An einem schönen Herbsttag lauschte der Gefangene im Marshalsea, noch schwach, aber sonst genesen, einer Stimme, die ihm vorlas. Es war ein froher Herbsttag, wo die goldenen Felder geerntet und wieder gepflügt werden, wo die Sommerfrüchte gereift und gebleicht sind, wo die grünen Gassen der Hopfenstangen von den fleißigen Lesern umgestürzt waren, wo die Äpfel in Büscheln rotbäckig und die Beeren der Eberesche purpurn zwischen dem gelben Laub hervorsahen. Im Walde konnte man schon Spuren des nahenden rauhen Winters sehen in den ungewohnten Öffnungen des Laubgewölbes, wo die Aussicht sich klar und bestimmt zeigte, ohne den Duft des schläfrigen Sommerwetters, der darauf lag wie der Reif auf einer Pflaume. Und auch am Strand schlummerte der Ozean nicht mehr in der Hitze; seine tausend funkelnden Augen standen offen, und sein ganzer Atem war freudiges Leben, von dem kühlen Sand am Ufer bis zu den kleinen Segeln am Horizont, die dahintrieben wie herbstlich gefärbte Blätter, die von den Bäumen herabwirbelten.
Unveränderlich und kahl, gleichgültig alle Jahreszeiten mit dem stieren, hagern Gesicht der Armut und Not ansehend, hatte das Gefängnis auch nicht eine Spur von all diesen Schönheiten an sich. Mochte blühen, was da wollte, seine Mauern und Gitter trugen immer dieselben toten Halme. Aber Clennam vernahm, während er der Stimme lauschte, die ihm vorlas, in ihr alles, was die große Natur schafft, alle die versöhnenden Lieder, die sie dem Menschen singt. An keiner andern Mutter Knie als an dem ihrigen hatte er je in der Jugend bei hoffnungsvollen Versprechungen, bei heitern Träumen, bei den reichen Ernten von Liebe und Demut verweilt, die in dem frühzeitig gepflegten Samen der Phantasie verborgen liegen; oder an den Eichen, die uns vor verheerenden Winden schützen und deren starke Wurzeln in dem Keim von Ammenstubeneicheln ruhen. Aber in den Tönen der Stimme, die ihm vorlas, lagen Erinnerungen an alte Empfindungen solcher Dinge und Echos jedes barmherzigen und liebevollen Geflüsters, das sich jemals in seinem Leben zu ihm geschlichen hatte. Als die Stimme schwieg, legte er die Hand über seine Augen und murmelte, daß das Licht ihn blende. Klein-Dorrit legte das Buch weg und stand sogleich auf, um das Fenster zu verhängen. Maggy saß an ihrem alten Platz bei der Arbeit. Als das Licht gedämpft war, rückte Klein-Dorrit den Stuhl näher zu ihm. »Das wird nun bald vorüber sein, lieber Mr. Clennam, Nicht nur sind Mr. Doyces Briefe an Sie so freundschaftlich und ermutigend, sondern Mr. Rugg sagt auch, seine Briefe an ihn äußerten sich hilfsbereit, und jedermann spreche (nachdem das bißchen Ärger vorüber ist) sich so rücksichtsvoll und gut über Sie aus, daß es jetzt bald vorüber sein werde.« »Liebes Mädchen. Teures Herz. Guter Engel!« »Sie sprechen viel zu gut von mir. Und doch ist es ein so süßes Gefühl für mich, Sie so warm von mir reden zu hören und dabei – zu sehen«, sagte Klein-Dorrit, indem sie ihre Augen zu ihm erhob, »wie es aus tiefster Seele kommt, daß ich nicht sagen kann: Tun Sie es nicht.« Er hob ihre Hand an seine Lippen. »Sie waren hier viele, viele Male, wo ich Sie nicht gesehen habe, Klein-Dorrit.« »Ja, ich war hier manchmal, ohne in dies Zimmer gekommen zu sein.« »Sehr oft?« »Ziemlich oft«, sagte Klein-Dorrit schüchtern. »Jeden Tag?« »Ich denke«, sagte Klein-Dorrit nach einigem Zögern, »daß ich wenigstens zweimal täglich hier war.« Er hätte die kleine leichte Hand loslassen können, nachdem er sie glühend geküßt, wenn sie nicht durch das zarte Verweilen, wo sie war, ihn aufzufordern schien, sie zu behalten. Er nahm sie in seine beiden Hände und legte sie sanft an seine Brust. »Liebe Klein-Dorrit, nicht nur meine Gefangenschaft ist es, die bald vorüber sein wird, sondern auch Ihr Opfer muß ein Ende nehmen. Wir müssen lernen, zu scheiden und unsere gesonderten Wege zu gehen. Sie haben nicht vergessen, was wir zusammen gesprochen haben, als Sie in die Heimat zurückkehrten?« »O nein, ich habe es nicht vergessen. Aber etwas – Sie fühlen sich heute recht wohl, nicht wahr?« »Recht wohl.«
Die Hand, die er hielt, näherte sich ein wenig mehr seinem Gesicht.
»Fühlen Sie sich stark genug, um zu erfahren, was für ein großes Vermögen ich erhalten?«
»Ich werde mich freuen, es zu vernehmen. Kein Vermögen kann zu groß oder zu gut für Klein-Dorrit sein.«
»Ich wartete lange auf den Augenblick, wo ich es Ihnen sagen könnte. Ich habe mich seit lange gesehnt, es Ihnen zu sagen. Wissen Sie ganz gewiß, daß Sie es nicht annehmen werden?« »Nie!«
»Sie wissen ganz gewiß, daß Sie nicht die Hälfte annehmen werden?«
»Nie, liebe Klein-Dorrit.«
Wie sie ihn so schweigend ansah, lag etwas in ihrem liebevollen Gesicht, das er nicht ganz verstand; ein Etwas, das in einem Augenblick hätte in Tränen ausbrechen können und dennoch glücklich und stolz war.
»Es wird Ihnen leid tun, zu hören, was ich Ihnen von Fanny zu sagen habe. Die arme Fanny hat alles verloren. Alles, was ihr Papa bei der Verheiratung gab, ist verloren, wie Ihr Geld verlorenging. Es befand sich in denselben Händen und ist verloren.«
Arthur war von dieser Nachricht mehr erschüttert als überrascht. »Ich hatte gehofft, es wäre nicht so schlimm«, sagte er, »aber ich hatte bei der Verwandtschaft zwischen ihrem Gatten und dem Bankerottierer einen schweren Verlust befürchtet.«
»Ja. Es ist alles verloren. Fanny tut mir sehr leid; sehr leid, sehr leid, sehr leid, die arme Fanny. Auch mein armer Bruder.«
»Hatte er gleichfalls Geld in diesen Händen?«
»Ja. Und es ist alles verloren. Wie groß glauben Sie wohl, daß mein eigenes Vermögen ist?«
Als Arthur, von einer neuen Ahnung erfaßt, sie fragend ansah, zog sie ihre Hand weg und legte ihr Gesicht an den Ort, wo jene geruht.
»Ich habe nichts in der Welt. Ich bin so arm, wie da ich hier gewohnt. Als Papa nach England herüberkam, vertraute er alles, was er besaß, denselben Händen an, und es ist alles verloren. Oh, liebster und bester Mann, wissen Sie jetzt ganz gewiß, daß Sie mein Vermögen nicht mit mir teilen wollen?«
In seine Arme geschlossen, an sein Herz gepreßt, mit seinen Mannestränen auf ihren Wangen, legte sie ihre zarte Hand um seinen Hals und schlang sie dort in die andere.
»Nie scheiden wir wieder, liebster Arthur; nie wieder bis zum letzten Augenblick! Ich war noch nie so reich, noch nie so stolz, noch nie so glücklich wie jetzt. Ich bin reich, da du mich nimmst, ich bin stolz, daß du mir entsagtest, ich bin glücklich, daß ich mit dir in diesem Gefängnis bin, wie ich glücklich sein würde, wenn ich mit dir hierher zurückkehren könnte, wenn es der Wille Gottes wäre, um dich mit all meiner Liebe und Wahrheit zu trösten und zu pflegen. Ich gehöre dir in allem und überall! Ich liebe dich von Herzen! Ich möchte lieber hier mein Leben mit dir verbringen und täglich in die Stadt gehen, um für unser Brot zu arbeiten, als das größte Vermögen haben, das man je gekannt, und die größte Dame sein, der man je gehuldigt hat. Oh, wenn der arme Papa jetzt nur wissen könnte, wie glücklich endlich mein Herz in diesem Zimmer ist, wo er so viele Jahre gelitten!«
Maggy hatte natürlich vom ersten Augenblick die Augen weit aufgerissen und sich die Augen lange vor diesen Worten ausgeweint. Maggy war jetzt so überglücklich, daß sie ihre kleine Mutter ungestüm umarmte und dann die Treppe hinuntertanzte, um irgend jemanden zu finden, dem sie ihres Herzens Freude mitteilen könnte. Wem konnte Maggy anders begegnen als Flora und Mr. Finchings Tante, die gerade im rechten Augenblick eintraten? Und wen anders konnte Klein-Dorrit infolge dieser Begegnung auf sich warten finden, als sie volle zwei bis drei Stunden später ausging?
Floras Augen waren ein wenig rot, und sie schien nicht sonderlich guter Stimmung. Mr. Finchings Tante war so steif, daß sie aussah, als ob man sie nicht mehr bewegen könnte, außer mit Anwendung von großen mechanischen Kräften. Ihr Hut stand hinten in schrecklicher Weise in die Höhe, und ihr steinharter Strickbeutel war so starr, als wäre er durch das Haupt der Medusa versteinert und hätte es jetzt eingepackt. Mit diesen imposanten Eigenschaften war Mr. Finchings Tante, die auf den Stufen der Amtswohnung des Marschalls saß, in jenen zwei bis drei Stunden den jüngern Bewohnern der Nachbarschaft ein großer Genuß gewesen, indem sie, die humoristischen Ausfälle derselben von Zeit zu Zeit mit der Spitze ihres Regenschirms zurückweisend, sich sehr erhitzt hatte.
»Ich fühle wirklich recht schmerzlich Miß Dorrit«, sagte Flora, »daß es als eine Zudringlichkeit erscheinen muß wenn ich Ihnen, die an Vermögen so weit über mir steht und der von der besten Gesellschaft so sehr gehuldigt wird, den Vorschlag mache sich mit mir an einen Ort zu begeben selbst wenn es kein Pastetenbäckerladen der weit unter Ihrer gegenwärtigen Stellung steht und ein hinteres Zimmer wäre obgleich ein höflicher Mann aber wenn ich um Arthurs willen – kann es nicht überwinden obgleich es unschicklicher ist als früher Doyce und Clennam – eine letzte Bemerkung machen eine letzte Erklärung abgeben möchte so würde vielleicht Ihr gutes Herz unter dem Vorwand von drei Nierenpasteten den bescheidenen Ort der Unterhaltung entschuldigen.«
Diese ziemlich dunkle Rede richtig auslegend, erwiderte Klein-Dorrit, daß sie ganz zu Floras Diensten stehe. Flora führte sie deshalb über die Straße nach dem fraglichen Pastetenbäckerladen; Mr. Finchings Tante schritt hinterher und setzte sich mit einer Beharrlichkeit, die einer bessern Sache wert gewesen, der Gefahr aus, überfahren zu werden.
Als die drei »Nierenpasteten«, die als Vorwand für die Unterhaltung dienen sollten, auf drei kleinen Zinnplatten vor sie gesetzt waren, jede Pastete oben mit einer Öffnung geziert, in die der höfliche Mann heiße Bouillon aus einer mit einer Schnauze versehenen Kanne goß, als ob er drei Lampen speiste, nahm Flora ihr Taschentuch heraus.
»Wenn die schönen Träume der Phantasie«, begann sie, »mir jemals vorgespiegelt daß wenn Arthur – kann es nicht überwinden bitte entschuldigen Sie mich – wieder frei wäre selbst eine Pastete die so wenig frisch ist wie die gegenwärtige und so wenig Niere hat daß sie in dieser Hinsicht wie eine zerhackte Muskatnuß aussieht würde nicht unannehmbar erscheinen wenn die Hand wahrer Achtung sie darböte so sind solche Träume längst dahin und alles ist vorbei aber da ich weiß daß zärtlichere Beziehungen in Aussicht stehen so bitte ich sagen zu dürfen daß ich von Herzen beiden alles Glück wünsche und an keinem von beiden im mindesten etwas auszusetzen habe es mag wohl peinlich sein zu wissen daß ehe die Hand der Zeit mich viel weniger schlanker als früher gemacht und bei der geringsten Anstrengung schrecklich rot namentlich nach dem Essen wo wie ich wohl weiß es die Form von Hitzblattern annahm es hätte geschehen können aber durch das Dazwischentreten der Eltern nicht geschah und es trat eine geistige Gefühllosigkeit ein bis Mr. Finching den geheimnisvollen Schlüssel brachte so möchte ich doch nicht ungroßmütig gegen beide sein und ich wünsche beiden von Herzen Glück.«
Klein-Dorrit nahm ihre Hand und dankte ihr für all ihre frühere Güte.
»Nennen Sie es nicht Güte«, versetzte Flora, indem sie ihr einen ehrlichen Kuß gab, »denn Sie waren immer das beste und liebste kleine Ding das je existierte wenn ich mir die Freiheit nehmen darf und selbst im Geldpunkte eine Ersparnis da Sie das Gewissen selbst waren obgleich ich hinzufügen muß viel angenehmer als meines jemals für mich war obschon ich hoffe daß es nicht mit größeren Sünden beladen sei als das von andern so habe ich es doch immer bereitwilliger gefunden einem das Leben unangenehm statt angenehm zu machen und offenbar das erstere lieber – aber ich schweife da wieder ab eine Hoffnung wünsche ich auszusprechen ehe die letzte Szene spielt und die ist daß ich hoffe um der alten Zeit und der alten Aufrichtigkeit willen soll Arthur erfahren daß ich ihn in seinem Unglück nicht verlassen habe sondern beständig dort aus- und eingegangen bin um mich zu erkundigen ob ich irgend etwas für ihn tun könnte und daß ich in dem Pastetenbäckerladen saß wo sie sehr höflich etwas Warmes für mich in einem Glase aus dem Hotel herbeiholten und es war wirklich sehr hübsch eine Stunde um die andere ihn über die Straße zu besuchen ohne daß er es wußte.« Flora hatte wirklich in diesem Augenblick Tränen in den Augen, und sie standen ihr sehr gut.
»Außerdem«, sagte Flora, »bitte ich Sie inständig als das herzigste Ding das es jemals gab die Vertraulichkeit einer Person zu entschuldigen die sich in ganz andern Kreisen bewegt wenn ich Sie bitte Arthur zu verstehen zu geben daß ich nach allem doch nicht wisse ob es lauter dummes Zeug zwischen uns war obgleich angenehm und auch versuchungsvoll und gewiß hat Mr. Finching eine Veränderung zuwege gebracht und nachdem der Zauber zerbrochen war konnte natürlich nichts herauskommen ohne ihn neu zu weben was zu verhindern sich verschiedene Umstände vereinigten von denen vielleicht nicht der unwichtigste der war daß es nicht sein sollte ich möchte jedoch nicht sagen daß ich nicht froh gewesen wenn es Arthur angenehm gewesen und sich im ersten Augenblick auf natürliche Weise gemacht hätte denn ich bin von lebhafter Natur und langweile mich zu Hause wo Papa gewiß der ärgerlichste Mensch von der Welt ist und sich auch seit der Zeit nicht gebessert da er von der Hand des Aufwieglers zu einem Wesen zusammengeschnitten worden ist wie ich in meinem ganzen Leben nichts Ähnliches sah; Eifersucht liegt jedoch nicht in meinem Charakter so wenig als Mißgunst obgleich ich viele Fehler habe.«
Ohne ganz imstande zu sein, Mrs. Finching durch dieses Labyrinth zu folgen, verstand Klein-Dorrit doch, was sie meinte, und übernahm mit herzlicher Bereitwilligkeit diesen Auftrag.
»Der verwelkte Kranz meiner Liebe«, sagte Flora mit großem Genuß, »ist nun zerrissen die Säule ist gefallen und die Pyramide steht verkehrt auf ihrem wie heißt es nur nennen Sie es nicht Unbeständigkeit nennen Sie es nicht Schwäche nennen Sie es nicht Torheit ich muß mich jetzt in die Einsamkeit zurückziehen und darf nicht mehr auf die Asche verschwundener Freuden blicken sondern mir nur noch die Freiheit nehmen für die Pasteten zu bezahlen die den bescheidenen Vorwand für unsere Unterhaltung gebildet haben und dann Ihnen auf ewig Lebewohl sagen!«
Mr. Finchings Tante, die ihre Pastete mit großer Feierlichkeit verzehrt und über einer herzzerreißenden Anklageschrift gebrütet hatte, seitdem sie zuerst die öffentliche Stellung auf den Stufen der Marschallswohnung eingenommen, ergriff nun diese Gelegenheit, folgende sibyllinischen Worte an die Witwe ihres verstorbenen Neffen zu richten.
»Bringt ihn her und ich will ihn zum Fenster hinauswerfen!«
Flora suchte vergeblich die ausgezeichnete Frau zu besänftigen, indem sie ihr erklärte, daß sie zum Essen nach Hause gingen. Mr. Finchings Tante bestand auf ihrem: »Bringt ihn her und ich will ihn zum Fenster hinauswerfen!« Nachdem sie dieses Verlangen unzählige Male mit einem festen und herausfordernden Blick auf Klein-Dorrit wiederholt hatte, faltete Mr. Finchings Tante die Arme und setzte sich in eine Ecke des Pastetenbäckerladens, indem sie sich standhaft weigerte, dort wegzugehen, bis »er hergebracht« wäre und sie ihn zum Fenster hinausgeworfen hätte.
In dieser Lage vertraute Flora Klein-Dorrit an, daß sie Mr. Finchings Tante so lebenskräftig und charakterfest seit Wochen nicht gesehen; daß sie es notwendig finde, vielleicht »stundenlang« hierzubleiben, bis die unerbittliche alte Frau besänftigt werden könnte, und daß sie am besten mit ihr fertig werden würde. Sie schieden deshalb in der freundschaftlichsten Weise und mit den freundlichsten Gefühlen von beiden Seiten.
Da Mr. Finchings Tante wie eine grollende Festung aushielt und Flora sich nach einer Erfrischung sehnte, so wurde ein Bote nach dem bereits erwähnten Glase in das Hotel geschickt, das später noch einmal gefüllt wurde. Mit Hilfe seines Inhalts, einer Zeitung und dem Abrahmen des Pastetenvorrats brachte Flora den übrigen Teil des Tages in vollkommen gutem Humor zu; obgleich sie bisweilen durch die Folge eines leeren Gerüchtes gequält wurde, das unter der leichtgläubigen Jugend der Nachbarschaft zirkulierte, daß nämlich eine alte Frau sich dem Pastetenbäcker zum Verarbeiten verkauft und jetzt in dem Pastetenladen sitze, beharrlich sich weigernd, ihren Kontrakt zu erfüllen. Dies zog so viele junge Leute beiderlei Geschlechts herbei und verursachte, als der Abend hereinbrach, so viel Störungen in dem Geschäft, daß der Pastetenhändler endlich mit seinem Vorschlag, Mr. Finchings Tante fortzuschaffen, sehr dringend wurde. Man brachte deshalb einen Wagen vor die Tür, in den einzusteigen sich diese merkwürdige Frau durch die gemeinschaftlichen Bemühungen des Pastetenhändlers und Floras endlich bewegen ließ. Obschon nicht ohne auch dann noch den Kopf zum Fenster hinauszustecken und zu verlangen, daß man ihn zu dem ursprünglich erwähnten Zwecke »herbeibringe«. Da sie bei diesen Worten giftige Blicke nach dem Marschallgefängnis schoß, so war man der Meinung, daß diese wunderbar konsequente Frau unter diesem »ihn« Arthur Clennam verstand. Dies ist jedoch bloße Vermutung; wer die Person war, die zur Beruhigung von Mr. Finchings Tante hätte hergebracht werden sollen und niemals hergebracht wurde, wird nie mit Bestimmtheit bekannt werden.
Die Herbsttage dauerten noch fort, und Klein-Dorrit kam jetzt nie nach dem Marschallgefängnis und ging nie weg, ohne ihn gesehen zu haben. Nein, nein, nein.
Eines Morgens, als Arthur horchte, ob die leichten Füße nicht kämen, die jeden Morgen beschwingt zu seinem Herzen kamen und den himmlischen Glanz einer neuen Liebe in das Zimmer brachten, wo die alte Liebe sich so eifrig gemüht und so treu gewesen, – eines Morgens, als er so lauschte, hörte er sie kommen, jedoch nicht allein.
»Lieber Arthur«, sagte ihre heiter klingende Stimme schon vor der Tür, »ich habe jemanden mitgebracht, darf ich ihn hereinführen?« Nach den Tritten hatte er geglaubt, es seien zwei mit ihr gekommen. Er antwortete »Ja«, und sie trat mit Mr. Meagles ein. Sonngebräunt und vergnügt sah Mr. Meagles aus, und er öffnete seine Arme und umschlang Arthur wie ein sonngebräunter und vergnügter Vater.
»Nun ist alles in Ordnung«, sagte Mr. Meagles nach einer Minute. »Nun ist alles vorbei. Arthur, mein lieber Junge, gestehen Sie nur, daß Sie mich früher erwartet haben.«
»Allerdings«, versetzte Arthur; »aber Amy sagte mir –« »Klein-Dorrit. Nie einen andern Namen.« (Sie war es, die ihm das zuflüsterte.)
» – aber meine Klein-Dorrit sagte mir, daß ich, ohne weitere Erklärung zu verlangen, Sie nicht eher erwarten sollte, als bis ich Sie sähe.«
»Und nun sehen Sie mich, mein Junge«, sagte Mr. Meagles und schüttelte ihm derb die Hand; »und nun sollen Sie alle und jede Erklärung haben. Ich war nämlich hier – kam direkt von den Alloners und Marschoners, sonst würde ich mich geschämt haben, Ihnen heute ins Gesicht zu sehen –, aber Sie waren damals nicht zu haben und ich mußte gleich wieder fort, um Doyces habhaft zu werden.«
»Der arme Doyce«!« seufzte Arthur. »Geben Sie ihm keine Namen, die er nicht verdient«, sagte Mr. Meagles. »Er ist nicht arm; er befindet sich in ganz guten Verhältnissen. Drüben auf dem Kontinent ist Doyce ein ganz wunderbarer Kerl. Ich versichere Sie, er zeigt dort, was er wert ist. Er ist auf seine Beine gefallen, dieser Dan. Wo sie etwas nicht getan haben wollen und einen Mann finden, der es tun kann, da ist er nicht auf dem rechten Fleck. Aber wo sie etwas getan haben wollen und den Mann finden, der es tut, da ist er auf dem rechten Fleck. Sie werden keine Veranlassung mehr haben, das Circumlocution Office zu belästigen. Ich will Ihnen ganz einfach sagen, Dan ist auch ohnehin vorwärtsgekommen.«
»Welch eine Last Sie mir vom Herzen nehmen!« rief Arthur. »Wie glücklich Sie mich machen!«
»Glücklich«, versetzte Mr. Meagles. »Sprechen Sie mir nicht von Glück, bis Sie Dan sehen. Ich versichere Sie, Dan leitet dort drüben Arbeiten und führt Werke aus, daß Ihnen die Haare zu Berge stünden, wenn Sie's sähen. Er ist jetzt kein Verbrecher am Staate mehr, bewahre nicht! Er bekommt Medaillen und Bänder und Sterne und Kreuze, und ich weiß nicht was alles, wie ein geborner Edelmann. Aber Sie dürfen hier in England nicht davon sprechen.«
»Warum nicht?«
»Nun, Sie wissen ja!« sagte Mr. Meagles, indem er sehr ernst den Kopf schüttelte, »er muß, wenn er hier herüberkommt, alle diese Sachen hinter Schloß und Riegel verbergen. Es geht hier nicht. In dieser speziellen Sache ist Britannia wie eine
Britannia in der Speisenkammer – will ihren Kindern selbst keine solche Auszeichnung geben und will sie auch nicht zeigen lassen, wenn andre Länder sie geben. Nein, nein, Dan!« sagte Mr. Meagles wieder kopfschüttelnd. »Das ginge hier nicht.«
»Wenn Sie mir das Doppelte meines Verlustes gebracht hätten«, rief Arthur!, »so würden Sie mir (außer um Doyces willen) nicht solche Freude gemacht haben als durch diese Nachricht.«
»Nun, natürlich, natürlich«, stimmte Mr. Meagles bei. »Natürlich weiß ich das, mein Bester, und deshalb mußte ich auch gleich im ersten Augenblick damit herausplatzen. Aber um wieder darauf zurückzukommen, daß ich Doyces habhaft zu werden suchte. Ich fand Doyce. Ich stieß auf ihn unter einem Haufen jener schmutzigen braunen Hände in Frauennachtmützen, die ihnen viel zu groß sind und sich Araber heißen, oder irgendein solcher verzettelter Stamm sind. Sie kennen sie ja! Nun! Er kam direkt auf mich zu, und ich ging direkt auf ihn zu, und so sind wir beide zurückgekommen.« »Doyce in England?« rief Arthur.
»Da haben wir's«, sagte Mr. Meagles und breitete seine Arme auseinander. »Ich bin der ungeeignetste Mensch zu einer solchen Geschichte. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich Diplomat gewesen wäre – vielleicht hätt' ich's recht, gemacht! Das Lange und das Kurze von der Sache ist, Arthur, daß wir beide seit vierzehn Tagen in England sind. Und wenn Sie weiter fragen, wo Doyce jetzt ist, nun, so lautet meine einfache Antwort: – Hier ist er! Und nun kann ich endlich wieder atmen!«
Doyce sprang hinter der Tür hervor, ergriff Arthur bei beiden Händen und sagte das übrige selbst.
»Meine Sache, die ich vorbringen wollte, hat nur drei Teile, mein lieber Clennam«, sagte Doyce, indem er sie nebeneinander mit seinem plastischen Daumen auf die Fläche seiner Hand zeichnete, »und sie sind bald abgemacht. Erstlich nicht ein Wort von dem, was geschehen ist. Es war ein Irrtum in Ihrer Berechnung. Ich weiß, was das heißen will. Es greift die ganze Maschine an, die infolgedessen nicht gehen kann. Sie werden aus dem gemachten Fehler Nutzen ziehen und ihn zum zweiten Male vermeiden. Ich habe selbst bei der Konstruktion Ähnliches getan. Jeder Fehler lehrt uns etwas, wenn wir lernen wollen; und Sie sind ein viel zu verständiger Mann, um nicht aus diesem Fehler zu lernen. Soviel fürs erste. Zweitens. Ich bedauerte, daß Sie es sich so sehr zu Herzen genommen und sich so schwere Vorwürfe gemacht haben. Ich reiste Tag und Nacht, um mit der Unterstützung unseres Freundes die Sache in Ordnung zu bringen, als ich unserem Freunde begegnete, wie er Ihnen sagte. Drittens: Wir beide waren der Ansicht, daß, nach dem, was Sie gelitten haben, nach Ihrem Kummer und nach Ihrer Krankheit, es eine angenehme Überraschung für Sie sein würde, wenn wir uns soweit still verhalten könnten, bis wir alles ohne Ihr Wissen arrangiert und dann kämen und sagten, daß das Geschäft Ihrer jetzt mehr bedurfte denn je und daß uns beiden als Kompagnons eine neue und glückliche Karriere offenstünde. Dies ist das Dritte. Aber Sie wissen, daß wir immer etwas für die Friktion zugeben, und deshalb habe ich noch einen freien Raum übrig. Mein lieber Clennam, ich setze mein ganzes Vertrauen auf Sie; Sie haben es in Händen, mir ebenso nützlich zu sein, wie ich es in meinen Händen habe oder hatte, Ihnen nützlich zu sein: Ihr alter Platz erwartet Sie und bedarf Ihrer sehr: es gibt nichts, was Sie nur eine halbe Stunde länger hier festhalten könnte.« Es trat eine Pause ein, die nicht früher unterbrochen wurde, als bis Arthur einige Zeit, den Rücken ihnen zugekehrt, am Fenster gestanden und seine künftige kleine Frau zu ihm getreten und bei ihm geblieben war. »Ich machte vorhin eine Bemerkung«, sagte Daniel Doyce, »die ich nun für nicht ganz richtig zu halten geneigt bin. Ich sagte, es gebe nichts, was Sie eine halbe Stunde länger hier festhalten könnte. Täusche ich mich, wenn ich vermute, daß Sie lieber bis morgen früh hierbleiben möchten? Errate ich, ohne sonderlich klug zu sein, wohin Sie direkt aus diesen Mauern und diesem Zimmer gehen möchten?« »Ja, Sie erraten es«, versetzte Arthur. »Es war unser liebster Wunsch.« »Gut denn!« sagte Doyce. »Wenn diese junge Dame mir die Ehre erzeigen will, mich für vierundzwanzig Stunden als ihren Vater zu betrachten, und mit mir nach der St. Paulskirche fahren will, so glaube ich sagen zu können, was wir dort wollen.« Klein-Dorrit und er verließen bald darauf das Zimmer, und Mr. Meagles blieb noch einen Augenblick zurück, um seinem Freunde ein Wort zu sagen. »Ich glaube, Arthur, Sie werden morgen Mutter und mich nicht brauchen; wir wollen wegbleiben. Es möchte Mutter an Pet erinnern; sie ist eine weichherzige Frau, sie bleibt am besten auf dem Landhaus, und ich bleibe bei ihr und leiste ihr Gesellschaft.« Damit schieden sie vorderhand. Und der Tag endigte und die Nacht endigte und der Morgen kam und Klein-Dorrit, einfach gekleidet wie gewöhnlich und ohne andre Begleitung als Maggy, erschien mit dem Sonnenschein im Gefängnis. Wo in der Welt war ein Zimmer so voll stiller Freude! »Mein liebes Kind«, sagte Arthur. »Warum zündet Maggy Feuer an? Wir gehen ja im nächsten Augenblick.« »Ich bat sie darum. Ich habe mir das in den Kopf gesetzt. Ich möchte, daß du mir etwas verbrennest.« »Was?« »Nur dies zusammengelegte Papier. Wenn du es eigenhändig in das Feuer werfen würdest, so wie es ist, so ist meine Grille befriedigt.« »Abergläubisch, liebe Klein-Dorrit. Ist es ein Zauber?« »Es ist alles, was du willst, mein Lieber«, antwortete sie, indem sie mit strahlenden Augen lachte und sich auf die Zehenspitzen erhob, um ihn zu küssen, »wenn du nur meiner Laune genügst, sowie das Feuer in die Höhe flackert.«
So standen sie vor dem Feuer und warteten; Clennam hatte den Arm um sie geschlungen, während das Feuer, wie es oft an diesem Ort getan, in Klein-Dorrits Augen glänzte. »Brennt es schon stark genug?« sagte Arthur. »Vollkommen stark genug«, sagte Klein-Dorrit. »Müssen bei dem Zauber auch Worte gesprochen werden?« fragte Arthur, während er das Papier über die Flamme hielt. – »Du kannst sagen (wenn du nichts dawider hast): ›Ich liebe dich!‹«, antwortete Klein-Dorrit. So sagte er denn diese Worte, und das Papier loderte auf.
Sie gingen sehr still über den Hof; denn niemand war da, obgleich viele Köpfe verstohlen aus den Fenstern guckten. Nur ein vertrautes Gesicht befand sich in dem Schließerstübchen. Als sie beide es angeredet und viele freundliche Worte mit ihm gewechselt hatten, wandte sich Klein-Dorrit noch einmal, zum letzten Male, nach ihm um, bot ihm ihre Hand und sagte: »Leben Sie wohl, guter John! Ich hoffe. Sie werden sehr glücklich werden. Sie lieber Mensch!«
Dann schritten sie die Stufen der nahen St. Georgskirche hinauf und traten an den Altar, wo Daniel Doyce in seiner Funktion als Vater ihrer wartete. Dort stand auch Klein-Dorrits alter Freund, der ihr das Begräbnisregister als Pfühl gegeben: voll von Bewunderung, daß sie doch noch zu ihnen käme, um sich trauen zu lassen.
Und sie wurden getraut, während die Sonne durch die gemalte Gestalt unseres Erlösers im Fenster auf sie herabschien. Und sie traten in dasselbe Zimmer, wo Klein-Dorrit nach ihrer Abendgesellschaft geschlummert hatte, um dort in das Trauungsregister sich einzuzeichnen. Dort sah Mr. Pancks (bestimmt, erster Kommis bei Doyce und Clennam und später Geschäftsteilhaber zu werden), den Aufwiegler im friedlichen Freund aufgehen lassend, zur Tür herein, um Zeuge des Aktes zu sein, während er in seiner Galanterie Flora am einen Arm und Maggy am andern führte, mit einem Hintergrunde von John Chivery und dessen Vater und andern Schließern, die auf einen Augenblick herübergelaufen waren und das väterliche Marschallgefängnis verlassen hatten, um sein glückliches Kind zu sehen. Flora zeigte nicht die geringste Spur eines eingezogenen Lebens, trotz ihrer neulichen Erklärung, sondern sah im Gegenteil ungemein frisch und munter aus und hatte eine große Freude an der Zeremonie, wenn auch in einer etwas aufgeregten Weise.
Klein-Dorrits alter Freund hielt das Tintenfaß, während sie ihren Namen unterschrieb, und der Küster hielt einen Augenblick inne, als er dem guten Geistlichen den Chorrock abnahm, und alle Zeugen waren mit größtem Interesse bei der Handlung. »Denn Sie müssen wissen«, sagte Klein-Dorrits alter Freund, »diese junge Dame ist eine von unsern Merkwürdigkeiten und ist jetzt bei dem
dritten Bande unserer Register angekommen. Ihre Geburt steht in dem, was ich den ersten Band nenne; sie lag auf diesem Boden mit ihrem hübschen Köpfchen auf dem, was ich den zweiten Band nenne; und nun schrieb sie ihren kleinen Namen als Braut in das, was ich den dritten Band nenne, nun.«
Sie traten alle auf die Seite, als das Einschreiben vorüber war, und Klein-Dorrit und ihr Gatte gingen allein aus der Kirche hinweg. Einen Augenblick blieben sie auf den Stufen des Portals stehen, schauten in die frische Perspektive der Straße, die im Morgenstrahl der Herbstsonne glänzte, und stiegen dann hinab.
Stiegen hinab in ein bescheidenes Leben voll Nützlichkeit und Glück. Stiegen hinab, um mit der Zeit Fannys vernachlässigten Kindern keine geringere mütterliche Sorgfalt zu widmen als ihren eigenen und diese Dame statt dessen immer und ewig in Gesellschaft gehen zu lassen. Stiegen hinab, um noch einige wenige Jahre Tip zu pflegen, der sich niemals Gewissensbisse über die großen Opfer machte, die er als Ersatz für die Reichtümer verlangte, die er ihr gegeben haben würde, wenn er sie selbst gehabt, und der liebevoll seine Augen vor dem Marschallgefängnis und allen seinen am Wachstum verhinderten Früchten schloß. Sie stiegen still hinab in die lärmenden Straßen, unzertrennlich und glücklich, und wie sie im Sonnenschein und im Schatten dahingingen, eilten und stürmten die Lärmenden und die Geschäftigen, die Anmaßenden und die Eigensinnigen und die Eitlen ungestüm an ihnen vorüber und machten ihr gewöhnliches Getöse.