Mittwoch, 13. April
Beim ersten Morgengrauen waren die Wildgänse draußen, um sich etwas Nahrung zu verschaffen, ehe sie die Reise nach Ostgötland antraten. Der Holm in der Gåsbucht, wo sie geschlafen hatten, war klein und kalt, aber im Wasser ringsum wuchsen allerlei Gewächse, an denen sie sich sättigen konnten. Der Junge war schlimmer daran, er suchte vergeblich etwas Eßbares für sich.
Als er sich nun hungrig und in der Morgenkühle schnatternd nach allen Seiten umsah, fiel sein Blick auf ein paar Eichhörnchen, die auf einer mit Bäumen bestandenen Landzunge gerade vor der kleinen Felseninsel spielten. Da dachte er, die Eichhörnchen hätten vielleicht noch etwas von ihrem Wintervorrat übrig, und er bat den weißen Gänserich, ihn auf die Landzunge hinüberzubringen, er wolle die Eichhörnchen um ein paar Haselnüsse bitten.
Der große Weiße schwamm gleich mit ihm über die Meerenge; aber zum Unglück waren die Eichhörnchen von ihrem Spiel vollständig in Anspruch genommen, sie jagten einander von Baum zu Baum und nahmen sich keine Zeit, den Jungen anzuhören, sondern zogen sich im Gegenteil immer tiefer ins Gebüsch hinein. Der Junge lief ihnen eilig nach und war bald aus dem Gesichtskreis des Gänserichs verschwunden, der ruhig am Strande liegen geblieben war.
Der Junge watete durch einige Wiesen, wo die Anemonen so hoch standen, daß sie ihm beinahe bis zum Kinn reichten, da fühlte er sich plötzlich hinten angefaßt, und es wurde der Versuch gemacht, ihn aufzuheben. Rasch wendete er sich um; da sah er, daß ihn eine Krähe am Halskragen gepackt hatte. Er versuchte sich loszureißen; aber ehe ihm dies gelang, eilte noch eine Krähe herbei, biß sich in einem von seinen Strümpfen fest und riß ihn zu Boden.
Wenn der Junge sogleich um Hilfe geschrieen hätte, wäre es dem Gänserich wohl gelungen, ihn zu befreien, aber der Junge dachte wahrscheinlich, mit ein paar Krähen müsse er es allein aufnehmen können. Er schlug und stieß um sich; aber die Krähen ließen nicht los, und es gelang ihnen auch wirklich, ihre Beute mit sich in die Luft hinaufzunehmen. Sie gingen aber dabei so unvorsichtig zu Werke, daß der Kopf des Jungen gegen einen Baum stieß. Er bekam einen starken Schlag auf den Wirbel; es wurde ihm schwarz vor den Augen, und er verlor das Bewußtsein.
Als der Junge die Augen wieder aufschlug, befand er sich hoch über der Erde. Nur langsam kehrte ihm das Gedächtnis zurück, und im Anfang wußte er weder, wo er war, noch was er sah. Als er unter sich schaute, glaubte er, da unten sei ein ungeheuer großer wolliger Teppich ausgebreitet, der in den unregelmäßigsten Mustern von grün und blau gewebt war. Es war ein sehr dicker, prachtvoller Teppich, aber der Junge dachte: „Wie schade, daß er so verdorben ist!“ Denn der Teppich sah geradezu zerfetzt aus, lange Risse liefen mitten hindurch, und an einigen Stellen waren große Stücke weggerissen. Das merkwürdigste aber war, daß der Teppich über einen Spiegel ausgebreitet zu [129] sein schien, denn da, wo die Löcher und Risse waren, schimmerte helles, glänzendes Spiegelglas hervor.
Das nächste, was der Junge sah, war die aufgehende Sonne, die sich jetzt über dem Horizont zeigte, und siehe da, der Spiegel unter den Löchern und Rissen in dem Teppich begann plötzlich in rotem und goldnem Glanze zu schimmern. Das sah prachtvoll aus, und der Junge freute sich über das schöne Farbenspiel, obgleich er nicht recht begriff, was er eigentlich sah. Aber jetzt begannen die Krähen abwärts zu fliegen, und auf einmal entdeckte er, daß der große Teppich unter ihm die mit grünen Nadelholzwäldern und braunen, kahlen Laubwäldern bedeckte Erde war, die Löcher und Risse aber lauter glänzende Fjorde und kleine Seen waren.
Und nun fiel ihm ein, daß er, als er das erstemal auf dem Gänserücken durch die Luft geflogen war, geglaubt hatte, der Erdboden in Schonen sei ein gewürfeltes Tuch. Doch dieses Land hier, das wie ein zerrissener Teppich aussah, wie mochte es wohl heißen?
Eine Menge Fragen gingen ihm durch den Kopf. Warum saß er nicht auf dem Rücken des weißen Gänserichs? Warum flog ein großer Schwarm um ihn her? Und warum wurde er hierher und dorthin gezerrt und geschleudert, so daß er fast hinunterfiel?
Doch plötzlich wurde ihm alles klar. Er war von ein paar Krähen geraubt worden. Der weiße Gänserich lag noch am Strand und wartete auf ihn, und die Wildgänse wollten heute noch nach Ostgötland weiterreisen; ihn selbst aber brachte man fort. Südwestwärts ging es; das erkannte er daran, daß er die Sonnenscheibe hinter sich hatte. Ja, und der große Wälderteppich dort drunten mußte Småland sein.
„Wie wird es dem weißen Gänserich nun gehen, wenn ich nicht mehr für ihn sorgen kann?“ dachte der Junge. Er begann den Krähen zuzurufen, sie sollten ihn sogleich zu den Wildgänsen zurückbringen. Seiner selbst wegen war er jedoch nicht im geringsten beunruhigt, er glaubte, die Krähen hätten ihn aus reinem Mutwillen mitgenommen.
Die Krähen aber richteten sich ganz und gar nicht nach seinen Befehlen, sondern flogen so schnell als möglich weiter. Aber nach einer Weile schlug eine mit den Flügeln auf eine Art, die bei den Krähen bedeutet: „Seht euch vor! Gefahr!“ Sogleich tauchten alle in einen Fichtenwald unter und drangen zwischen riesigen Zweigen hindurch bis hinunter auf den Waldboden. Hier angekommen, setzten sie den Jungen unter einer dichten Fichte nieder, wo er so gut verborgen war, daß ihn nicht einmal der Blick eines Falken hätte entdecken können.
Die Schnäbel auf den Jungen gerichtet, stellten sich fünfzehn Krähen als Wache um ihn herum. „Nun, ihr Krähen, werde ich jetzt vielleicht erfahren, warum ihr mich geraubt habt?“ fragte der Junge.
Aber er hatte kaum ausgeredet, als ihn auch schon eine große Krähe anzischte: „Schweig! Oder ich hacke dir die Augen aus!“
Und mit diesem Ausspruch war es der Krähe sicherlich Ernst, darüber konnte kein Zweifel herrschen; dem Jungen blieb also nichts andres übrig, als zu [130] gehorchen. Schweigend saß er da und starrte die Krähen an, und die Krähen starrten ihn an.
Aber je länger er sie betrachtete, desto weniger gefielen sie ihm. Ihr Federkleid war schrecklich schmutzig und schlecht geputzt, ganz als ob die Krähen von einem Bad oder von Einölen gar nichts wüßten. An ihren Zehen und Klauen klebte vertrocknete Erde, und in den Schnabelwinkeln saßen Speisereste. Das war ein andrer Schlag Vögel als die Wildgänse, das sah der Junge wohl. Sie hatten ein grausames, habsüchtiges, gieriges und freches Aussehen, ganz wie richtige Räuber und Landstreicher.
„Da bin ich ja wohl unter ein echtes Räuberpack geraten,“ dachte der Junge.
In demselben Augenblick hörte er den Lockruf der Wildgänse über sich: „Wo bist du? Hier bin ich! Wo bist du? Hier bin ich!“
Er erriet, daß Akka und die andern auf der Suche nach ihm waren; aber ehe er antworten konnte, zischte die große Krähe, die der Anführer der Bande zu sein schien, ihm ins Ohr: „Denk an deine Augen!“ Und es blieb ihm nichts andres übrig, als zu schweigen.
Die Wildgänse hatten wohl keine Ahnung, daß der Junge ihnen so nahe war; sie waren gewiß nur zufällig über diesen Wald hingeflogen, denn der Junge hörte sie nur noch ein paarmal rufen, dann verstummten sie. „Ja, nun mußt du dir selbst helfen, Nils Holgersson!“ sagte er zu sich selbst. „Nun mußt du zeigen, ob du während der in der Wildnis verbrachten Wochen etwas gelernt hast.“
Nach einer Weile machten die Krähen Anstalt, aufzubrechen; sie hatten offenbar die Absicht, den Jungen noch weiter mitzunehmen, und zwar wieder so, daß ihn die eine am Hemdkragen, die andre am Strumpf festhielt. Doch da sagte der Junge: „Ist denn keine unter euch stark genug, mich auf ihrem Rücken zu tragen? Ihr habt mich schon so mißhandelt, daß ich wie gerädert bin. Laßt mich doch reiten, ich werde mich gewiß nicht hinabstürzen, das verspreche ich.“
„Glaube nur nicht, daß wir uns darum kümmern, wie es dir geht,“ sagte der Anführer.
Aber jetzt kam die größte von den Krähen herbei; sie hatte eine weiße Feder im Flügel und sagte: „Es wäre gewiß besser für uns alle, Wind-Eile, wenn wir Däumling ganz und nicht halb an Ort und Stelle brächten, deshalb will ich versuchen, ihn auf meinem Rücken zu tragen.“
„Wenn du es kannst, Fumle-Drumle, dann hab ich nichts dagegen,“ sagte Wind-Eile. „Aber verliere ihn ja nicht!“
Damit war schon viel gewonnen, und der Junge war wieder ganz vergnügt. „Den Mut brauche ich noch nicht zu verlieren, weil mich die Krähen geraubt haben,“ dachte er. „Mit diesen Gaunern werde ich schon fertig werden.“
Die Krähen flogen in südwestlicher Richtung immer weiter über Småland hin. Es war ein herrlicher, sonniger, warmer Morgen, die Vögel auf der Erde drunten gingen alle auf Freiersfüßen, sie sangen und zwitscherten ihre zärtlichsten Weisen. In einem hohen, dunklen Wald, hoch droben in dem Wipfel einer [131] Fichte, saß eine Drossel mit herabhängenden Flügeln und aufgeblähtem Hals und sang ein Mal ums andre: „Ach, wie schön bist du! Wie wunderbar schön bist du! Niemand ist so schön wie du!“ Und sobald sie mit diesem Liede zu Ende war, fing sie wieder von vorn an.
Aber gerade zu der Zeit flog der Junge über den Wald hin, und nachdem er das Lied ein paarmal mit angehört hatte und merkte, daß die Drossel sonst keines konnte, hielt er beide Hände wie eine Trompete vor den Mund und rief hinab: „Das haben wir schon früher gehört! Das haben wir schon früher gehört!“
„Wer macht sich über mein Lied lustig?“ fragte die Drossel und versuchte den Sprecher zu entdecken.
„Der von den Krähen Geraubte ist es!“ antwortete der Junge.
Da wendete der Krähenhäuptling den Kopf und sagte: „Hüte deine Augen, Däumling!“
Aber der Junge dachte: „Ach, was kümmere ich mich darum! Nun gerade will ich dir zeigen, daß ich mich nicht fürchte!“
Immer weiter ins Land hinein ging es, und überall gab es Wälder und Seen. Auf einem von Birken eingefriedigten Weideplatze saß die Waldtaube auf einem kahlen Zweige, und vor ihr stand der Täuberich. Er blies die Federn auf, verdrehte den Hals, wiegte den Körper auf und ab, so daß die Brustfedern den Zweig streiften, und dazwischen gurrte er: „Du, du, bist die schönste im Walde! Keine im Walde ist so schön wie du, du, du!“
Aber oben in den Lüften flog der Junge vorüber, und als er den Täuberich hörte, konnte er sich nicht still verhalten. „Glaub ihm nicht! Glaub ihm nicht!“ rief er hinab.
„Wer, wer, wer ist es, der mich verleumdet?“ gurrte der Täuberich und versuchte den zu entdecken, der ihm die Worte zugerufen hatte.
„Der von den Krähen Geraubte ist es!“ rief der Junge.
Wieder drehte Wind-Eile den Kopf nach dem Jungen und befahl ihm zu schweigen; aber Fumle-Drumle, der ihn trug, sagte: „Laß ihn doch schwatzen, dann denken die kleinen Vögel, wir Krähen seien gute, freundliche Vögel geworden.“
„O, die sind wohl auch nicht so dumm!“ entgegnete Wind-Eile; aber der Gedanke schmeichelte ihm doch, und von da an ließ er den Jungen rufen, so viel er wollte.
Weiter und weiter ging es, meistens über Wälder und Waldwiesen hin, aber natürlich kamen hin und wieder auch Kirchen und Dörfer und am Waldesrand kleine Häuser. Einmal sahen sie einen alten schönen Herrensitz mit rotangestrichenen Mauern und einem steilen Dach mit mehreren Absätzen. Dahinter lag der Wald, davor ein See, der Vorplatz war von mächtigen Ahornbäumen eingefaßt, und im Garten standen große, vielästige Stachelbeerbüsche. Ganz oben auf der Wetterfahne saß ein Star und zwitscherte so laut, daß jeder Ton bis zu dem Starenweibchen hinunterdrang, das in einem Starenkasten am Birnbaum auf seinen Eiern saß. „Wir haben vier kleine Eier!“ sang der Star. „Wir haben vier schöne, runde Eier! Wir haben das ganze Nest voll prächtiger Eier!“
Der Star sang sein Lied zum tausendsten Mal, als der Junge über den [132] Hof hinflog. Da legte er die Hände wie ein Rohr vor den Mund und rief: „Die Dohle wird sie holen! Die Dohle wird sie holen!“
„Wer ist es, der mich erschrecken will?“ fragte der Star und schlug unruhig mit den Flügeln.
„Der Krähenreiter ists, der Krähenreiter!“ rief der Junge. Diesmal gebot der Krähenhäuptling dem Jungen nicht Schweigen. Er und die ganze Schar waren im Gegenteil so lustig, daß sie vor Befriedigung krächzten.
Je weiter sie ins Land hineinkamen, desto größer wurden die Seen, und desto mehr Inseln und Landzungen hatten sie. Am Ufer eines Sees stand der Enterich und machte tiefe Bücklinge vor der Ente. „Ich will dir treu bleiben mein Leben lang! Ich will dir treu bleiben mein Leben lang!“ erklärte er feierlich.
„Es dauert keinen Sommer lang!“ schrie der Junge, der eben vorüberflog.
„Was bist du denn für einer?“ rief ihm der Enterich nach.
„Ich heiße Krähenraub!“ schrie der Junge.
Um die Mittagszeit ließen sich die Krähen auf einer Waldwiese nieder. Sie flogen umher und suchten sich Speise, aber keiner von ihnen fiel es ein, auch dem Jungen etwas zu geben. Plötzlich flog Fumle-Drumle mit einem wilden Rosenzweig, an dem einige rote Hagebutten saßen, im Schnabel zu dem Häuptling hin. „Sieh, was ich dir bringe, Wind-Eile,“ sagte er. „Dies ist etwas Gutes, das für dich paßt.“
Aber Wind-Eile krächzte verächtlich. „Meinst du, ich wolle alte, vertrocknete Hagebutten fressen?“
„Und ich hatte gedacht, du würdest dich darüber freuen,“ sagte Fumle-Drumle und warf den Zweig in hellem Mißmut weg. Der Zweig aber fiel gerade vor dem Jungen nieder, und dieser war nicht faul, ihn aufzuheben und seinen Hunger mit den Beeren zu stillen.
Als die Krähen satt waren, begannen sie miteinander zu plaudern. „Woran denkst du, Wind-Eile? Du bist heute so still?“ sagte eine zu dem Anführer.
„Ich denke daran, daß in dieser Gegend einmal eine Henne lebte, die ihre Herrin sehr lieb hatte; und um ihr eine rechte Freude zu machen, legte sie ein besonders großes Ei, das sie unter dem Scheunenboden verbarg. So lange sie das Ei ausbrütete, freute sie sich immerfort, wie beglückt die Frau über das Küchlein sein werde. Die Frau wunderte sich natürlich, wo die Henne so lange blieb. Sie suchte überall nach, fand sie aber nicht. Langschnabel, kannst du erraten, wer sie fand?“
„Ich glaube, ich kann es erraten, Wind-Eile, und nachdem du dies erzählt hast, will ich etwas Ähnliches zum besten geben. Entsinnt ihr euch der großen schwarzen Katze im Hinneryder Pfarrhaus? Sie war mit ihrer Herrschaft unzufrieden, weil diese ihr immer die neugeborenen Jungen wegnahm und ertränkte. Nur ein einziges Mal gelang es der Katze, die kleinen Neugeborenen zu verstecken, denn da legte sie sie in eine Strohmiete auf dem Acker. Sie war überglücklich mit ihren Jungen, aber ich glaube, ich hatte noch mehr Freude an ihnen als sie.“
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Jetzt wurden die andern Krähen so eifrig, daß sie einander ins Wort fielen. „Ist das eine Kunst, Eier und neugeborene Junge zu stehlen?“ rief eine. „Ich hab einmal einen jungen, beinahe ausgewachsenen Hasen erjagt. Da galt es, ihn von Dickicht zu Dickicht zu verfolgen – –“
Weiter kam sie nicht, denn schon fiel ihr eine andre ins Wort. „Es mag ja ganz lustig sein, Hühner und Katzen zu ärgern, aber viel interessanter finde ich es, wenn eine Krähe einem Menschen Verdruß bereiten kann. Ich hab einmal einen silbernen Löffel gestohlen – –“
Aber länger konnte der Junge diese Unterhaltung nicht mit anhören. „Nein, hört nun, ihr Krähen, ihr solltet euch schämen,“ sagte er, „so viele Schlechtigkeiten preiszugeben. Jetzt habe ich drei Wochen bei den Wildgänsen zugebracht, aber von ihnen habe ich nur Gutes gehört. Ihr müßt einen schlechten Häuptling haben, wenn er euch erlaubt, auf solche Weise zu rauben und zu morden. Ihr solltet ein neues Leben anfangen, denn ich sage euch, die Menschen sind eurer Bosheit so überdrüssig geworden, daß sie euch auszurotten versuchen, koste es, was es wolle. Und dann wird es bald aus mit euch sein.“
Als Wind-Eile und die Krähen dies hörten, wurden sie so erbost, daß sie sich auf den Jungen stürzten, um ihn zu zerhacken und zu zerreißen. Aber Fumle-Drumle lachte und krächzte und stellte sich vor ihn hin. „Nein, nein, nein!“ wehrte er ab und schien ganz entsetzt zu sein. „Was meint ihr wohl, was Wind-Kåra sagen wird, wenn ihr den Däumling umbringt, ehe er uns die Silbermünzen verschafft hat?“
„Ja du, du hast wohl Angst vor dem Weibervolk!“ rief Wind-Eile. Aber jedenfalls ließen er und die andern Krähen Däumling jetzt in Frieden.
Bald darauf zogen die Krähen weiter. Bis dahin hatte der Junge fortwährend gedacht, Småland sei doch kein so armes Land, wie ihm gesagt worden war. Es war ja wohl dicht bewaldet und voller Bergrücken, aber an den Flüssen und Seen lagen bebaute Felder, und eine wirkliche Wildnis hatte er bis jetzt noch nicht angetroffen. Aber je tiefer er ins Land hineinkam, desto weiter voneinander entfernt waren die Dörfer und Gehöfte, und schließlich war es doch, als fliege er über eine wahre Wildnis hin, denn er sah nichts als Moore, Heideland und Felsenhügel.
Die Sonne war im Untergehen, aber es war doch noch taghell, als die Krähen die mit Heidekraut bewachsene Ebene erreichten. Wind-Eile schickte eine Krähe voraus mit der Nachricht, daß ihr Suchen mit Erfolg gekrönt worden sei; und als dies bekannt wurde, flogen mehrere hundert Krähen, Wind-Kåra an der Spitze, vom Krähenhügel fort und den Ankommenden entgegen. Mitten unter dem ohrenzerreißenden Krächzen, das die Krähen bei der gegenseitigen Begrüßung ausstießen, sagte Fumle-Drumle zu dem Jungen: „Du bist auf der ganzen Reise so lustig und vergnügt gewesen, daß ich dich liebgewonnen habe. Deshalb will ich dir jetzt einen guten Rat geben. Sobald wir uns niederlassen, trägt man dir eine Arbeit auf, die dir sehr leicht vorkommen wird. Aber hüte dich wohl, sie auszuführen.“
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Gleich darauf setzte Fumle-Drumle den Jungen in einer Sandgrube nieder. Der Junge ließ sich auf den Boden fallen und blieb wie zum Tode ermattet liegen. Flügelschlagend, daß es wie ein Sturm brauste, flatterten unzählige Krähen um ihn her; aber der Junge machte die Augen nicht auf.
„Steh auf, Däumling!“ befahl Wind-Eile. „Du mußt etwas für uns tun, was für dich eine Kleinigkeit ist.“
Aber der Junge rührte sich nicht, sondern stellte sich schlafend. Doch ohne ein weitres Wort zu verlieren, packte ihn Wind-Eile am Arm und schleppte ihn über den Sand zu einem altertümlich geformten tönernen Topf hin, der mitten in der Grube stand. „Steh auf, Däumling,“ befahl er, „und öffne uns den Topf!“
„Warum läßt du mich denn nicht schlafen?“ sagte der Junge. „Heute abend bin ich zu müde dazu. Wartet bis morgen!“
„Öffne den Topf!“ befahl Wind-Eile und schüttelte den Jungen.
Jetzt setzte sich der Junge auf und betrachtete den Topf sehr genau. „Wie sollte ich armes Kind einen solchen Topf öffnen können? Er ist ja ebenso groß wie ich selbst!“
„Öffne ihn!“ befahl Wind-Eile noch einmal. „Sonst geht es dir schlecht!“
Der Junge stand auf, wankte zu dem Topf hin, befühlte den Deckel und ließ die Arme sinken. „Ich bin doch sonst nicht so schwach,“ sagte er. „Laßt mich doch nur bis morgen schlafen, dann werde ich den Deckel gewiß aufbringen.“
Doch Wind-Eile war ungeduldig; er sprang vor und pickte den Jungen ins Bein. Aber eine solche Behandlung wollte dieser sich nicht gefallen lassen; rasch riß er sich los, sprang ein paar Schritte zurück, zog sein Messer aus der Scheide und hielt es ausgestreckt vor sich hin.
„Nimm dich in acht, du!“ rief er Wind-Eile zu.
Der aber war zu erbittert, um der Gefahr auszuweichen. Ganz blind vor Wut stürzte er auf den Jungen zu und direkt in das Messer hinein, das ihm durch das eine Auge ins Gehirn hineindrang. Der Junge zog zwar das Messer hastig zurück, aber Wind-Eile schlug nur noch ein paarmal mit den Flügeln, dann sank er tot zu Boden.
„Wind-Eile ist tot! Der Fremde hat unsern Häuptling Wind-Eile umgebracht!“ schrien die Krähen, die zunächst standen. Und dann erhob sich ein entsetzlicher Lärm; die einen jammerten, die andern schrien nach Rache. Alle miteinander, Fumle-Drumle an der Spitze, stürzten oder flatterten auf den Jungen zu. Aber wie gewöhnlich benahm sich Fumle-Drumle ganz verkehrt. Er flatterte nur mit ausgebreiteten Flügeln über dem Jungen und verhinderte dadurch die andern, an ihn heranzukommen und auf ihn loszuhacken.
Jetzt sah der Junge, daß er sich da in eine schlimme Lage gebracht hatte. Er konnte den Krähen nicht entfliehen, und nirgends war ein Ort, wo er sich hätte verstecken können? Aber dann fiel ihm der tönerne Topf ein. Mit einem kräftigen Ruck riß er den Deckel herunter und sprang hinein, um sich darin zu [135] verstecken. Aber der Topf war ein schlechter Schlupfwinkel, denn er war fast bis zum Rande mit kleinen dünnen Silbermünzen gefüllt, und der Junge konnte nicht tief genug hineinkommen. Da beugte er sich vor und begann die Münzen herauszuwerfen.
Bis jetzt waren die Krähen in einem dichten Schwarm um ihn hergeflattert und hatten versucht, nach ihm zu hacken; als er aber die Münzen herauswarf, vergaßen sie auf einmal ihre Rachgier und pickten die Geldstücke eiligst auf. Mit vollen Händen warf der Junge Münzen heraus, und alle Krähen, ja selbst Wind-Kåra, versuchten sie aufzufangen. Und jede, der es gelang, eine Münze zu erhaschen, stürzte in größter Hast auf und davon nach ihrem Nest, die Beute dort zu verstecken.