleine erst einmal auf der Welt, würde Marcus zum liebevollsten Vater überhaupt.
Die Zeit verstrich. Die Schwangerschaft, die völlig beschwerdefrei verlief, neigte sich ihrem Ende zu. Voller Ungeduld und Freude warteten Marcus und Sybill auf das große Ereignis. Marcus bestand darauf, der Geburt beizuwohnen. Bereits Wochen vor der Ankunft des Babys stand er seiner jungen Frau jede Minute zur Seite, die er erübrigen konnte.
Endlich war es soweit. Alles verlief schnell und zudem reibungslos. Sie bekamen ein süßes Töchterchen. Beide strahlten um die Wette wegen des ihnen geschenkten Elternglückes. Aufatmend stellte Sybill fest, dass die Kleine Marcus per Zufall sogar ähnelte. Nichts würde also dem Glück zu dritt im Wege stehen!
Sie waren nun eine kleine Familie. Das Töchterchen, auf den Namen "Maren" getauft, wuchs langsam, aber sicher heran. Eine kleine Bilderbuchschönheit mit viel Temperament und immer noch dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Nur Sybill wusste, was es mit dieser Ähnlichkeit auf sich hatte; dass diese absolut zufälliger Natur war. Wenn sie ihre Tochter so betrachtete, dachte sie unwillkürlich an deren leiblichen Vater, der niemals wüsste, dass dieses süße Geschöpf sein eigen Fleisch und Blut war. Er würde es doch nie in Erfahrung bringen? Bei diesem erschreckenden Gedanken wurde es Sybill ein wenig mulmig in ihrem Mutterglück. Doch, da Meisterin im Verdrängen, schob sie ihn schleunigst ganz weit von sich und freute sich lieber an dem fröhlichen Wesen da vor ihr.
Die Jahre vergingen.
Maren kam ins Teenageralter. Im Alter von 16 Jahren bleibt einem nicht mehr alles verborgen.. Häufiger fiel dem Mädchen auf, dass die Mutter sie manchmal so eigenartig nachdenklich ansah. In einer Weise, als ob deren Gedanken in weiter Ferne weilten. Doch nach Art heranwachsender junger Menschen interpretierte Maren das derart, dass Mütter eben manchmal ihren Nachwuchs unter dem Aspekt begutachteten, dass dieser dem Kindesalter entwuchs und zunehmend eine eigene Persönlichkeit entwickelte. Was sollte das Mädchen auch Anderes vermuten?
Sybills Überlegungen liefen allerdings in solchen Minuten in eine für ihre Tochter nicht erkennbare Richtung. Bald wäre Maren volljährig. Von Rechts wegen wäre sie verpflichtet, ihr dann die brutale Wahrheit zu eröffnen. Müsste sie überhaupt? Ihre Tochter hatte doch eine sehr glückliche Kindheit und Jugend im Wohlstand durchlebt; mit allem, was sich ein Kinderherz so wünschte. Maren war mittlerweile in einem Alter, in dem die eigene Kindheit schon zur wichtigen Erinnerung an einen prägenden Lebensabschnitt geworden war. Gestünde ihr Sybill, dass die Mutter, nicht sehr viel älter als jetzt der Nachwuchs, mit einem Fehltritt eine Lebenslüge geboren hatte...? Konnte sie das ihrer Tochter gegenüber überhaupt verantworten? Hatte sie sowohl ihrem Mann als auch dem Kind nicht mit besonders intensiver Zuneigung und Aufopferung, bis hin fast zur Selbstaufgabe, in höchst ausreichendem Maße Abbitte geleistet? Führte sie dadurch nicht allein die Zerstörung ihres eigenen, seit der Geburt Marens in sehr normalen Bahnen verlaufenden Lebens herbei, sondern auch das ihres Kindes; wie auch das des Ehemannes, mit dem sie eine sehr stabile, harmonische Beziehung pflegte?
Ein noch entsetzlicherer, sie ohne Unterlass dann quälender Gedanke gab außer der Angst, alles offen legen zu sollen, schließlich den Ausschlag. Sie war davon überzeugt: Gäbe sie ihr ungeheuerliches Geheimnis preis, wendete sich Maren nach dem ersten Schock in kindlicher Verzweiflung total von ihr ab. Von dem Moment der Offenbarung an würde sie sie als Mutter ablehnen; ja, sogar vor aller Umwelt verleugnen. Das verziehe ihr die Tochter mit Sicherheit nie, dass sie ihr eigenes Kind, und, noch gravierender, auch den Gatten das halbe Leben lang getäuscht hatte. Mit einem so schwerwiegenden Betrug! Marcus Ablehnung hätte sie irgendwie verkraftet, aber nicht den Hass ihrer Tochter, einem Teil ihres Selbst. Ihr Inneres ginge daran zugrunde, sie wäre wie tot!
Sie entschloss sich, sowohl aus Feigheit als auch aus praktischen Erwägungen, diesen Leiden nach sich ziehenden Schritt noch wenigstens so lange aufzuschieben, bis ihre Tochter auf eigenen Füßen stünde.
Diese Ausrede, mit der sie vor sich selber ihre fast kriminelle Handlungsweise zu rechtfertigen versuchte, war nichts anderes als die zweite schlimme Lebenslüge, der zweite noch schlimme Folgen nach sich ziehende Selbstbetrug. Doch lieber mit dieser Lüge leben, als sich der dann eskalierenden Situation zu stellen, in den Augen der Verwandtschaft als Verbrecherin da zu stehen und alles, was ihr lieb und teuer war, aufgeben zu müssen!
Ein zweites Mal in ihrem Leben verdrängte sie mit Erfolg all diese beklemmenden Überlegungen. Wieder widmete sie sich ihrer kleinen Familie mit Aufopferung und genoss das gutsituierte Leben mit Marcus. Es folgte ein harmonisches Jahr voller Glück. Nichts wies auf die sich anbahnende Katastrophe hin, die diese drei Leben durcheinander wirbeln sollte!
Nach Ablauf jenes Jahres störte etwas das bis dato glückliche Familienleben. Zunächst waren es nur anonyme Anrufe, die niemand zu begründen verstand. Selbst Sybill nicht, die doch am ehesten einen bestimmten Verdacht hätte hegen können. Nein, die ersten Telefonate mit offener Leitung und ohne Stimme am anderen Ende beängstigten sie alle noch nicht. Entweder hatte sich jemand verwählt oder erlaubte sich einen allerdings recht unverschämten Scherz. Als diese Dinge sich aber häuften, überdachte die junge Frau die traurige Möglichkeit, ob Marcus heimlich eine Geliebte hätte, die hinter ihm her telefonierte. Seit einigen Wochen erschien er erst relativ spät aus seiner Anwaltskanzlei und erklärte das mit vermehrter Arbeit. Erklärungen solcherart kannte sie ja. Aus Funk, Film und Fernsehen. Jedoch, als eines Tages nicht sie, sondern zufällig er einen jener unverschämt dreisten Anrufe entgegen nahm, und schon wieder Stille am anderen Ende der Leitung herrschte, hatte sie seine Reaktion darauf aufmerksamst beobachtet. Überraschung, Verärgerung und Verunsicherung zeigte seine Mimik. Aber keine Verlegenheit oder gar schlechtes Gewissen! Da steckte etwas Anderes dahinter! Nur was? Ob vielleicht ein schüchterner Verehrer Marens dahinter steckte, der aus Angst vor einer Abfuhr es vorzog, unerkannt zu bleiben, um dann auf diese Weise am Telefon per Zufall wenigstens für ein paar Sekunden ihre Stimme zu hören? War das des Rätsels Lösung? Überflüssig,. Maren danach zu fragen, ob und wer da in Frage käme. Solch ein Kandidat hielte sich in stiller Verehrung sowieso von ihr fern im Hintergrund, so dass Maren ihn mit Sicherheit noch nicht einmal hätte benennen können. Überhaupt eine verrückte Idee!
Nein, sollte dieser Telefonterror, denn das war er mittlerweile, nicht bald ein Ende finden, wendete sie sich an die Polizei mit der Bitte um eine Fangleitung. Lange ließe sie ihre Nerven nicht mehr strapazieren!! Denn sie alle Drei, Marcus, Tochter Maren und auch sie selbst reagierten bei jedem weiteren Anruf zunehmend gereizter. Sie ließe sich doch von einem offensichtlich geistig gestörten Menschen nicht ihre kleine heile Welt kaputtmachen!
Doch der Fremde gab nicht auf. Stattdessen steigerte er seine Terroraktionen in erschreckendem Maße. Bald tyrannisierte er sie mit mehrmaligen Störungen während ein und desselben Tages. Immer derselbe Ablauf: Stille Leitung, keine Stimme, auch keine indizienträchtigen Hintergrundgeräusche.
Allmählich kamen Marcus neben der Verärgerung, die sie mittlerweile alle Drei gefangen hielt, diffuse Zweifel. Welches Motiv mochte der Unbekannte haben? Soviel stand für ihn mittlerweile fest, dass dieses Verhalten nicht mehr unter dem Aspekt "böser Bubenstreich" zu sehen war. Da wollte jemand ihrer aller Nervenkraft rauben. Wohlmöglich eine psychische Bombe zur Explosion bringen. Weshalb nur??
Immer öfter lagen Sybill, Marcus und selbst Tochter Maren abends grübelnd im Bett. Eines Nachts wachte Sybill schweißüberströmt nach einem schrecklichen Albtraum auf. Traumatisiert setzte sie sich im Bett auf und unternahm vergebliche Anstrengungen, Abstand vom Inhalt jenes Traumes zu gewinnen. Die furchtbaren Gedanken, die sie so plötzlich aus ihrem Seelenfrieden herausrissen, ließen sie nicht mehr zur Ruhe kommen. Nein, das konnte, das durfte einfach nicht sein! Es wäre nur ihr Unterbewusstsein, das ihr diesen bitteren Streich spielte, und sie unbarmherzig an ihre weit zurückliegende Vergangenheit erinnerte. An das entsetzliche Unrecht, dass sie sowohl ihrem Mann als später auch ihrer geliebten Tochter angetan hatte. Sollte das alles sie etwa einholen, sie innerlich zerstören? Nicht zu reden von dem Leben zweier geliebter Menschen in ihrer nächsten Umgebung?
Von diesen Überlegungen verfolgt, war an Einschlafen nicht mehr zu denken. Gleich morgen würde sie Isabell anrufen, mit der sie schon länger nicht mehr gesprochen hatte. Es war so und so an der Zeit, sich miteinander wieder einmal gründlich auszutauschen. Etwas gelassener geworden, drehte sie sich auf die Seite und fiel wiederum in Schlaf. Einen sehr unruhigen Schlaf, der ihr nur minimale Erholung brachte. Als sie am anderen Morgen erwachte, fühlte sie sich total gerädert mit dem Gefühl, als fehlte ihr die Nachtruhe mehrerer Tage. Eingesperrt in ihren Gedankenwust, konnte, durfte sie diese nächtliche Episode unter keinen Umständen mit Mann und Tochter besprechen... Das war das eigentlich Zerfetzende, was sie so panisch werden ließ! Redlich bemühte sie sich, diesen Tag möglichst normal wie jeden anderen sonst anzugehen. Spürte Marcus ihre psychische Labilität an jenem Morgen, dann wäre Misstrauen gesät. Denn auch er wälzte Gedanken vieler Art. Mehrmals hatte er sie grübelnd von der Seite angesehen. Bisher hatte sie stets unbeschwert heiter zurücklächeln können. Das war ihr seit der letzten Nacht unmöglich geworden! Bei jedem Blickkontakt befürchtete sie, er könne ihr ansehen, wie es innerlich in ihr tobte. Angstvoll vermied sie, ihm in die Augen zu sehen. Das ließ sich am ehesten bewerkstelligen, indem sie sich während der nur noch seltenen Unterhaltungen emsigst in irgendeine Arbeit hineinkniete. Hausfrauliche Betätigungsmöglichkeiten gab es gottlob mehr als genug, die sie, ohne aufzufallen, auch während eines Dialoges in Angriff nehmen konnte.
Doch verhalfen all diese Manöver nur eine kurze Weile lang zum gewünschten Selbstschutz. Die fortwährende, aufdringliche Bimmelei des Telefons hatte sie alle extrem sensibilisiert. Nicht nur, was diesen verflixten, schwarzen Apparat anging. Sondern in jeglicher Hinsicht. Sie fingen an, wie sie glaubten, vom Gegenüber unbemerkt, misstrauisch in der Mimik des Anderen zu forschen. Die Natürlichkeit des Zusammenlebens verflog. Das Familienleben wurde zur Kunst. Jede Regung unterlag zwanghafter Disziplinierung.
Als die Anspannung schier ins Unerträgliche stieg, wandelte sich die Methodik des Terrors. Die neue Vorgehensweise des Anrufers stieß sie in gesteigerte Bedrängnis. Die Serie der stillen Anrufe wurde Vergangenheit. Der Mensch am anderen Ende der Leitung hatte mit dem anonymen Terror offensichtlich noch nicht sein Ziel erreicht. So setzte er in seinen Aktionen noch eins drauf. Eines Morgens meldete sich der Unbekannte. Es wurde zur Gewissheit, dass er die Familie bis hin in den Wahnsinn zu treiben gedachte. Er gab sich nicht länger mit der Rolle des stummen Statisten zufrieden, der er bislang gewesen war. Nun übernahm er das Spiel des Hauptdarstellers in dieser grausamen Komödie. Seinen Namen verriet er nicht; noch nicht! Es erschien ihm wohl zu früh, seine Identität preiszugeben. Die nervliche Widerstandskraft seiner Opfer hatte er als zu geschwächt angesehen. Es wäre ihm nicht möglich, sie bereits mit dem darauf folgenden 2.Akt dieses von ihm inszenierten Theaterstückes schon zu zermürben.
Wieder einmal (Zum x-ten Male, die Drei hielten schon nicht mehr nach, wie oft sie schon dieses in ihren Ohren bedrohliche Schrillen sie hatte zusammen zucken lassen!), läutete das Telefon. Per Zufall eilte ausgerechnet Marcus zum Apparat. Inzwischen bildete jeder von ihnen sich ein, der als Folge des Terrors verstärkten, eigenen Sensibilität wegen die Fähigkeit entwickelt zu haben, heraus hören zu können, ob es sich um einen "normalen" Anruf von Freunden bzw. Bekannten oder um einen der dreisten Versuche dieses Fremden handelte, sie durch seine Tyrannei eines Tages zu Grunde zu richten.
Auch diesmal nahm ausgerechnet Marcus den Hörer ab: Die Lautlosigkeit erwartend, bereits frustriert und deprimiert. Deprimiert, weil er und seine Familie diesen Angriffen hilflos ausgesetzt waren. Doch diesmal verlief alles anders. In einer Weise anders, dass ein in seiner Art gefährlicherer Schock sie alle in Atem hielte. Sie würden in Misstrauen gegen einander aufgewühlt sein. Die veränderte Taktik des Angreifers zeigte nur allzu klar seine Absicht, sich nicht länger unerkennbar im Hintergrund zu halten und nur die lautlose Leitung ihre nicht unerhebliche Wirkung ausüben zu lassen, sondern seine ernstzunehmende Aggression dieser Familie gegenüber zu unterstreichen, indem sie zum ersten Male seine Stimme vernähmen.
Erstarrt hielt Marcus den Hörer in der Hand, fassungslos darüber, was er zu hören bekam. Der Anrufer drohte, die kleine Familie nie mehr in Ruhe zu lassen, sie fertig zu machen. Die Telefonanrufe wären erst der harmlose Anfang; sozusagen der Auftakt der zu erwartenden Repressalien. Verzweifelt versuchte Marcus, irgendein Gespräch in Gang zu bringen, aus dem er das immer noch ihm schleierhafte Motiv dieses Menschen hätte erkennen können. Eventuell durch einen Versprecher, vielleicht durch einen wütend dahingeschleuderten Satz seines akustischen Gegenübers. Doch es war aussichtslos! Machtlos ließ er den Hörer zurück auf die Gabel sinken. Marcus setzte sich wie gelähmt auf den nächststehenden Stuhl. Er wollte unbedingt die Nerven behalten, dadurch der gefährlicher werdenden Situation Herr bleiben. Auf alle Fälle spräche er jetzt eindringlich mit Sybill! Seine Überzeugung wuchs, so zurückhaltend seine Frau sich in letzter Zeit ihm gegenüber verhielt, dass sie ihm etwas verschwieg. Sollte sie etwa einen Liebhaber haben, den sie eventuell zurückgewiesen hatte, und der sich jetzt auf diese Weise rächte? Eine ausgemacht schäbige Art, die bezeichnend wäre für einen ausgemacht scheußlichen Charakter dieses Fremden.
Noch am selben Tag stellte er seine Frau zur Rede. Doch sie beteuerte ihm so glaubhaft ihre Unschuld, verständlicherweise erst recht ihr Unwissen, so dass er trotz innerer Zweifel dem Misstrauen seiner Frau gegenüber Einhalt gebot. Aber im Unterbewusstsein arbeitete es weiter. Sein Vertrauen zu ihr bekam Risse. Wenn es kein Liebhaber war, was dann? Irgendetwas verheimlichte sie ihm...!
Auch die Tochter litt zutiefst des häuslichen Unfriedens wegen. Sie spürte das schwindende Vertrauen zwischen den Eltern. Auch ihr war das verstörte Verhalten ihrer Mutter aufgefallen, dass sie sich aber damit erklärt hatte, dass solche wiederkehrenden anonymen Anrufe sehr wohl bei einem Menschen psychische Auswirkungen nach sich zogen. Ein anderer Mann im Leben ihrer Mutter? Maren wehrte sich strikt gegen diesen Gedanken, mochte sich noch nicht einmal diese Möglichkeit auch nur vorstellen. Die Ehe ihrer Eltern war ihr bisher immer ein Vorbild gewesen. Aber etwas blieb rätselhaft im Benehmen der Mutter. Selbst Maren musste sich das eingestehen. Rein oberflächlich betrachtet, ging das Leben einen zwar verkrampften, aber trotzdem noch relativ normalen Gang. Fast schien es so, als ob die Angriffe entgegen der ausgesprochenen Drohung gestoppt würden. Jedenfalls tat sich einige Wochen überhaupt nichts Ungewöhnliches mehr. Nach einiger Zeit atmete auch Marcus befreit auf. Also war es wohl doch nur die Aktion eines Verrückten gewesen, die man nicht weiter ernst zu nehmen brauchte!
So dachte auch die Tochter. Nur Sybill lebte in einer ständigen, ausschließlich für sie selbst sehr wohl erklärbaren Angst. Ihr damaliger Albtraum hatte sie wachgerüttelt. Ihre dunkle Vergangenheit hatte sie eingeholt.
Kurze Zeit später setzte sie ihr Vorhaben, dringendst mit Isabell zu reden, in die Tat um. Ihre Befürchtungen nahm diese eigenartig gelassen zur Kenntnis. Auf die Frage nach dem Grund ihres langen Stillschweigens erhielt Sybill ebenfalls keine klare Antwort. Das ganze Gespräch verlief so fremd, nicht wie der Gedankenaustausch zweier so guter Freundinnen. Verwirrt beendete sie schließlich das Telefonat. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, dass sie aber noch nicht zu deuten wusste.
Bald sollte sie verstehen, sehr bald. Auf eine Art würde ihr die Auflösung des Ganzen nähergebracht, wie sie sie sich niemals in ihrer Dramatik hätte erdenken können. Es wartete auf sie der absolute Albtraum!
Der Fremde hatte nicht etwa aufgegeben, sondern plante bereits den nächsten Schritt. Jetzt startete er den direkten Angriff, der die Bombe endlich hochgehen ließe.
Wenige Tage nach dem unverständlich befremdlichen Gespräch mit Isabell spazierte Sybill morgens wie stets zum Briefkasten, um nach der Post zu sehen. Neben dem üblichen Berg juristischer Briefe fiel ihr ein kleiner, grüner Briefumschlag ohne Absender in die Hand. Nichts Gutes ahnend, öffnete sie ihn, um sich dann leichenblass am Gartenzaun festzuklammern. Nein, so weit würde er doch nicht gehen. Das würde er doch nicht wagen! Schon im ersten Moment hatte sie die Handschrift als die des Mannes erkannt, der sie einmal vor fast achtzehn Jahren sehr glücklich gemacht hatte. Jetzt aber empfand sie Furcht, absolute Panik! Alles wäre aus, wenn Marcus oder auch Maren diesen Brief in die Hände bekämen. Nochmals las sie den furchtbaren Text: Er spürte sie überall auf. Er würde sich rächen für alles, was sie ihm an Demütigungen zugefügt hätte. Sein Wissen um ihr Geheimnis würde ihr Leben zerstören. Nur noch eine kurze Frist, dann packte er aus!
Weiß wie die Wand lehnte sich Sybill gegen den Gartenzaun, vor Panik und aufkommender Wut zitternd!. Also doch: Das Schicksal hatte bestimmt, dass sie nach all den Jahren des Einsatzes für ihre Familie doch noch für ihr Vergehen büßen müsste. Alles käme zutage. Sie verlöre Mann und Tochter, würde verstoßen aus der Umgebung, die sie so sehr zu lieben gelernt hatte. Zu Recht ihrer übergroßen Schuld wegen verdammt werden!
Fieberhaft überlegte sie, wo sie den Brief deponieren könnte, ohne die Gefahr der Entdeckung. Einfach seine zwei Bögen in winzige Schnipsel zu zerreißen und diese dann in den Papierkorb wandern zu lassen, erschien ihr als zu leichtsinnig. Die grellgrüne Färbung der Papierstücke hätte auf jeden Fall gefährliche Neugierde geweckt. So verschwand dieses verräterische Schriftstück in ihrer Hosentasche. Wie in Trance rannte sie zurück ins Haus, die Treppe in die obere Etage hinauf, immer zwei Stufen auf einmal, um dann in die scheinbare Geborgenheit ihres Arbeitszimmers zu hasten. In ihrer Panik lauschte sie auf jedes noch so leise Geräusch, beobachtete jede noch so geringe Bewegung innerhalb des Hauses. Sei es, dass eine Türe leicht knarrte, sei es das Wehen einer Gardine am offenem Fenster -alles erschien ihr als Zeichen einer sie betreffenden Verfolgung.
Sybill betrat ihr Zimmer. In ihrer Panik vergaß sie die Türe zu schließen, lehnte sie nur flüchtig an. Was nun? Wohin mit dem Brief? Mit äußerster Konzentration gelang es ihr, trotz der wirbelnden Gedanken in ihrem Kopf, das ihrer Meinung nach einzig mögliche Versteck für diesen Drohbrief auszuwählen. Ja, wieso war sie denn nicht gleich darauf gekommen, wozu besaß denn ihr Schreibtisch dieses kleine Geheimfach? Dort entdeckte ihn niemand! Just in diesem Moment hörte sie aus dem Nebenraum schnellen Schrittes sich jemand ihrer Türe nähern. Atemlos stand sie da, in den zittrigen Fingern das verräterische Papier. In größter Bedrängnis öffnete sie das Geheimfach und schob den Brief unter einen Stapel alter Rechnungen, um mit letzter Kraft dann diese Schublade wieder zu schließen. Es wäre unwahrscheinlich, dass Marcus ihren Schreibtisch durchwühlte. Ihr Verhältnis zueinander hatte sich der Ruhe in den letzten Wochen wegen wieder gebessert.
Ihre extreme Angst erwies sich als unnötig. Niemand betrat ihren Raum. Nichts dergleichen geschah. Die für sie angsteinflößenden Schritte entfernten sich ebenso rasch, wie sie gekommen waren. Eine, wenn auch vorübergehende Verlängerung der Galgenfrist für sie!
Arme Sybill! Ihre Schonfrist erstreckte sich nur über wenige Stunden. Als Marcus an diesem Abend nach Hause kam, spürte er sofort, dass irgendetwas vorgefallen war. Er forschte nach, erhielt aber von seiner Frau nur ausweichende Auskünfte. Sollte etwa der Unbekannte von damals...? Wenigstens das konnte Sybill noch einigermaßen gelassen verneinen. Nein, da wäre kein bedrohlicher Anruf gekommen. Marcus Sensibilität für ungewöhnliche Situationen war aber mittlerweile so gespitzt, so dass er aus Sybills Stimme deren ungewöhnliche Anspannung, ja eher Panik, heraus hörte. Nein, so ging das nicht weiter. Er wollte endlich Klarheit!!
Noch eine kleine Weile des Zögerns! Am nächsten Tag aber hatte er sich dazu durchgerungen, gezielte Nachforschungen aufzunehmen. An diesem Vormittag nutzte er die Abwesenheit seiner Frau, im Hause in sämtlichen Räumen nach irgendwelchen Indizien zu fahnden. Nach Hinweisen, die dazu beitragen könnten, das Rätsel um die mittlerweile schier unerträgliche Situation voller Misstrauen zu lösen. Die Überbleibsel eines intensiven Gefühls seiner Frau gegenüber ließen bei dieser Aktion sein Herz heftig klopfen. Doch seines desolaten Gemütszustandes wegen empfand er keinerlei Scham, gab es für ihn kein Zurück mehr.
Endlich vor ihrem Schreibtisch stehend, ein letztes nochmaliges Verhalten, bis er in verzweifelter Entschlossenheit den entscheidenden Griff denn doch tat und systematisch sämtliche größeren und kleineren Schubläden ihres Sekretärs durchwühlte. Alte Rechnungen, Isabells alte Briefe, einige Fotos ihrer kleinen Tochter aus deren Babyzeit, einen vollgekritzelten Kalender älteren Datums. Konzentriert las er sämtliche Notizen, ohne aber die Spur eines Verdachtes bestätigt zu sehen. Schon entschlossen, die Suche erleichtert aufzugeben, ließ er seinen Blick noch ein letztes Mal über die vor ihm liegenden Schriftstücke gleiten. Da plötzlich! Sein Auge verweilte auf einem Zipfel grünen Papieres, der unter dem Stapel alter Kassenbons hervorlugte. Der Farbe wegen beschlich ihn deutlicher Argwohn, den er sofort zu verdrängen suchte. Meine Güte, Frauen schrieben nun einmal gerne auf farbigem Briefpapier. Weshalb reagierte sein Inneres so alarmiert darauf? Mit seiner rechten Hand holte er den Umschlag hervor. Sofort sah er, dass der Brief einmal geöffnet gewesen und sorgsam wieder verklebt worden war. So, als ob jemand einen Sicherheitsriegel hätte vorschieben wollen. Ihm war klar, dass er dabei war, das Briefgeheimnis zu verletzen und damit die mühsam wieder hergestellte Harmonie zwischen seiner Frau und ihm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit endgültig zu zerstören. Doch dann noch Bedenken siegen zu lassen, brächte ihm nur vermehrte, zukünftige innere Qual. Dieses Schriftstück trüge vielleicht zu einer Klärung sämtlicher in der jüngsten Vergangenheit aufgetretenen Ereignisse bei. Legte endlich etwas offen, was unbedingt verborgen bleiben sollte!
Schwer atmend ritzte er mit dem Brieföffner den Umschlag auf. Zuerst weigerte er sich, auch nur einen Blick auf die Schrift zu werfen. Aber - jetzt noch Zurückhaltung zu üben, wäre unsinnig. Er faltete den Bogen auseinander. Sein Blick heftete sich auf die drohend schwarze Schrift. Ähnlich wie damals Sybill wurde er leichenblass; aus einem mehr als verständlichen, ihn fast lähmenden Entsetzen heraus. Hier hielt er den Beweis in der Hand, das Indiz dafür, dass Sybill etwas Schreckliches vor ihm verborgen hatte. Dem Text nach zu urteilen, gab es einen für die ganze Familie bedeutsamen dunklen Punkt in ihrer Vergangenheit. Grausam, erkennen zu müssen, dass die Harmonie zwischen ihnen in all den Jahren wahrscheinlich eine einzige Lüge gewesen war. Sofort nach Sybills Rückkehr würde er sie solange bedrängen, bis endlich die ganze Wahrheit ans Licht käme.
Allzu lange brauchte er nicht zu warten. Gegen Mittag öffnete sich die Haustüre. Herein trat die nichtsahnende junge Frau, hinter ihr Maren, nach einem langen Schultag froh, wenigstens den Nachmittag frei zu haben. Sybill las in der Mimik ihres Mannes und erschrak zu Tode. Da gab es keinen Zweifel. Marcus hatte den Brief gefunden. Es war soweit.
Ein rascher Blick auf seine Hände. Da lag ihr Schicksal -das grüne Papier! In ohnmächtiger Hilflosigkeit versuchte sie, die Entrüstete zu spielen; warf ihm die Verletzung des Briefgeheimnisses vor. Schäumend vor Wut schrie Marcus sie an, dass er eine sofortige Erklärung verlange. Was das alles zu bedeuten habe? Er sei nicht bereit, noch länger den Unfrieden zuhause in Kauf zu nehmen! Maren stand entsetzt neben ihrer Mutter und beobachtete deren Reaktion. Sybill schien kurz vor dem Zusammenbruch. Ausflüchte nützten nichts mehr. Jetzt musste sie beichten. Es war aus!!
Völlig überrumpelt, fast starr vor Angst setzte sie stockend mit flüsternder Stimme zu ihrem Geständnis an. Dieses Vergehen aus ihrer entfernten Vergangenheit beraube sie allem, das ihr lieb und teuer war.
Wie versteinert, einfach fassungslos standen dort die beiden Menschen, die sie am meisten von Allen liebte, ihr gegenüber. Wehrten sich mit der ganzen Kraft ihres Herzens gegen die Gewissheit der grausamen Wahrheit, mit der sie von nun an zu leben gezwungen wären. Das Bild der glücklichen Familie war nur ein trügerischer Schein gewesen, ein unverantwortliches Spiel mit Gefühlen.. Marcus sah sich von einer Sekunde zur nächsten einer Fremden gegenüber stehen, mit der ihn ab jenem Moment nichts, aber auch absolut mehr verband. Alle Zuneigung zu ihr löschten ihre Worte, die ihm so Ungeheuerliches verrieten, binnen einer Sekunde. Maren stand starr, keines Wortes mächtig, doch die aufkommenden Gefühle ihrer Mutter gegenüber formten sich zu Hass, zu absolutem Abscheu vor dieser Frau, die sie ehemals Mutter genannt und so sehr verehrt hatte. Nie wieder wäre sie bereit, auch nur einen Gedanken an sie zu verschwenden. Selbst deren Tod würde sie in keinster Weise mehr tangieren können. Da gab es auch keinen Neubeginn. Vorbei! Weinend und unfähig, diese ihr fremd gewordene Frau auch nur noch eines einzigen Blickes zu würdigen, lief sie in ihr Zimmer. Sie brauchte das Alleinsein, um erst einmal zu klarem Denken zurück zu finden. Ihre Mutter jedenfalls hätte ihre Tochter für immer verloren. Doch das innere Band zu dem Vater würde sich höchstens durch das gemeinsame Leid verstärken!
Derweil stand Marcus noch immer vor dieser fremden Person, die bis vor wenigen Augenblicken seine Ehefrau gewesen war. Voller Verachtung und Abscheu sah auch er sie nun an. Nicht willens, ihre Anwesenheit länger zu dulden. Mit der Aufforderung, sie hätte auf der Stelle das gemeinsame Haus für immer zu verlassen, schritt er aus dem Zimmer und ließ Sybill total gebrochenen Herzens zurück
Diese brach in schier endlose Tränen aus, die aber nicht erleichterten, sondern immer neue Gefühlsausbrüche schlimmster Art folgen ließen. Sie schrie sich die ganze Wut, Verzweiflung, Schmerz und allein selbstverschuldete Verlassenheit von der Seele. Aber irgendwann fehlen dann die Tränen, fehlt die Kraft, sich weiteren Gefühlsausbrüchen hinzugeben. Es folgten denn auch für sie absolut starre Minuten, in denen nur noch das Bewusstsein der absoluten Einsamkeit vorherrschte, ohne die geringsten Hoffnungsschimmer, daran auch nur die geringste Kleinigkeit ändern zu können. Das Erbrechen des Briefes war zum Tor für ihre Strafe geworden, einer Bestrafung, die bis zu ihrem Tode kein Ende fände. Doch sie hing zu sehr am Leben, als dass sie an die einzige Befreiung von dieser Strafe gedacht hätte; nämlich, ihr Dasein zu beenden. So würde sie den Rest ihres mit Schmutz behafteten Lebensweges alleine zurücklegen!
Doch ehe sie diesen Weg der Einsamkeit und der Buße beträte, hielte sie Rücksprache mit Isabell. Ihre innere Unruhe sagte ihr, dass es auch mit ihrer ehemals besten Freundin etwas dringend zu klären gäbe.
Angstvoll klammerte sie sich am Hörer fest, als sie deren Nummer wählte. Nach dem dritten Freiton meldete sich Isabell. Sehr zurückhaltend, wie Sybill sofort spürte. Die junge Frau sprach sie direkt auf alles an, besonders auf Isabells verändertes Verhalten ihr gegenüber. Es war wohl noch nicht genug des Bitteren, dass sie heute einzustecken hatte. Ihre Freundin erklärte ihr mit knappen Worten, dass es keinerlei Verbindung zwischen ihnen Beiden mehr geben sollte. Fred und sie hätten sich ineinander verliebt. Aus Verantwortungsgefühl ihrem künftigen Manne gegenüber hätte sie das Geheimnis gelüftet. Mit diesem schwerwiegenden Wissen der Existenz seiner Tochter hätte sie nicht als Lügnerin vor ihm stehen wollen. Nur mit einem völlig reinen Gewissen war sie bereit, eine Ehe einzugehen. Fred in seiner daraufhin grenzenlosen Wut zu bremsen, war ihr nicht möglich gewesen. Er hatte eine Tochter entbehrt, war deren ganzer Kind- und Jugendzeit beraubt worden. Nicht fähig, so etwas zu verzeihen, verlangte ihn nach Auflösung, nach der Rache eines kaltblütig betrogenen Vaters. Mit letzter Kraft brachte Sybill stockend noch die Frage heraus, wo sie sich denn kennen gelernt hätten. Obwohl das jetzt eigentlich alles, alles total egal war. Isabells eiskalte Erwiderung, dass sie das ja wohl nichts, aber auch gar nichts anginge, dröhnte nur so in Sybills Ohren - als eine einzige Verurteilung ihrer Person! Das Letzte, das Isabell ihr absolut bösartig entgegenschleuderte, besagte, dass Fred jetzt sein Ziel erreicht hätte. Zwar würde auch er, aber in viel erdrückenderem Maße sie, Sybill, bis ans Lebensende an dieser Bürde zu tragen haben. Und jetzt solle sie sich zum Teufel scheren!
Sybill stand dort, einer Salzsäule gleich, starrte den Hörer an, erwiderte nichts mehr. Ihr war klar, dass mit diesen harten Worten die letzten, aber auch allerletzten gefühlsmäßig engsten Bindungen zu geliebten Mitmenschen durchschnitten waren. Von dann an stand sie mutterseelenallein auf der weiten Welt. Allein mit sich, ihrer großen Schuld und der sie umgebenden Einsamkeit!!