In den Märchenbüchern steht geschrieben, daß im Gebiete von Kedscherwan ein Kaufmann, Namens Sadri, lebte. Nach Gottes Ratschluß verschlechterte sich seine Lage von Tag zu Tag, so daß er ganz arm wurde. Nach dem Sprichwort: „Sich regen bringt Segen“, beschloß er sich auf Reisen zu begeben. Er machte sich also auf den Weg und kam in einen Wald. Nun hatte ein Löwe sich diese Gegend unterworfen, und kein Fremder durfte sie betreten. Die Antilope und die Gazelle waren seine Vezire und leiten den Löwen auf den Pfad des Rechts. Durch Gottes Gnade waren die Antilope und die Gazelle gerade in der Nähe des Löwen.
Als der Kaufmann Sadri den Löwen sah, war er ganz verwirrt, fing an zu zittern und stand ratlos da. Wenn er zurückging, würde der Löwe ihn von hinten einholen und töten, wenn er geradeaus ging, würde er aus freien Stücken an den Ort des Verderbens eilen. Da er schließlich nicht wußte, was er tun sollte, schaute er verlegen vor sich hin.
Die Antilope und die Gazelle waren von gutmütigem Charakter und freundlichem Benehmen. Als sie den armen Sadri sahen, hatten sie Mitleid mit ihm und griffen zur List, denn sie wußten, daß der Löwe ihn nicht schonen, sondern töten würde. Um Sadri zu retten, gingen sie zum Löwen, lobten ihn ins Gesicht und sagten: „Möge Gott, der Höchste, dem Könige der Tiere langes Leben und Macht geben! Da sogar die Menschen gehört haben, daß alle Tiere unter [212]dem Schutz deiner Gerechtigkeit zufrieden und froh leben, so ist ein Mensch zu deiner Schwelle gekommen und hofft auf deine Güte. Aber vor deiner Majestät ist er verwirrt und wagt nicht, ohne Erlaubnis einzutreten. Wenn du die Erlaubnis gewährst, will er den Staub deiner Füße küssen.“
Der Löwe freute sich sehr über ihre Rede und gab die Erlaubnis. Auf Anweisung der Antilope und der Gazelle ging er zum Empfang bei dem Löwen, küßte verwirrt den Erdboden und erfüllte die Erfordernisse der Hofetikette.
Nun hatte der Löwe in einem Engpaß mehrere Karawanen vernichtet und ihr Geld und ihre Edelsteine geraubt. Er schüttete diese vor Sadri aus und sagte: „Nimm dir davon, soviel du willst!“ Dieser nahm von dem Gelde, soviel er konnte, und kehrte wieder in seine Heimat zurück. Er verkaufte davon so viel, um seine Schulden zu bezahlen, und vergrub den Rest in einem Winkel seines Hauses.
In seiner Habgier bereute er es, nicht alles Gold und alle Edelsteine, die der Löwe hatte, genommen zu haben, und ging wieder an die Stelle, wo sich der Löwe befand, ohne zu bedenken, wie trügerisch das Schicksal ist, und daß der Habgierige schließlich enttäuscht wird. Kurz, er befand sich an der bewußten Stelle dem Löwen gegenüber.
Aber an diesem Tage befanden sich bei dem Löwen von seinen Hofleuten der Wolf und der Schakal. Da diese von Natur böswillig waren, so leiteten sie den Löwen nie zum Guten. Um den Löwen aufzureizen, sagten sie: „König der Tiere, warum beschützt du nicht diese Gegend? Was ist das für eine Unachtsamkeit, daß die Menschen ohne Erlaubnis deine Residenz betreten und die Regeln, die deine Majestät vorgeschrieben, verachten? Die Menschen sind überhaupt ein unverschämtes Geschlecht, und ihre Schlechtigkeiten auf der Erde sind viel, so daß es zu deinen dringendsten Aufgaben gehört, sie in die Schranken zu weisen.“ So brachten sie den Löwen in äußerste Wut, so daß er Sadri angriff, um ihn zu zerreißen und zu zerstückeln.[213]
Als Sadri sah, daß die Antilope und die Gazelle nicht bei dem Löwen waren und der Wolf und der Schakal mit ihrer Tücke den Löwen gegen ihn aufgebracht hatten, da erkannte er, daß er in sein Verderben gerannt war. Er kletterte aus Furcht für sein Leben auf einen Baum und erreichte das Gestade der Sicherheit.
Der Löwe war sehr zornig und schlug den Baum mit seinem Schweife, um ihn auszureißen. Da erschien die Antilope und die Gazelle, und der Wolf und der Schakal zogen sich zurück, da ihre Gegenwart nicht mehr so erwünscht war. Die Gazelle und die Antilope sahen, daß der Mann aus Habgier wiedergekommen war und sich den Zorn des Löwen zugezogen hatte. Sie wußten ganz klar, daß der Löwe ihn in Stücke reißen würde.
Deswegen regte sich ihr Mitleid und sie bemühten sich, ihn zu befreien. Sie traten vor den Löwen, küßten ehrfurchtsvoll den Erdboden und sagten: „Mächtiger König und Kaiser, Gott dem Höchsten sei Dank, daß er seiner Diener Gebete erhört hat und daß uns durch ihn soviel Erfolg beschert wurde. Kann es eine größere Gnade Gottes geben als, daß auf der ganzen Erde Tiere und Menschen dich loben und preisen und für die Dauer deiner Herrschaft beten, aber auch die in der Luft fliegenden Vögel und die in den Höhen schwebenden Engel steigen auf die Zweige der Bäume als Kanzeln, um deine Güte und Gnade zu preisen, und loben mit beredten Worten deine Herrschaft.“