Gretchen erzählte den Eltern von der neuen Bekannten. „Sie scheint noch sehr jung zu sein nach deiner Beschreibung,“ sagte Frau Reinwald, „deshalb fühlt sie sich wohl zu euch mehr hingezogen, als zu den andern Lehrerinnen, die ihr natürlicher Umgang wären, aber freilich alle schon älter sind.“
Das Schulleben hatte für Gretchen und Hermine einen neuen Reiz gewonnen durch die tägliche Begegnung mit Fräulein Geldern. Sie waren glücklich, so oft sie mit ihr zusammentrafen, und beneideten die Kleinen, die täglich in der Klasse mit ihrer schönen Freundin beisammen waren. Eines Morgens nahm Hermine Gretchen beiseite und sagte geheimnisvoll zu ihr: „Ich habe etwas erfahren über ‚sie‘, was eigentlich niemand wissen darf; meine Schwester Mathilde hat es verraten. Denke dir, in der Arbeitsstunde hat sie den Kindern ganz rührend erzählt von einer Armen, die gar nichts zu essen habe, kein Stückchen Brot. Sie hat eine Tasche an den Kleiderrechen gehängt, in diese dürfen nun die Kinder alle Tage ‚opfern‘. Die meisten von ihnen legen die Hälfte von ihrem Brot oder was sie sonst haben, hinein. Sie dürfen es aber niemand erzählen, denn sie sagt: die rechte Hand dürfe nicht wissen, was die linke tut. Sie nimmt alle Tage die volle Tasche mit sich und bringt den Inhalt der Armen. Ist sie nicht eine gute Seele?“
„Ja,“ sagte Gretchen, „aber ich möchte doch wissen, ob es Fräulein von Zimmern recht wäre, wenn sie hörte, daß die Kinder das heimlich tun und zu Hause nichts davon sagen sollen.“
„Aber Gretchen, Gutes darf man doch heimlich tun, man soll ja doch gar nicht darüber reden!“
„Ja, das ist wahr. Ich kann’s nur nicht leiden, das Heimliche; ich weiß selbst nicht, warum. Aber natürlich ist’s recht, wenn sie es tut.“
An diesem Tag und am folgenden bekamen unsere Freundinnen die junge Lehrerin nicht zu sehen. Voll Verlangen gingen sie am dritten Tag in der Freistunde hinunter und suchten Herminens Schwester auf. „Wo ist Fräulein Geldern?“ fragten sie. „Ich weiß nicht gewiß,“ antwortete Mathilde, „ich denke aber, sie ist droben in der Kammer, wo die Handarbeiten aufgehoben werden, sie trägt sie in den letzten Tagen immer selbst hinauf.“
„Wir wollen sie droben suchen,“ sagte Gretchen und ging mit Hermine hinauf bis in die Kammer. Die Türe war zu. „Sollen wir anklopfen?“ fragte Hermine. Gretchen lachte. „An der Kammertüre klopft man doch nicht! Man hört ja auch nichts, wenn die Kinder alle so auf den Treppen herumpoltern.“ Sie öffnete die Türe.
Vorn, am Fenster, stand Fräulein Geldern und hatte vor sich auf dem Gesimse eine offene Tasche mit großen und kleinen Stücken Brot aller Art, und eines von diesen Stücken war eben auf dem Weg von der Hand in den Mund. Das Fräulein fuhr zusammen beim Anblick der Eintretenden, die sie nicht augenblicklich gehört hatte, das Brot fiel ihr aus der Hand und tiefe Röte ergoß sich über ihr ganzes Gesicht. Gretchen und Hermine waren starr vor Staunen und blieben in ratloser Verlegenheit stehen.
Gretchen faßte sich zuerst, leise sagte sie zu Hermine: „Komm, wir gehen!“ Aber das brachte Fräulein Geldern zu sich. Sie eilte auf die Mädchen zu: „Bitte,“ rief sie, „gehen Sie nicht fort, ich bin verloren, wenn Sie mich verraten! Ich wollte Ihnen ja längst alles sagen, aber ich hatte den Mut nicht. Jetzt, wo Sie mein Elend entdeckt haben, muß ich Ihnen alles anvertrauen. Machen Sie die Türe zu, daß uns niemand hört und versprechen Sie mir, daß Sie keiner Seele etwas sagen von meinem Unglück!“ Die beiden Mädchen versprachen es.