Ich saß in der vierten Reihe und hörte aufmerksam den Worten zu, die auf der Bühne ein Mann mit kleinem, blondem Bart und guten, freundlichen Augen sprach:
»Wozu dieser Haß? Wozu diese Empörung? Sie sind vielleicht gute Menschen, aber Blinde, die nicht begreifen, was sie tun. Man muß sie verstehen und nicht hassen!«
Der andere Schauspieler zog die Brauen zusammen und erwiderte:
»Ja, es ist schwer, überall diese Dummheit, diese Knechtschaft und Alltäglichkeit zu sehen. Einem edlen Menschen zerreißt es das Herz.«
Die Heldin lag auf dem Diwan, seufzte und rief:
»Meine Herren, die Luft ist rein, die Vöglein zwitschern, am Himmel scheint die Sonne, und ein sachter Wind bewegt die Wipfeln der Bäume. Also wozu streiten?«
Der edle Mensch bedeckte sein Gesicht mit den Händen und sagte mit tränenerstickter Stimme:
»Mein Gott, mein Gott, wie schwer ist das Leben.«
Der andere Schauspieler legte seine Hand auf die Schulter der Weinenden und sprach:
»Irina, verzeih ihm, er hat eine edle Seele.«
In meine Augen traten Tränen. Ich fühlte, daß die Schauspieler mich zu einem guten Menschen machten. In der Pause beschloß ich, jenen Schauspieler, der alles verzieh, und jenen, der litt, sowie auch die Heldin in ihren Garderoben aufzusuchen und ihnen meinen Dank für die Gefühle, die sie in mir erweckt hatten, auszusprechen. In der großen Pause, nach dem zweiten Akt, ging ich hinter die Kulissen.
Da lernte ich die Schauspieler in ihrer wahren Gestalt kennen . . .
*
»Kann ich das Ankleidezimmer des Schauspielers Erasdow betreten?«
»Sind Sie nicht der Schuster?«
»Ob ich ein Schuster bin, darüber kann ich kein Urteil fällen, aber sonst bin ich Schriftsteller.«
»Dann bitte einzutreten.«
Ich trat über die Schwelle und stand vor dem alles verzeihenden Schauspieler.
»Ihr Verehrer«, stellte ich mich vor. »Ich bin gekommen, um Sie persönlich kennenzulernen.«
Er war sehr gerührt und sagte:
»Sehr erfreut, nehmen Sie Platz.«
»Danke«, erwiderte ich und schaute mir die Garderobe an. »Wie interessant ist doch das Leben eines Künstlers, nicht wahr? Alle Künstler sind so talentvoll, haben so viel Seele!«
Erasdow lächelte ironisch:
»Na, nicht alle sind talentvoll.«
»Spielen Sie doch nicht den Bescheidenen«, bemerkte ich, mich setzend.
»Doch! Hat denn zum Beispiel dieser alte Schmierenkomödiant einen Funken Talent? Absolut kein Talent hat er!«
»Wen meinen Sie?« fragte ich schüchtern.
»Na, den Schauspieler Fialkin, der die Rolle des Helden so schlecht spielt.«
»Sie finden, er spielt schlecht? Weshalb hat ihm dann der Regisseur die Rolle gegeben?«
Erasdow schlug die Hände zusammen:
»Sie sind ein großes Kind, Sie kennen das Leben nicht! Der Regisseur ist mit seiner Frau befreundet, und er selbst ist mit der Frau des Restaurateurs gut Freund, die vom Direktor Wechsel auf vierzigtausend Rubel hat.«
»Und mit solch einem Menschen muß diese sympathische Heldin, die Lutschesarskaja, spielen?«
»Heldin? Auch eine Schauspielerin! Die bekommt die Rollen nur deshalb, weil sie die Kusine des Theaterreferenten ist. Sie hat einen Mann und eine zwölfjährige Tochter, sie mißhandelt das Kind und ist eine große Canaille, sogar die komische Alte will nichts von ihr wissen. Entschuldigen Sie, aber jetzt muß ich auf die Bühne, ich komme gleich zurück, dann können wir weiterplaudern. Wenn Sie wüßten, wie schwer es mir ist, mit meinen Anschauungen in dieser Atmosphäre zu leben! Ich bin sofort zurück!«
Er eilte hinaus, ich blieb allein. Da öffnete sich die Türe, und in die Garderobe trat, lustig ein Liedchen pfeifend, der Schauspieler Fialkin.
»Ist Wassja nicht da?«
»Nein«, erwiderte ich höflich. »Sie haben ausgezeichnet gespielt, es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Sein Gesicht wurde traurig:
»Ich könnte gut spielen, aber nicht hier, ich müßte einen anderen Partner haben, nicht diesen Erasdow. Wissen Sie, dieser Mensch ist im Dialog unmöglich, er fängt die Worte des andern auf, macht Grimassen und lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums nur auf sich. Ein furchtbarer Egoist!«
»Tatsächlich?«
»Ha, das wäre noch nichts, wenn er im Privatleben ein anständiger Mensch wäre. Aber er ist ein Kartenspieler und Trunkenbold. Hat er sich bei Ihnen noch kein Geld geliehen?«
»Nein!«
»Gleich wird er Sie darum bitten. Aber mehr als zehn Rubel geben Sie ihm nicht, es ist ohnedies verlorenes Geld. Ich werde Ihnen etwas sagen, er und diese Lutschesarskaja . . .«
An der Tür klopfte es.
»Darf man?« fragte die Lutschesarskaja und trat ins Zimmer.
»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Nun, was tut Erasdow auf der Bühne?« fragte Fialkin die Heldin.
Die Lutschesarskaja machte ein leidendes Gesicht, hob die Hände und rief:
»Furchtbar, er kennt die Rolle überhaupt nicht, verwechselt die Worte und schreit. Ich habe kaum die Rolle zu Ende gespielt.«
»Sie Ärmste«, bemerkte Fialkin, »Sie haben es nicht leicht.«
»Ach, mir macht es nichts. Sie spielen ja mit ihm zusammen. Ich denke, mit Ihrer Schule, mit Ihrem Spiel, mit Ihren Nerven ist das nicht leicht. Oh, wie verstehe ich Sie! Aber jetzt ist Ihr Auftritt, gehen Sie!«
Er lief auf die Bühne, die Lutschesarskaja neigte sich zu mir und sagte mit leiser Stimme:
»Was hat Ihnen dieser Kretin gesagt?«
»Er? Wir sprachen über Fragen der Kunst.«
»Hüten Sie sich vor ihm, er ist ein Lügner, wir fürchten ihn alle wie das Feuer. Er ist imstande und erzählt jetzt Erasdow, er habe gesehen, daß Sie die Taschen seines Rockes durchsuchten. Er ist ein Alkoholiker, ein Morphinist. Wir wären glücklich, wenn man ihn ins Gefängnis steckte. Mit ihm zu spielen, ist ein wahres Unglück. Wenn er und dieser Gorilla von Erasdow auf der Bühne sind, kann es keinen Erfolg geben.«
Sie lächelte traurig und bemerkte:
»Unser Theatersumpf erschreckt Sie sicher, auch ich bin empört, aber was soll man machen? Ich liebe die Bühne zu sehr.«
Da kam Erasdow in die Garderobe gestürmt:
»Liebste Marja Pawlowna, wenn Sie wüßten, was dieser Lump mit der ersten Szene in diesem Akt gemacht hat!«
»Das habe ich früher gewußt«, bemerkte achselzuckend die Schauspielerin. »Das ist eine führende Rolle, die Sie eigentlich spielen sollten. Aber Sie kennen ja unseren Regisseur . . .«
*
Im nächsten Akt saß ich wieder im Zuschauerraum. Die Heldin stand beim Fenster, vom Mondschein beleuchtet, legte ihr Köpfchen an die Schulter Fialkins und rief:
»Ich kann das Gefühl nicht schildern, das mich in Ihrer Anwesenheit ergreift. In meinem Herzen wird es so warm! Sagen Sie, Kaisarow, was bedeutet das?«
»Meine Liebe, meine Herrliche! Ich wollte, daß mir das Glück leuchtete, von Ihnen geliebt zu sein. Ach, dann würde ich Ihnen zu Füßen fallen und sterben. Meine letzten Worte wären: Ich liebe Sie!«
Mein Nachbar nahm sein Taschentuch heraus, stieß mich mit dem Ellbogen an und wischte sich die Tränen ab.
»Was stoßen Sie?« rief ich grob. »Alles Lüge und Komödie! Lächerlich! Kein wahres Wort – einer möchte dem anderen die Augen auskratzen, alle sind sie aufeinander neidisch! Sie glauben mir nicht? Gehen Sie hinter die Kulissen, sprechen Sie mit den Schauspielern, und der Zauber wird sofort verschwinden.«
Dann stand ich auf und verließ wütend das Theater.