„Ich muß immer denken, das ist unrecht.“
„Aber Gretchen, ich begreife dich gar nicht, es ist doch nicht unrecht, wenn wir einer Armen Gutes tun, ohne daß es unsere Eltern wissen!“
„Doch, ich meine, es ist unrecht.“
„Warum denn aber?“
„Ich weiß nicht warum, so etwas spürt man bloß.“ Hermine wurde nachdenklich. Eine Weile waren die Freundinnen still nebeneinander hergegangen, da rief Gretchen: „O, ich weiß etwas. Wir fragen in der nächsten Stunde unsern Pfarrer, ob man heimlich Gutes tun darf!“
„Schriftlich, meinst du? Ohne Unterschrift?“
„Ja natürlich, dann kann er unmöglich etwas von dem Geheimnis erraten.“ Hermine war damit einverstanden; gleich am nächsten Tag sollte die Freundin zu ihr kommen, und dann wollten sie den Wortlaut des Zettels beraten, der an Pfarrer Kern geschickt werden sollte.
„Aber bis zu dem Tag, wo wir die Stunde haben und Antwort auf unsere Frage bekommen, bis dahin können wir Fräulein Geldern nicht hungern lassen.“ „Nein, so lang will auch ich ihr heimlich helfen,“ versprach Gretchen, „aber wie?“ Das Ende der Beratung, die nun folgte, war: daß die beiden Freundinnen am Nachmittag aus ihrer Sparkasse gemeinsam einen Einkauf machten und heimlich durch einen Dienstmann Fräulein Geldern Wurstwaren zuschickten. Und Herr Pfarrer Kern erhielt durch die Stadtpost einen Brief mit verstellter Schrift in lateinischen Buchstaben geschrieben, folgenden Inhalts: „Zwei Ihrer Schülerinnen bitten Sie um Antwort auf die Frage:
Ist es wohl immer unrecht, wenn man etwas heimlich tut, und soll man jemand lieber in Armut und Not lassen, als ihm helfen, wenn er sich bloß heimlich helfen lassen will?“
Gretchen war es ganz leicht ums Herz, als dieser Brief abgegangen war. Fröhlich spielte sie an diesem Abend mit den Kleinen, die nie vergnügter waren, als wenn Gretchen sich ihnen widmete. Viel Muße fand sich dazu nicht, denn jeden Tag hatte sie ein paar Stunden mit ihren Aufgaben zu tun, und die Eltern sorgten, daß die Schularbeiten nicht unter den kleinen Gästen zu leiden hatten; Herr Reinwald räumte ihr ein Plätzchen in seinem Zimmer ein, wo sie ungestört vom Kindergeplauder lernen konnte. Kam sie dann, nach getaner Arbeit, wieder ins Familienzimmer, so wurde sie jubelnd von den Kleinen empfangen.
Ruths Stunden hatten auch wieder begonnen. Gretchen hatte einmal die Beobachtung gemacht, daß ihre kleine Schülerin einige Bildchen, sorgfältig in Seidenpapier eingeschlagen, bei sich hatte. Auch Gretchen hatte früher Freude an solchen Bildern gehabt und besaß noch viele. Sie suchte sie hervor, wählte einige der schönsten und nahm sich vor, sie Ruth mitzubringen. „Ich bin begierig,“ sagte sie zu ihrer Mutter, „ob sich Ruth darüber freut. Ich an ihrer Stelle hätte gerade hinausgejubelt, wenn mir jemand so viele schöne Bilder auf einmal gebracht hätte!“ „Auf Jubel darfst du wohl bei dieser Kleinen nicht rechnen,“ sagte Frau Reinwald, „aber freuen wird sie sich trotzdem.“
Als Gretchen an diesem Tag von ihrer Stunde heimkam, fragte die Mutter: „Nun, haben die Bilder Eindruck gemacht?“ aber Gretchen schüttelte den Kopf. „Ein Wörtchen hat sie gesagt: danke. Ich glaube wenigstens, es sollte danke heißen, denn so laut hat sie doch nicht gesprochen, daß man sie deutlich hätte verstehen können!“