Daunenfein hatte zwei Schwestern: Flügelschön und Goldauge. Es waren kluge und starke Vögel; aber sie hatten kein so weiches, glänzendes Federgewand wie Daunenfein und auch keinen so freundlichen, liebenswürdigen Charakter. Schon zu der Zeit, wo sie noch kleine häßliche Gösselchen gewesen waren, hatten ihnen die Eltern und Verwandten, ja sogar auch der alte Fischer deutlich zu verstehen gegeben, daß sie Daunenfein lieber hätten, und deshalb hatten diese beiden ihre Schwester Daunenfein von jeher gehaßt.
Als die Wildgänse sich auf der Felseninsel niederließen, weideten Daunenfeins Schwestern, Flügelschön und Goldauge, eben auf einem grünen Fleck, und sie sahen die Wildgänse sogleich.
„Sieh nur, Schwester Goldauge, welche stattlichen Wildgänse sich da auf unsrer Insel niederlassen!“ sagte Flügelschön. „Ich habe noch nicht oft Vögel gesehen, die eine so prächtige Haltung gehabt hätten. Und sieh nur, sie haben einen weißen Gänserich bei sich! Hast du je einen so schönen Vogel gesehen? Man könnte ihn fast für einen Schwan halten.“
Goldauge stimmte der Schwester bei und meinte auch, da sei gewiß sehr vornehmer Besuch auf die Insel gekommen. Aber plötzlich unterbrach sie sich und rief: „Schwester Flügelschön! Schwester Flügelschön! Siehst du nicht, wer bei ihnen ist?“
In demselben Augenblick erkannte auch Flügelschön ihre Schwester Daunenfein, und sie war so überrascht, daß sie eine ganze Weile nur mit offenem Schnabel dastand und zischte.
„Es ist nicht möglich, es ist nicht möglich! Wie sollte sie zu solchen Leuten gekommen sein? Wir ließen sie ja auf Öland zurück, und dort hat sie verhungern müssen.“
„Nun wird sie uns natürlich bei Vater und Mutter verklagen und sagen, daß wir sie gestoßen hätten, bis sie sich den Flügel ausrenkte. Aber das ist noch nicht das schlimmste von allem, denn du wirst sehen, wir werden dafür von der Insel verjagt.“
„Ja, das wird eine nette Geschichte geben; denn wenn der verzärtelte Nestkegel wieder da ist, gibt es natürlich lauter Widerwärtigkeiten,“ sagte Flügelschön. „Aber ich würde es doch fürs klügste halten, wenn wir im [322] Anfang täten, als ob wir uns über ihre Rückkehr freuten. Sie ist nämlich sehr dumm, und vielleicht hat sie nicht einmal gemerkt, daß wir sie mit Absicht stießen.“
Während Flügelschön und Goldauge so miteinander redeten, hatten die Wildgänse drunten am Strand ihre von dem raschen Flug zerzausten Federn geglättet, und jetzt wanderten sie in einer langen Reihe auf den Felsenspalt zu, wo, wie Daunenfein wußte, die Eltern zu wohnen pflegten.
Daunenfeins Eltern waren ausgezeichnete Leute; sie wohnten schon länger auf der Insel als alle die andern Vögel. Sie halfen deshalb auch allen Neuankommenden und gaben ihnen guten Rat. Auch sie hatten die Wildgänse daherfliegen sehen, aber Daunenfein in der Schar nicht erkannt.
„Sieh nur, da lassen sich Wildgänse auf der Felseninsel nieder, das ist doch merkwürdig!“ sagte der Gänsevater. „Es ist eine prächtige Schar, das sieht man schon am Fluge, aber es wird schwierig sein, für so viele ordentliche Weideplätze zu finden.“
„Bis jetzt ist die Insel noch nicht überfüllt, und wir können schon noch Gäste aufnehmen,“ meinte die Gänsefrau, die freundlichen, gutherzigen Gemütes war, gerade wie Daunenfein.
Als Akka näher herankam, gingen Daunenfeins Eltern ihr entgegen, und sie wollten die Gäste eben auf der Insel willkommen heißen, als Daunenfein von ihrem Platze hinten im Zug aufflog und sich gerade vor ihren Eltern niederließ.
„Vater und Mutter, hier bin ich! Kennt ihr denn eure Daunenfein nicht mehr?“ rief sie.
Zuerst wollten die Alten ihren Augen nicht trauen; aber dann erkannten sie die Tochter und waren natürlich glückselig über das Wiedersehen.
Während nun die Wildgänse und der Gänserich Martin und auch Daunenfein eifrig durcheinanderschnatterten, weil alle erzählen wollten, wie Daunenfein gerettet worden war, kamen Flügelschön und Goldauge dahergelaufen. Schon aus der Ferne riefen sie: „Guten Tag! Guten Tag!“ und taten so erfreut über Daunenfeins Rückkehr, daß diese ganz gerührt wurde.
Den Wildgänsen gefiel es sehr gut auf der Felseninsel, und so beschlossen sie, nicht vor dem nächsten Morgen weiterzureisen. Nach einer Weile fragten die beiden Schwestern Daunenfein, ob sie mit ihnen kommen wolle, um zu sehen, wo sie ihre Nester zu bauen beabsichtigten. Daunenfein war sogleich bereit, und als sie die Plätze sah, lobte sie die Schwestern und sagte, sie hätten sich da sehr wohlgeschützte Brutstätten ausgewählt.
„Wo willst denn du dich niederlassen, Daunenfein?“ fragten die Schwestern.
„Ich?“ erwiderte Daunenfein. „Ich habe nicht die Absicht, auf der Insel zu bleiben, denn ich will mit den Wildgänsen nach Lappland reisen.“
„Wie schade! Du willst uns also wieder verlassen?“ sagten die Schwestern.
„Ich wäre recht gerne bei euch und bei unsern Eltern geblieben,“ erwiderte Daunenfein. „Aber ich bin schon mit dem großen weißen Gänserich verlobt.“
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„Hör ich recht?“ rief Flügelschön. „Du bekommst den schönen Gänserich? Das ist doch ....“ Aber in diesem Augenblick stieß Goldauge sie heftig an, und so sprach sie nicht weiter.
Die beiden bösen Schwestern steckten während des Vormittags wiederholt eifrig die Köpfe zusammen. Sie waren ganz außer sich vor Zorn, weil Daunenfein einen Freier wie den weißen Gänserich hatte. Sie selbst hatten zwar auch Freier; aber die ihrigen waren ganz gewöhnliche Graugänse, und seit sie den Gänserich Martin gesehen hatten, kamen ihnen ihre Freier häßlich und ärmlich vor, sie mochten sie gar nicht mehr ansehen.
„Man könnte sich wirklich zu Tode darüber grämen,“ sagte Goldauge. „Hättest wenigstens du ihn bekommen, Schwester Flügelschön!“ rief sie.
„Ich wollte, der Kerl wäre tot, dann müßte ich mir jetzt nicht den ganzen Sommer hindurch unaufhörlich vorsagen: Deine Schwester Daunenfein hat sich mit einem weißen Gänserich verlobt,“ sagte Flügelschön.
Trotzdem waren die Schwestern fortgesetzt sehr freundlich gegen Daunenfein; und nachmittags nahm Goldauge Daunenfein mit sich, damit sie Goldauges Freier sehen sollte. „Er ist zwar nicht so schön wie dein Bräutigam,“ sagte Goldauge. „Dafür kann man aber auch ganz sicher sein, daß er das wirklich ist, wofür er sich ausgibt.“
„Was willst du damit sagen, Goldauge?“ fragte Daunenfein.
Goldauge wollte zuerst nicht mit der Sprache heraus, aber schließlich kam es doch an den Tag: Goldauge und Flügelschön hatten sich darüber besonnen, ob die Sache mit dem Weißen auch auf ganz natürliche Weise zugegangen sei. „Noch niemals ist ein weißer Gänserich mit Wildgänsen umhergezogen,“ sagten die Schwestern, „und wir möchten wohl wissen, ob er nicht am Ende verzaubert ist.“
„Seid ihr verrückt?“ sagte Daunenfein gekränkt. „Er ist ja ein zahmer Gänserich.“
„Er hat aber einen bei sich, der verzaubert ist,“ sagte Goldauge, „und da könnte er gut selbst auch verzaubert sein. An deiner Stelle hätte ich Angst, er sei möglicherweise ein schwarzer Kormoran.“
Goldauge wußte ihre Worte sehr gut zu setzen und jagte der armen Daunenfein einen großen Schrecken ein.
„Was du da sagst, ist doch wohl nicht dein Ernst!“ rief die kleine Graugans. „Du willst mich nur erschrecken.“
„Ich will nur dein Bestes, Daunenfein,“ sagte Goldauge. „Denn ich könnte mir nichts Schrecklicheres denken, als wenn du mit einem Kormoran fortfliegen würdest. Aber ich will dir etwas sagen. Bring ihn dazu, von diesen Wurzeln hier, die ich für dich gesammelt habe, zu essen. Wenn er verzaubert ist, wird es sich sofort zeigen. Ist dies nicht der Fall, dann bleibt er so, wie er ist.“
Der Junge saß mitten unter den Graugänsen und hörte der Unterhaltung zwischen Akka und dem Gänsevater zu, als plötzlich Daunenfein dahergestürzt [324] kam. „Däumling! Däumling!“ schluchzte sie. „Der Gänserich Martin ist am Sterben. Ich habe ihn umgebracht!“
„Nimm mich auf den Rücken, Daunenfein, und trage mich rasch zu ihm hin!“ rief der Junge.
Die beiden flogen davon, und Akka eilte mit den andern Wildgänsen hinter ihnen her. Als sie bei dem Gänserich ankamen, lag dieser auf dem Boden ausgestreckt. Er konnte kein Wort herausbringen, sondern schnappte nur immer nach Luft.
„Kitzle ihn an der Gurgel und schlage ihn auf den Rücken!“ befahl Akka.
Der Junge tat es; da hustete der große Weiße einige lange Wurzeln heraus, die ihm im Halse stecken geblieben waren.
„Hast du hiervon gegessen?“ fragte Akka und deutete auf die am Boden liegenden Wurzeln.
„Ja,“ antwortete der Gänserich.
„Dann darfst du von Glück sagen, daß sie dir im Halse stecken geblieben sind,“ sagte Akka. „Die Wurzeln sind giftig, und wenn du sie geschluckt hättest, wärest du unrettbar verloren gewesen.“
„Daunenfein sagte, ich solle davon essen,“ sagte der Gänserich.
„Ich habe sie von meiner Schwester bekommen,“ rief Daunenfein und erzählte, wie alles zugegangen war.
„Nimm dich vor deinen Schwestern in acht, Daunenfein,“ sagte Akka. „Sie meinen es nicht gut mit dir.“
Aber Daunenfein hatte ein gar zu gutes Herz, sie konnte niemand etwas Böses zutrauen. Als nun Flügelschön nach einer Weile zu ihr kam und sagte, sie wolle ihr jetzt auch ihren Freier zeigen, ging sie sogleich mit.
„Er ist freilich nicht so schön wie der deinige,“ sagte die Schwester, „aber dafür ist er auch viel tapferer und kühner.“
„Woher weißt du das?“ fragte Daunenfein.
„Das will ich dir sagen. Unter den Möwen und Enten hier herrscht Jammer und Not, weil jeden Morgen bei Tagesanbruch ein großer Raubvogel dahergeflogen kommt und eine von ihnen mitnimmt.“
„Was ist es für ein Vogel?“ fragte Daunenfein.
„Wir wissen es nicht,“ antwortete die Schwester. „Es ist noch nie so einer hier auf der Insel gesehen worden. Merkwürdigerweise hat er noch nie eine Gans angefallen. Da hat sich nun mein Freier entschlossen, morgen mit ihm zu kämpfen und ihn zu verjagen.“
„Wenn die Sache nur gut abläuft!“ sagte Daunenfein.
„Ich fürchte, das wird nicht der Fall sein,“ versetzte die Schwester. „Ja, wenn mein Gänserich so groß und stark wäre wie der deinige, dann hätte ich auch Hoffnung auf Erfolg.“
„Soll ich den Gänserich Martin bitten, mit diesem fremden Raubvogel anzubinden?“ fragte Daunenfein.
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„Das wäre mir freilich das allerliebste,“ erwiderte Flügelschön. „Du könntest mir gar keinen größeren Gefallen tun.“
Am nächsten Morgen war der Gänserich Martin schon vor der Sonne auf; er stellte sich auf die höchste Klippe und spähte nach allen Seiten umher. Bald tauchte im Westen ein großer dunkler Vogel auf, der auf die Insel zuflog. Er hatte ungeheuer große Flügel, und der Gänserich sah gleich, daß es ein Adler war. Er hatte keinen gefährlicheren Gegner als eine Eule erwartet und erkannte jetzt wohl, daß es das Leben galt. Aber es fiel ihm nicht ein, dem Kampf mit einem Vogel, der so viel stärker war als er, auszuweichen.
Jetzt schoß der Adler aus der Höhe herab und schlug seine Klauen in eine Möwe; aber ehe er mit ihr auffliegen konnte, stürmte der Gänserich heran.
„Laß die Möwe los!“ schrie er. „Und laß dich nie wieder hier blicken, sonst bekommst du es mit mir zu tun!“
„Was bist denn du für ein Prahlhans?“ sagte der Adler. „Es ist ein Glück für dich, daß ich nie eine Gans angreife, sonst wäre es bald um dich geschehen.“
Der Gänserich Martin glaubte, der Adler sei zu hochmütig, mit ihm zu kämpfen. Er ging darum wutschnaubend auf ihn los, biß ihn in den Hals und schlug ihn mit den Flügeln. Das konnte sich der Adler natürlich nicht gefallen lassen, und nun kämpfte er mit dem Gänserich, aber nicht einmal mit voller Kraft.
Der Junge schlief noch bei Akka und den andern Wildgänsen. Da hörte er Daunenfein rufen: „Däumling! Däumling! Der Gänserich wird von einem Adler zerrissen!“
„Nimm mich auf den Rücken, Daunenfein, und trage mich zu ihm hin,“ sagte der Junge.
Als die beiden die Klippe erreicht hatten, blutete der Gänserich aus mehreren Wunden; er kämpfte aber trotzdem weiter. Der Junge konnte sich nicht mit einem Adler einlassen, und es blieb ihm also nichts andres übrig, als bessere Hilfe herbeizurufen. „Schnell, schnell, Daunenfein! Rufe Akka und die Wildgänse herbei!“ befahl er.
Doch in dem Augenblick, wo der Junge das sagte, hörte der Adler auf zu kämpfen. „Wer spricht hier von Akka?“ fragte er. Und als er den Däumling gewahr wurde und das Geschnatter der herbeieilenden Wildgänse hörte, breitete er rasch die Schwingen aus. „Sage Akka, ich hätte nicht erwartet, sie oder irgend jemand aus ihrem Gefolge hier draußen auf dem Meere anzutreffen!“ rief er; und damit flog er stolz und majestätisch davon.
„Das ist derselbe Adler, der mich einmal zu den Wildgänsen zurückgebracht hat,“ sagte der Junge und schaute ihm verwundert nach.
Die Wildgänse wollten in aller Frühe von der Insel wegfliegen, beschlossen aber, vorher doch noch ein wenig zu frühstücken. Während sie noch weideten, flog eine Felsenente zu Daunenfein hin. „Ich soll dich von deinen Schwestern grüßen,“ sagte sie. „Sie wagen es nicht mehr, sich unter den Wildgänsen sehen [326] zu lassen, aber ich soll sagen, du solltest doch ja die Insel nicht verlassen, ohne dem alten Fischer einen Besuch gemacht zu haben.“
„Das will ich auch tun!“ rief Daunenfein. Sie war jedoch sehr ängstlich geworden und wollte nicht allein hingehen. Deshalb bat sie den Gänserich und den Däumling, sie nach der Hütte zu begleiten.
Die Tür der Hütte stand offen. Daunenfein ging hinein, die beiden andern blieben draußen. Im nächsten Augenblick hörten sie Akka das Zeichen zum Aufbruch geben. Die Graugans trat auch gleich darauf aus der Hütte heraus und flog mit den Wildgänsen von der Insel fort.
Die Schar war schon eine ziemliche Strecke zwischen den Schären hingeflogen, als der Junge sich über die Graugans, die mit ihnen flog, sehr verwunderte. Daunenfein flog doch sonst so leicht und ruhig dahin, diese aber hier ruderte mit schweren rauschenden Flügelschlägen durch die Luft. „Akka, wende um! Akka, wende um!“ rief der Junge erregt. „Es ist ein fremder Vogel unter uns. Wir haben Flügelschön in unsrer Schar!“
Kaum hatte er dies gesagt, als die Graugans einen häßlichen zornigen Ruf ausstieß, und nun war niemand mehr im Zweifel, wer sie war. Akka und die andern wendeten sich gegen sie; die Graugans entfloh jedoch nicht sogleich, sondern stürzte sich auf den großen Weißen, packte den Däumling mit dem Schnabel und flog mit ihm davon.
Nun entspann sich eine wilde Jagd zwischen den Schären. Flügelschön flog sehr rasch, aber die Wildgänse waren dicht hinter ihr, und sie hatte nicht die geringste Hoffnung, ihnen zu entkommen.
Da stieg plötzlich ein leichter, weißer Rauch aus dem Meere auf, und zugleich ertönte der Knall eines Schusses. In ihrem Eifer hatten die Vögel nicht gemerkt, daß sie über einem Boot hinflogen, in dem ein einzelner Fischer saß.
Es wurde indes niemand getroffen; aber gerade über dem Boot öffnete Flügelschön den Schnabel und ließ den Däumling ins Meer fallen.