Einmal fuhren wir von Moskau nach dem Kaukasus. Wir saßen zu dritt im Abteil, ich beim Fenster, mein Freund Petrow in der Mitte, neben ihm ein Herr mit blitzenden dunklen Augen. Der Unbekannte trug einen Gehrock, sein Hals war mit einem bunten Tuch umhüllt, er sah wie ein Gelehrter aus.
Kaum hatte sich der Zug in Bewegung gesetzt, als ich aus meiner Tasche eine Zeitung nahm und sie zu lesen begann.
»Wie wenig wir doch an unsere Gesundheit denken«, bemerkte plötzlich der Unbekannte und wandte sich zu mir.
»Wieso denn?« fragte ich neugierig.
»Jetzt zum Beispiel: Sie lesen. Wissen Sie denn nicht, daß das Lesen im Zug, wenn man in der Fahrtrichtung sitzt, eine eminente Gefahr für die Augen bedeutet?«
»Was für eine Gefahr?«
»Sie wissen es wirklich nicht? Sonderbar! Ein deutscher Professor hat entdeckt – Lesen im Zug ist Gift für die Augen.«
Er schwieg. Ich blätterte nervös in meiner Zeitung, dann legte ich sie zur Seite.
»Darf ich sie ansehen?« fragte der Unbekannte.
»Gern. Aber werden Sie sich nicht auch die Augen verderben?«
»Ach, ich bin in dieser Beziehung anders . . . Ein Selbstmörder . . . Es gibt solche Menschen! Einmal gab man mir Kokain, und ich schluckte es löffelweise. In Petersburg rauchte ich die Zigaretten eines Cholerakranken – mir geschieht nichts.«
Mein Freund schlug die Hände zusammen.
»Mein Gott, da wird einem ja ganz kalt!«
»Das glaub' ich! Ja, Gefahren lauern überall . . . Oft weiß man es gar nicht. Sie zum Beispiel sitzen beim Fenster. Es ist undicht verschlossen, durch die Ritzen kommt ein Zugwind, er dringt in die Poren Ihrer Lunge ein, zerstört die Lungenbläschen, sie platzen, es bilden sich Blutstauungen, und das Ergebnis ist Tuberkulose.«
»Was soll man machen«, erwiderte ich hilflos. »Irgend jemand muß doch beim Fenster sitzen.«
»Wenn Sie wollen, wechseln wir die Plätze«, bemerkte rasch der Unbekannte.
»Und Ihre Lunge?«
»Ach was! Ich bin gegen Verkühlungen gefeit. Wozu noch lange drüber reden! Wechseln wir die Plätze.«
Ich gehorchte ihm stumm.
*
Es ist langweilig im Zug, wenn man nicht lesen kann. Mein Freund und ich saßen schweigend da, hier und da warfen wir einander einen Satz zu:
»Wann werden wir in Tiflis sein?«
Der Unbekannte hatte indes die Zeitung beendet, gähnte und sagte leise:
»Jetzt wär' es gut, ein Nickerchen zu machen.«
Dann blickte er Petrow an und bemerkte:
»Das ist die gefährlichste Strecke.«
»Warum?«
»Weil hier täglich Eisenbahnkatastrophen vorkommen.«
»Was Sie sagen! Weshalb liest man das nicht in den Zeitungen?«
»Die Direktion verheimlicht es. Die Bahn könnte leiden, wenn weniger Leute reisen . . . Und dabei so viele Opfer . . .«
»Sehr unangenehm«, sagte seufzend mein Freund.
»Vor allem ist es peinlich, daß die Waggons wahre Mäusefallen sind. Die Wagen sind sehr schmal gebaut. Wenn wir so sitzen, die Füße an die Wand gelehnt, und ein Zusammenstoß passiert, sind wir verloren . . .«
»Warum?«
»Unsere Füße berühren die Wände des Abteils. Und nun stellen Sie sich vor, ein anderer Zug fährt in unseren hinein. Sofort wird die Wand des Nebenwaggons an unseren Wagen gedrückt und damit unser ganzer Körper zerquetscht.«
»Wenn man aber im Korridor steht, gibt es keine Gefahr . . .«
»Nein, keinesfalls. Die Seitenwände sind ungefährlich. Bloß die vordere und rückwärtige Wand kommen in Frage. Ich kannte einen Elektrotechniker, der sich als einziger bei einer solchen Katastrophe rettete, weil er im Korridor stand.«
Wir sprachen kein Wort, blickten uns an und verstanden uns sofort.
Wenige Augenblicke später stand ich auf.
»Mein Fuß ist eingeschlafen. Ich werde ein wenig auf und ab gehen.«
»Ich begleite dich!« rief Petrow. »Ich will ohnedies eine Zigarette rauchen.«
Wir verließen das Abteil und gingen auf den Gang.
*
Als wir draußen standen, rauchten wir unsere Zigaretten an. Petrow sagte lachend zu mir:
»Das haben wir gut gemacht.«
»Ja, wenn wir sogleich das Abteil verlassen hätten, würde er uns für Feiglinge gehalten haben.«
»Ganz gewiß.«
»Der Mann hat starke Nerven. Zu denken, daß es jeden Augenblick zu einem Zusammenstoß kommen kann, und dabei so ruhig zu sprechen! Sieh nach, was er macht!«
Petrow ging zur Tür und kam bald zurück.
»Er liegt auf der Bank, hat die Augen geschlossen und schläft.«
»Komm in die Mitte des Korridors!«
Je weiter wir fuhren, um so wärmer wurde es. Man merkte, daß wir uns dem Süden näherten.
»Sollen wir nicht ein Fenster öffnen? Draußen scheint die Sonne.«
Wir versuchten es, aber fast alle waren verkittet. Endlich brachten wir ein Fenster auf. Laue Luft strömte herein.
»Welche Luft! Ja, der Kaukasus!«
Wir standen beinahe zwei Stunden beim offenen Fenster und waren über die reizende Landschaft begeistert. Plötzlich ertönte hinter uns eine Stimme:
»Was machen Sie da?«
Wir drehten uns um. Unser Nachbar stand hinter uns.
»Wir atmen die laue Luft, wir bewundern die Landschaft!«
»Ich werde auch ein Fenster öffnen.«
»Das geht nicht. Sie sind alle verkittet. Nur dieses hier haben wir aufgebracht.«
»Ja«, sagte nach einer Weile der Unbekannte. »Der Kaukasus ist schön und exotisch, aber sehr wild. Das ist ein richtiges Räuberland. Man steht ahnungslos am Fenster und plaudert, da kommt von irgendwoher eine Kugel geflogen, trifft einen, man fällt nieder und ist tot . . . Ja, die Kaukasier sind eben räuberisch veranlagt! Lesen Sie übrigens keine Zeitungen? Unlängst stand ein Klavierstimmer beim Fenster. Ein Schuß – er schreit auf und stürzt zusammen!«
»Um Gottes willen, wer schießt denn?«
»Die Einwohner. Wer die meisten Passagiere niederknallt, genießt den größten Ruhm im Dorf. Ein Mädchen heiratet einen Mann nur dann, wenn er mindestens zehn Fahrgäste erschossen hat.«
»Hol's der Teufel – schließen wir das Fenster!«
Wir zogen uns eilig zurück. Der Unbekannte stellte sich an unseren Platz und sagte lachend:
»Ich riskiere es. Ich liebe es, mein Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn mich eine Kugel trifft, schicken Sie mein Gepäck nach Tiflis, Hotel Metropole, an Michalenko.«
*
Als wir in Tiflis den Wagen verließen, sahen wir, daß eine schlanke, junge Frau unseren Unbekannten erwartete. Sie küßte ihn und sagte:
»Wie bist du gefahren, Paul?«
»Ausgezeichnet. Solange man solche prachtvollen Reisebegleiter hat, ist das Reisen ein Vergnügen.«
Als wir uns ins Auto setzten, sagte Petrow:
»Hast du das gehört? Es scheint, daß wir ihm gefallen haben . . .«
Ich zuckte die Achseln.
»Warum nicht?«
Heimlich aber dachte ich: er hat sich über uns lustig gemacht. Vielleicht gibt es gar keine Räuber im Kaukasus?
Seit dieser Zeit glaube ich nichts von dem, was mir einer im Zug erzählt . . .