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40 Ein Tag in Hälsingeland-Die Neujahrsnacht der Tiere

时间:2020-09-16来源:互联网 字体:[ | | ]  进入德语论坛
(单词翻译:双击或拖选) 标签: Ein Tag in Hälsingeland
Auf der Almhütte war die Arbeit zu Ende und das Abendbrot gegessen, aber die Leute saßen noch beieinander und plauderten. Es war lange her, seit sie zum letztenmal in einer schönen Sommernacht im Walde gewesen waren, und alle hatten das Gefühl, als hätten sie gar keine Zeit zum Schlafen. Es war noch taghell ringsum, und die Sennerinnen waren eifrig mit ihrer Handarbeit beschäftigt, bisweilen aber hoben sie den Kopf, schauten in den Wald hinein und lächelten leise vor sich hin.
 
„Ja, nun sind wir wieder hier oben,“ sagten sie; und damit versank das Dorf mit all seiner Unruhe aus ihrer Erinnerung, und der Wald umschloß sie mit seinem stillen Frieden. Wenn sie daheim auf ihren Höfen daran dachten, daß sie den ganzen Sommer hindurch allein da droben im Walde sein müßten, konnten sie sich kaum denken, wie sie das aushalten sollten; sobald sie aber in die Sennhütten heraufgekommen waren, kam es ihnen vor, als sei dies doch ihre allerbeste Zeit.
 
Vor ein paar Sennhütten, die nahe beieinander lagen, waren die jungen Mädchen und Burschen zusammengekommen, einander zu begrüßen; es war also eine ziemliche Anzahl Menschen, die sich da auf der Wiese vor den Hütten niedergelassen hatten, aber eine rechte Unterhaltung wollte trotzdem nicht in Gang kommen. Die Burschen mußten am nächsten Tage wieder hinunter ins Dorf, und die Sennerinnen trugen ihnen noch allerlei kleine Bestellungen und Grüße an die Ihrigen daheim auf.
 
Da sah die älteste der Sennerinnen von ihrer Arbeit auf und sagte ganz lustig: „Es ist gar nicht nötig, daß es heute abend so still bei uns zugeht, denn wir haben ja zwei Burschen unter uns, die sonst gern etwas erzählen. Der eine ist Klement Larsson, der hier neben mir sitzt, und der andere Bernhard von Sunnansee, der dort drüben steht und nach dem Blackåsen hinaufschaut. Kommt, wir wollen sie bitten, daß jeder von ihnen eine Geschichte zum besten gebe, und wer die schönste Geschichte erzählt, dem verspreche ich das Halstuch hier, an dem ich eben stricke.“
 
Dieser Vorschlag fand großen Beifall; die beiden, die miteinander wetteifern sollten, machten natürlich zuerst Einwendungen, gaben aber bald nach. Klement bat Bernhard, den Anfang zu machen, und dieser hatte nichts dagegen. Er kannte Klement Larsson nicht genau, aber er meinte, von diesem könnte man nur irgendeine alte Geschichte von Gespenstern und Trollen erwarten; und da er wußte, daß die Leute so etwas gerne hörten, hielt er es fürs klügste, gleich selbst etwas derartiges zu wählen.
 
„Vor mehreren hundert Jahren,“ begann er, „geschah es, daß ein Propst von Delsbo hier in der Nähe in einer Neujahrsnacht mitten durch den dichten Wald ritt. In seinen dicken Pelz gehüllt und die Pelzmütze auf dem Kopf, saß er auf seinem Pferd, und an dem Sattelknopf hing ein Felleisen, in dem er den Abendmahlskelch, das Kirchenbuch und den Kirchenrock verwahrt hatte. [359] Aus dem entfernten Filialdorf, weit drinnen im Walde, hatte man ihn zu einem Kranken gerufen; er hatte bis spät in der Nacht bei diesem gesessen und mit ihm gesprochen. Jetzt endlich war er auf dem Heimweg, aber er war überzeugt, daß er erst zu Hause ankommen werde, wenn Mitternacht längst vorüber sei.
 
Während er nun so durch den Wald dahinreiten mußte, zu einer Zeit, wo er sonst daheim in seinem Bette lag, war er froh, daß wenigstens kein schlimmes Wetter herrschte. Es war eine stille Nacht mit ruhiger Luft und überzogenem Himmel. Der Vollmond segelte groß und rund hinter den Wolken am Himmel und verbreitete eine gewisse Helle, obgleich er selbst nicht zu sehen war. Wenn das bißchen Mondlicht nicht geschienen hätte, wäre der Weg nur schwer von den Feldern zu unterscheiden gewesen; denn es war ja mitten im Winter, und alles hatte ein und dieselbe graubraune Farbe.
 
In dieser Nacht ritt der Propst ein Pferd, auf das er große Stücke hielt. Es war stark und ausdauernd und fast ebenso klug wie ein Mensch. Unter anderem konnte es von jedem Ort in dem ganzen Kirchspiel, es mochte sein, wo es wollte, den Weg nach Hause finden. Dies hatte der Propst schon mehrere Male erfahren, und er verließ sich so fest darauf, daß er nie mehr an den Weg dachte, wenn er dieses Pferd ritt. So kam er auch jetzt, mit lose herunterhängenden Zügeln und in seinen Gedanken weit weg, mitten in der grauen Nacht durch den wilden Wald dahergeritten.
 
Der Propst dachte an seine Predigt, die er am nächsten Tage halten mußte, und außerdem auch noch an vieles andere. Es dauerte eine gute Weile, bis er wieder auf den Weg achtete und sich fragte, wie weit er wohl jetzt gekommen sei. Als er dann schließlich aufschaute und sah, daß der Wald noch immer ebenso dicht war wie zu Anfang des Rittes, verwunderte er sich höchlich. Er war jetzt schon sehr lange geritten, eigentlich hätte er bereits an dem bebauten Teil des Kirchspiels angekommen sein müssen.
 
Es sah damals in Delsbo gerade so aus wie heute noch. Die Kirche und der Pfarrhof und alle großen Höfe lagen im Norden des Kirchspiels um Dellen her, während gen Süden nur Wälder und Berge waren. Als daher der Propst sah, daß er sich noch in der Wildnis befand, wußte er, daß dies der südliche Teil seines Kirchspiels war und er, um nach Hause zu kommen, also nach Norden hätte reiten müssen. Aber gerade dies schien er nicht zu tun. Am Himmel leuchteten zwar weder Mond noch Sterne, nach denen er sich hätte richten können, aber der Propst war einer von denen, die die Himmelsrichtung im Kopf haben, und er hatte das bestimmte Gefühl, daß er gen Süden, vielleicht auch gen Osten reite.
 
Er war schon im Begriff, das Pferd zu wenden, besann sich aber dann anders. Das Pferd hatte sich noch nie verirrt und würde es gewiß auch heute nicht tun. Viel eher könnte er, der Propst, sich täuschen. Er war in tiefe Gedanken versunken gewesen und hatte des Weges nicht geachtet. So ließ er denn das Pferd in der bisherigen Richtung weitergehen und versank aufs neue in seine Grübeleien.
 
[360]
 
Aber gleich darauf traf ihn ein großer Zweig so heftig, daß er fast vom Pferde gefallen wäre. Da wurde ihm klar: jetzt mußte er untersuchen, wohin er eigentlich gekommen war; es half alles nichts.
 
Er betrachtete den Weg; er ritt über weiches Moos hin, wo kein ausgetretener Pfad zu erblicken war. Das Pferd aber schritt ohne jegliches Zögern rasch dahin. Doch gerade wie vorhin war der Propst auch jetzt überzeugt, daß es in der verkehrten Richtung vorwärts gehe.
 
Diesmal besann er sich nicht lange, ob er eingreifen solle. Er ergriff die Zügel, zwang das Pferd, umzudrehen, und es gelang ihm auch, es auf den Pfad zurückzuführen. Aber kaum waren sie da angekommen, als das Pferd einen Umweg machte und aufs neue geradeswegs in den Wald hineinlief.
 
Der Propst war seiner Sache so sicher, wie man einer Sache überhaupt sicher sein kann. ‚Aber wenn das Pferd so gar eigensinnig ist,‘ dachte er, ‚dann will es gewiß einen bessern Weg aufsuchen.‘ Und so ließ er es weitergehen.
 
Das Pferd kam gut vorwärts, obgleich es keinen gebahnten Weg vor sich hatte. Wenn ihm ein Berggipfel im Wege stand, kletterte es gewandt wie eine Geiß hinauf, und wenn es dann wieder bergab ging, stemmte es die Füße zusammen und rutschte die steilen Felsplatten hinunter.
 
‚Wenn ich nur wenigstens so zeitig nach Hause komme, daß ich die Kirche noch erreichen kann,‘ dachte der Propst. ‚Was würden meine Delsboer sagen, wenn ich nicht zu rechter Zeit zum Gottesdienst da wäre?‘
 
Er hatte nicht lange Zeit, darüber nachzudenken, denn plötzlich erreichte er einen Ort, den er wiedererkannte. Es war ein kleines dunkles Wasser, wo er im letzten Sommer gefischt hatte. Da merkte der Propst, daß er mit seiner Befürchtung recht gehabt hatte. Er befand sich tief drinnen im Walde, und das Pferd drang immer weiter gegen Südosten vor. Es schien sich ordentlich vorgenommen zu haben, seinen Herrn so weit wie nur möglich von der Kirche und dem Pfarrhause wegzutragen.
 
Rasch sprang der Propst aus dem Sattel. Auf diese Weise konnte er sich von dem Pferd nicht in die Wildnis hineintragen lassen. Er mußte nach Hause, und da das Pferd eigensinnig in verkehrter Richtung gehen wollte, beschloß er, zu Fuß zu gehen und das Tier am Zügel zu führen, bis sie auf bekannten Wegen angekommen wären. Er wickelte sich also die Zügel um den Arm, und die Wanderung begann. In dem dicken Pelz durch den Wald zu wandern, war freilich keine leichte Sache; doch der Propst war ein starker, abgehärteter Mann, der vor nichts zurückschrak. Aber bald machte ihm das Pferd neue Sorgen. Anstatt ihm zu folgen, stemmte es die Hufe fest auf den Boden und sperrte sich.
 
Da wurde der Propst zornig. Er schlug dieses Pferd sonst nie und wollte das auch jetzt nicht tun. Statt dessen warf er ihm die Zügel über den Hals und ließ es stehen. ‚Wir müssen uns hier wohl trennen, da du durchaus deinen eigenen Weg gehen willst,‘ sagte er.
 
Er war kaum ein paar Schritte gegangen, als das Pferd hinter ihm [361] herkam, ihn vorsichtig am Rockärmel faßte und ihn zurückzuhalten versuchte. Der Propst wendete sich um und sah dem Tier in die Augen, wie um zu erforschen, warum es sich so sonderbar gebärdete.
 
Der Propst konnte eigentlich nicht recht begreifen, wie es möglich war, – aber soviel ist sicher: trotz der Dunkelheit sah er das Gesicht des Pferdes ganz deutlich, er konnte darin lesen wie in dem eines Menschen, und da begriff er plötzlich, daß sich das Pferd in einer fürchterlichen Angst und Unruhe befand; es warf seinem Herrn einen Blick zu, der flehend und vorwurfsvoll zugleich war. ‚Ich habe dir gedient und Tag um Tag nach deinem Willen getan,‘ schien es zu sagen. ‚Könntest du mir nun nicht in dieser einzigen Nacht nachgeben?‘
 
Der Propst wurde gerührt über diese Bitte, die er in den Augen des Tieres las. Es war klar, das Pferd brauchte in dieser Nacht seine Hilfe auf irgendeine Weise, und da er ein ganzer Mann war, beschloß er sofort, ihm zu folgen. Ohne weiteres Zögern führte er es an einen Stein, wo er sich in den Sattel schwingen konnte, und sagte: ‚Geh du weiter! Da du mich mithaben möchtest, will ich dich nicht verlassen. Niemand soll von dem Propst von Delsbo sagen können, daß er sich geweigert habe, jemand beizustehen, der in Not war.‘

Danach ließ er das Pferd gehen, wohin es wollte, und er richtete sein Augenmerk nur darauf, daß er sich im Sattel hielt. Es war ein gefährlicher und beschwerlicher Ritt, fast die ganze Zeit über ging es bergan durch dichten ungebahnten Wald, wo man keine zwei Schritte vor sich sehen konnte. Aber der Propst meinte doch zu erkennen, daß es einen hohen Berg hinaufging. Das Pferd arbeitete sich steile Felswände hinauf; wenn der Propst selbst das Tier geleitet hätte, wäre es ihm gewiß nie eingefallen, sein Pferd auf solchen Wegen gehen zu lassen.
 
‚Du wirst doch nicht daran denken, den Blackåsen hinaufzuklettern!‘ sagte er; und dabei lachte er ein wenig, denn der Blackåsen war, wie er wohl wußte, der höchste Berg in Hälsingeland.
 
Während er nun so dahinritt, merkte der Propst, daß er und das Pferd nicht allein draußen in der Nacht unterwegs waren. Er hörte Steine rollen und Zweige krachen; es hörte sich an, wie wenn große Tiere sich einen Weg durch den Wald bahnten; und da es in dieser Gegend viele Wölfe gab, fragte sich der Propst, ob ihn das Pferd am Ende einem Kampf mit wilden Tieren entgegentrage.
 
Bergan ging es, bergan! Und je höher sie kamen, desto lichter wurde der Wald.
 
Schließlich ritt der Propst über einen fast kahlen Bergrücken, wo er nach allen Seiten ausschauen konnte. Unermeßlich dehnte sich das Land vor seinen Blicken; mit düstern Wäldern bedeckt, reihten sich Hügel und Bergketten wellenförmig aneinander. Bei der herrschenden Dunkelheit wurde es dem Propst schwer, sich in der Gegend zurechtzufinden, aber nach kurzer Zeit wurde ihm doch ganz klar, wo er sich befand.
 
[362]
 
‚Ja, ich bin wahrhaftig auf den Blackåsen geritten,‘ dachte er. ‚Es kann kein andrer Berg sein. Dort im Westen sehe ich den Järvsee, und im Osten drüben glänzt bei Agön das Meer. Im Norden sehe ich auch etwas schimmern, das wird Dellen sein, und da in der Tiefe unter mir sehe ich den weißen Dunst des Nianwasserfalls. Ja, ja, dies ist der Blackåsen, es ist kein Zweifel. Das ist wahrhaftig ein Abenteuer!‘
 
Als er auf dem höchsten Gipfel angekommen war, hielt das Pferd hinter einem dichten Fichtenbaum an; es war, als wolle es sich da verborgen halten. Der Propst beugte sich vor und bog die Zweige auseinander; so erhielt er einen freien Ausblick.
 
Des Berges kahler Scheitel lag vor ihm; aber nicht einsam und verlassen, wie er erwartet hatte. Mitten auf dem offenen Platze lag ein großer Felsblock, und rings um diesen her waren viele wilde Tiere versammelt. Es kam dem Propst vor, als seien diese Tiere zur Abhaltung einer Art Thing hier zusammengekommen.
 
Dem großen Felsen zunächst sah der Propst die Bären; diese waren so schwerfällig und von so mächtigem Körperbau, daß sie aussahen wie pelzbekleidete Steinblöcke. Sie hatten sich niedergelegt und blinzelten ungeduldig mit ihren kleinen Augen. Man sah, sie waren aus ihrem Winterschlaf aufgestanden, um zum Thing zu gehen, und es wurde ihnen schwer, sich wach zu erhalten. Hinter den Bären saßen einige hundert Wölfe in dichten Reihen; diese waren nicht schläfrig, sondern jetzt mitten in der Winternacht heller wach als je im Sommer. Wie Hunde saßen sie auf den Hinterfüßen, peitschten den Boden mit den Schwänzen und schnauften gewaltig, während ihnen die Zunge zum Maule heraushing. Hinter den Wölfen schlichen mit steifen Beinen und klotzigen Gliedmaßen, wie große mißgestaltete Katzen, die Luchse umher. Sie schienen sich vor den andern Tieren zu scheuen und zischten, wenn ihnen eines nahe kam. Das nächste Glied hinter den Luchsen bildeten die Vielfraße, die ein Katzengesicht und einen Bärenpelz haben. Diesen gefiel es nicht auf dem Erdboden, sie trampelten ungeduldig mit ihren breiten Füßen und wollten wieder hinauf auf die Bäume. Hinter diesen auf dem ganzen Platze bis hinüber an den Waldrand tummelten sich die Füchse, die Wiesel, die Marder, lauter Tiere, die alle klein und besonders schön gebaut waren, aber ein noch viel wilderes und blutdürstigeres Aussehen hatten als die größern Raubtiere.
 
Der Propst sah alle diese Tiere sehr gut, denn der ganze Platz war erhellt. Auf dem hohen Felsblock in der Mitte stand nämlich der Waldgeist, in der Hand einen brennenden Kienspan, der mit einer hellen, klaren Flamme brannte. Der Geist war so groß wie der höchste Baum im Walde; er trug einen Mantel aus Tannenzweigen, und seine Haare waren Tannenzapfen. Ganz ruhig stand er da und sah spähend und lauschend in den Wald hinein.
 
Obgleich der Propst alles ganz deutlich sah, wunderte er sich doch so sehr, daß er sich förmlich dagegen wehrte und seinen eignen Augen nicht trauen wollte. ‚Es ist ja ganz und gar unmöglich,‘ dachte er. ‚Bei mir muß irgend [363] etwas nicht in Ordnung sein. Ich bin zu lang im Waldesdunkel umhergeritten; es ist eine Einbildung, die Gewalt über mich bekommen hat.‘
 
Aber trotzdem verfolgte er alles mit gespannter Aufmerksamkeit und fragte sich, was er wohl hier zu sehen bekäme und was geschehen würde.
 
Er brauchte nicht lange zu warten. Aus dem Walde herauf drang jetzt das Bimmeln einer kleinen Glocke. Und gleich nachher hörte er wieder das Geräusch von Schritten und brechenden Zweigen, als bräche eine Menge Tiere durch die Wildnis hindurch.
 
Eine große Schar Haustiere kam den Berg herauf. Sie tauchten in derselben Ordnung, wie wenn sie auf dem Wege nach dem Stalle wären, aus dem Walde auf; voran ging die Leitkuh mit der Glocke, dann kam der Stier, dann die andern Kühe und dahinter das Jungvieh und die Kälber. Ihnen folgten die Schafe in einer dichten Herde. Hierauf kamen die Ziegen und zuletzt einige Pferde und Füllen. Der Schäferhund lief neben der Herde her, die aber weder von einem Hirten noch von einer Hirtin begleitet war.
 
Dem Propst zerriß es fast das Herz, als er die Haustiere so geradeswegs auf die Raubtiere zugehen sah. Er hätte sich ihnen gerne in den Weg gestellt, sie mit lautem Rufen vor dem Weitergehen zu warnen, aber er fühlte wohl, daß es in keiner menschlichen Macht stand, in dieser Nacht die Schritte der Tiere aufzuhalten, und so verhielt er sich ganz still.
 
Man konnte leicht sehen, wie sehr es den Haustieren vor dem Wege graute, den sie machen mußten. Sie sahen elend und angstvoll aus; selbst die Leitkuh schritt mit hängendem Kopf und mutlosen Schritten vorwärts. Die Ziegen hatten zu nichts Lust, weder zum Hüpfen noch zum Bocken, die Pferde versuchten mutig auszusehen, aber es lief ihnen ein Schauder nach dem andern über den Rücken. Am jammervollsten sah der Schäferhund aus; er hatte den Schwanz eingezogen und kroch beinahe am Boden hin.
 
Die Leitkuh führte den ganzen Zug bis dicht vor den Waldgeist, der dort auf dem Felsblock stand. Sie ging rings um den Felsen herum und wendete sich dann wieder dem Walde zu, ohne daß die wilden Tiere sie angerührt hätten. Und auf diese Weise wanderte die ganze Herde unangetastet an den Raubtieren vorüber.
 
Während die Haustiere so an dem Waldgeist vorüberzogen, sah der Propst, daß er über einige von ihnen seine Kienfackel senkte und abwärts kehrte.
 
So oft dies geschah, brachen die Raubtiere in ein lautes, vergnügtes Gebrüll aus, besonders wenn die Fackel über einer Kuh oder sonst über einem größern Tier gesenkt wurde. Aber das Tier, auf das sich also die Fackel herabsenkte, stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, als würde ihm ein Messer ins Herz gestoßen, und die ganze Herde, zu der es gehörte, brach gleichfalls in lautes Klagen aus.
 
Jetzt begann der Propst zu verstehen, was er hier vor sich sah. Er hatte früher schon von einer Sage gehört, nach der sich die Haustiere von Delsbo in jeder Neujahrsnacht auf dem Blackåsen versammeln müßten, damit der [364] Waldgeist da die Tiere bezeichnen könnte, die im Lauf des nächsten Jahres den Raubtieren zum Opfer fallen sollten. Der Propst wurde von innigem Mitleid erfaßt für das arme Vieh, das also in die Gewalt der Raubtiere verfiel, obgleich es ja eigentlich keinen andern Herrn haben sollte als den Menschen.
 
Kaum war die erste Herde wieder abgezogen, als auch schon der Ton einer neuen Kuhglocke aus dem Walde ertönte und der Viehstand von einem andern Hofe den Berg heraufgezogen kam. Alles verlief in ganz derselben Weise wie das erstemal. Die Tiere gingen zu dem Waldgeist hin, der streng und ernst da droben stand und da ein Tier und dort ein Tier als dem Tode verfallen bezeichnete. Und nach dieser Herde kam ohne Unterbrechung eine Schar um die andre daher. Einige von den Herden waren so klein, daß sie nur aus einer einzigen Kuh und einigen Schafen bestanden; andre wieder bestanden nur aus ein paar Geißen. Man sah, diese kamen aus kleinen, ärmlichen Waldhütten; aber auch sie mußten vor den Waldgeist, und weder die einen noch die andern blieben verschont.
 
Der Propst dachte an die Bauern von Delsbo, die eine so große Liebe für ihre Haustiere hatten. ‚Wenn sie das nur wüßten, würden sie es nicht auf diese Weise geschehen lassen!‘ dachte er. ‚Sie würden eher ihr eignes Leben wagen, als ihren Viehstand zwischen Bären und Wölfen zum Waldgeist hinwandern und diesen das Urteil über sie fällen lassen.‘
 
Die letzte Schar, die herankam, war der Viehstand des Pfarrhofs. Der Pfarrer erkannte von weitem die Glocke der Leitkuh, und das mußte auch das Pferd getan haben. Es begann an allen Gliedern zu zittern, und sein Körper bedeckte sich mit Schweiß. ‚Jaso, nun ist die Reihe an dir, am Waldgeist vorüberzugehen und dein Urteil zu vernehmen,‘ sagte der Propst zu dem Pferd. ‚Aber fürchte dich nicht! Ich verstehe, warum du mich hierher geführt hast, und werde dich nicht verlassen.‘
 
Der prächtige Viehstand des Pfarrhofs tauchte in einem langen Zug aus dem Walde auf und ging auf die Raubtiere und den Waldgeist zu. Den Schluß des Zuges bildete das Pferd, das seinen Herrn auf den Blackåsen gebracht hatte. Der Propst war nicht abgestiegen, sondern saß ruhig im Sattel und ließ sich von dem Tier zum Waldgeist hintragen.
 
Der Propst hatte weder eine Flinte noch ein Messer zu seiner Verteidigung; aber er hatte das Kirchenbuch herausgenommen und drückte es fest an die Brust, als er sich jetzt in Kampf mit dem Unhold einließ.
 
Zuerst schien es, als habe niemand den Propst bemerkt. Genau wie die andern Herden wanderte auch die aus dem Pfarrhof an dem Waldgeist vorüber, und dieser senkte seine Kienfackel nicht ein einziges Mal. Erst als das kluge Pferd vorüberging, machte er eine Bewegung, um es für den Tod zu kennzeichnen.

Aber in demselben Augenblick streckte der Pfarrer dem Waldgeist das Kirchenbuch entgegen, und der Fackelschein fiel auf das Kreuz des Einbandes. [365] Da stieß der Waldgeist einen lauten, gellenden Schrei aus, die Fackel entfiel seiner Hand, und die Flamme erlosch in demselben Augenblick.
 
In dem plötzlichen Übergang von Licht und Dunkel konnte der Propst nichts sehen, und er hörte auch nichts mehr. Um ihn her herrschte dieselbe tiefe Stille, wie immer hier draußen in der Wildnis zur Winterzeit.
 
Da teilten sich plötzlich die dichten Wolken, die den Himmel verdeckten; in dem Spalt erschien der Vollmond, und sein Licht fiel auf die Erde. Jetzt sah der Propst, daß er und das Pferd ganz allein auf dem Gipfel des Blackåsen waren; nicht ein einziges von allen den wilden Tieren war noch vorhanden, und der Boden war von allen den Viehherden, die darüber hingewandert waren, nicht zertreten. Er selbst aber saß auf seinem Pferde, das Kirchenbuch in den ausgestreckten Händen. Das Pferd unter ihm aber zitterte und war in Schweiß gebadet.
 
Als der Propst den Berg hinuntergeritten war und seinen Hof erreicht hatte, wußte er nicht mehr, ob das, was er gesehen hatte, ein Traum oder Wirklichkeit gewesen war; aber daß es eine Mahnung an ihn sein sollte, auch der armen Haustiere zu gedenken, die in der Gewalt der wilden Tiere waren, das verstand er. Und er predigte den Bauern von Delsbo mit so gewaltigen Worten, daß zu seiner Zeit alle Bären und Wölfe im Walde ausgerottet wurden; allerdings scheinen sie, nachdem er gestorben war, leider wieder zurückgekehrt zu sein.“
 
Hier schloß Bernhard seine Erzählung. Er wurde von allen Seiten sehr gelobt, und es schien eine ausgemachte Sache, daß er den Preis bekommen würde. Den meisten tat Klement sogar ordentlich leid, weil er mit Bernhard wetteifern sollte.
 
Aber Klement begann seine Erzählung unerschrocken.
 
„Eines Tages ging ich auf Skansen, dem großen Lustgarten vor Stockholm umher und hatte Heimweh,“ begann er; und dann erzählte er von dem Wichtelmännchen, das er da freigekauft habe, damit es nicht in einen Käfig gesetzt und wie ein wildes Tier den Leuten gezeigt worden sei. Und er erzählte weiter, wie er, nachdem er kaum diese gute Tat getan hatte, auch dafür belohnt worden war. Er erzählte und erzählte, während die Verwunderung seiner Zuhörer beständig zunahm, und als er endlich an den königlichen Lakaien und an das prächtige Buch kam, hatten alle Sennerinnen ihre Handarbeiten in den Schoß sinken lassen; sie saßen unbeweglich da und sahen Klement an, der so wunderbare Erlebnisse gehabt hatte.
 
Sobald Klement geendigt hatte, sagte die älteste Sennerin, daß das Halstuch ihm gehöre. „Denn,“ sagte sie, „Bernhard hat uns das erzählt, was einem andern passiert ist, Klement aber hat selbst eine richtige Geschichte erlebt, und das halte ich für mehr.“
 
Darin stimmten alle mit ihr überein. Seit sie erfahren hatten, daß Klement mit dem König gesprochen hatte, sahen sie ihn mit ganz andern Augen an als vorher, und der kleine Spielmann fürchtete sich fast, zu zeigen, wie stolz er sich fühlte. Aber mitten in seinem großen Glück fragte ihn plötzlich jemand, was er denn mit dem Wichtelmännchen gemacht habe.
 
[366]
 
„Die blaue Schale konnte ich ihm leider nicht selbst hinstellen,“ sagte Klement, „aber ich habe den alten Lappen gebeten, es für mich zu tun. Was später aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.“
 
Kaum hatte Klement dies gesagt, als ein kleiner Tannenzapfen dahergesaust kam und ihm an die Nase flog. Der Tannenzapfen war nicht vom Baume heruntergefallen und auch nicht von einem Menschen geschleudert worden; niemand konnte begreifen, woher er gekommen war.
 
„Ei, ei, Klement,“ sagte die Sennerin, „es sieht fast aus, als könnte das Wichtelvolk hören, was wir sprechen! Ich glaube, Ihr hättet nicht einen andern mit dem Hinausstellen der blauen Schale beauftragen, sondern es selbst tun sollen.“
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