„Bist du dumm,“ fuhr Rudi sie an, „wein’ doch nicht; wenn die Frau nicht kommt, dann bleibt doch Gretchen bei uns!“ Da leuchtete es hell auf in dem kleinen Gesicht, aber Gretchen wollte nicht falsche Hoffnungen erwecken und entgegnete sehr bestimmt: „Nein, nein, ich muß heute nachmittag abreisen, denn bei uns ist morgen die Bescherung und das Christkind hat alle meine Sachen zu meinen Eltern gebracht.“
Jetzt wurde auch Rudis Gesicht betrübt. „Wer ist dann bei uns, wer richtet unsere Bescherung her?“ Kleinlaut antwortete Gretchen: „Papa tut es mit Rieke.“ Aber Rudi entgegnete: „Papa ist jetzt droben bei Mama und Rieke ist immer in der Küche; ich glaube, daß wir gar kein Weihnachten haben.“
„O, kein Weihnachten,“ wiederholte Betty und schluchzte. Wie sollte Gretchen sie trösten? Sollte sie denn bleiben? Wieder auspacken, während sie sich so unsäglich auf ihr Heimkommen heute abend gefreut hatte und auf das Weihnachtsfest bei den Eltern? Sie hörte nicht mehr auf der Kinder Geplauder, sie trat ans Fenster und sah sehnsüchtig hinaus ins Freie. „Was soll ich tun? Ich weiß nicht. Wenn doch die Mutter mir raten könnte! Sie hat gesagt, wir hätten immer eine Richtschnur und wüßten, was wir tun müßten. Gott lieben, und den Nächsten wie sich selbst. Ja, wenn ich die Kinder so lieb hätte wie mich selbst, dann wüßte ich schon, was ich täte, denn sie sind zwei und ich bin eins; ich müßte ihnen zuliebe bleiben. – Dann käme auch noch Rieke in Betracht, weil sie in den Feiertagen nicht Kindsmagd sein möchte. Auch onkel und Tante wären froh, wenn sie wüßten, daß ich bei den Kindern bleibe. Die alle miteinander sollte ich doch so lieb haben wie mich allein? Ich fürchte, ich muß hier bleiben! Das ist die Richtschnur, die du gemeint hast, Mutter; ja, ich weiß, ich muß bleiben, wenn niemand anders an meiner Stelle kommen kann!“
Gretchen ging noch einmal in die Küche. „Rieke,“ fragte sie, „ist Ihnen gar niemand eingefallen, der zu den Kindern kommen könnte, wenn ich gehe?“
„Vor Neujahr kommt niemand!“
„Dann denke ich, will ich bei meinen Eltern anfragen, ob ich bleiben darf bis Neujahr.“
„Ja, Fräulein Gretchen, das müssen Sie schon tun,“ sagte Rieke eifrig, „man kann die Kinder doch nicht immer allein lassen, und ich habe wirklich keine Zeit, Kindsmagd zu machen. Für Sie ist’s doch eins, bleiben Sie nur da!“
Gretchen dünkte es, als ob Rieke wohl das Opfer höher anschlagen dürfte, das sie brachte; aber es geschah ja nicht, um Lob und Dank zu ernten, sondern um Liebe zu erweisen.
„Wenn ich bleiben will, muß ich gleich telegraphieren und daheim anfragen, ob es den Eltern recht ist, denn sie erwarten mich ja heute abend.“
„Soll ich aufs Postamt und das Telegramm besorgen?“ fragte Rieke, die doch sonst um keinen Preis vom Kochen wegging, nun auf einmal sehr dienstfertig.
„Bleiben Sie nur in der Küche und sehen Sie manchmal nach den Kleinen, ich finde schon den Weg zur Post,“ antwortete Gretchen. Mit schwerem Herzen setzte sie auf einem Papier das Telegramm an ihre Eltern auf: „Soll ich hier bleiben? Oskar krank, Kinderfrau kann nicht kommen.“
Auf dem Weg zum Postamt dachte sich Gretchen aus, wie herrlich es wäre, wenn nun die Eltern zurücktelegraphieren würden: „Nein, komme sofort!“ und es schien ihr gar nicht so unwahrscheinlich, daß solch ein Bescheid kommen würde, denn ihre Eltern mußten ja wissen, wie sehnlich sie wünschte, Weihnachten daheim zu feiern. Mit Gretchens Nächstenliebe war es noch nicht ganz so bestellt, wie es sein sollte, sonst hätte sie eine andere Antwort von den Eltern gewünscht. Sie fühlte das selbst, und als sie auf die Post kam, änderte sie mit großer Selbstüberwindung den Wortlaut des Telegramms. Es hieß nun nicht mehr: „Soll ich,“ sondern: „Darf ich hier bleiben?“ und sie wußte, daß nun das „Ja“ viel wahrscheinlicher war.