Modelltest 4: Leseverstehen (Text)
El Dorado oder Terra Preta – Ist die "Schwarze Erde" der wahre
Schatz Amazoniens?
Der Spanier Francisco de Orellana (1490–1546) war der erste Europäer, der den
Amazonas befuhr. Zusammen mit 350 Spaniern, ca. 4.000 indianischen Sklaven und
etwa 3.000 Begleittieren reiste er dabei im Jahre 1541 (aus heutiger Sicht überraschend) von Westen nach Osten, d.h. von den Anden in Richtung Atlantik. Den spa-
5 nischen Konquistador motivierten allerdings keineswegs wissenschaftliche Interessen oder der Wunsch nach der Eroberung neuer Länder für den spanischen König.
Vielmehr glaubten er und seine Leute, dass es im Amazonasgebiet unermessliche
Reichtümer gebe, kostbare Gewürze, Ländereien voller Smaragde und vor allem –
Gold. Die Konquistadoren, die in den Jahren zuvor in den Gebieten der heutigen An-
10 denstaaten Peru und Ecuador das Inkareich brutal erobert hatten, waren in erster Linie auf der Suche nach dem legendären Goldland El Dorado, doch wie alle seine
Vorgänger und Nachfolger war auch Orellana bei dieser Suche erfolglos. Zwar behauptete er, eine große Kultur von Ackerbauern im Amazonasgebiet vorgefunden zu
haben, El Dorado blieb jedoch ein Mythos.
15 Viele Jahre lang waren Orellanas Reiseerzählungen die einzigen Berichte aus dem
Inneren Amazoniens, dem größten Regenwaldgebiet der Welt. Doch spätere Reisende konnten die Schilderungen Orellanas nicht bestätigen und fanden keinerlei Spuren der von ihm beschriebenen Amazonaskultur mit großen Städten und einer Bevölkerung, die er auf 100 Millionen Einwohner geschätzt hatte. Bis zum Jahre 2002 galt
20 sein Bericht deshalb bei Wissenschaftlern als unglaubwürdig, wofür vor allem zwei
Gründe sprachen: Zum einen hätte eine derartig große Kultur viel mehr Spuren hinterlassen müssen, zum anderen hätte der nährstoffarme Regenwaldboden niemals
eine größere Bevölkerung über einen längeren Zeitraum ernähren können. Denn
selbst mit modernsten Anbaumethoden und dem verstärkten Einsatz chemischer
25 Düngemittel verliert der sensible Boden des Urwaldes auch heute noch bereits nach
wenigen Jahren seine Nährstoffe, so dass er für die Landwirtschaft ungeeignet ist.
Im Jahre 2002 jedoch entdeckte ein internationales Team von Wissenschaftlern, das
die vermutliche Reiseroute Orellanas rekonstruiert hatte, im Urwald Boliviens bisher
unbekannte Ruinen und Bodenspuren größerer Städte. In der Nähe dieser unterge-
30 gangenen Städte fanden sich regelmäßig ausgedehnte Flächen merkwürdig dunkler,
fast schwarzer Erde. Diese Terra Preta (so der heutzutage international verwendete
portugiesische Name der schwarzen Erde) unterscheidet sich stark von dem sie umgebenden, typisch nährstoffarmen Regenwaldboden. Sie ist extrem fruchtbar, sehr
stabil gegenüber chemischen und klimatischen Einflüssen und kann Nährstoffe lang-
35 fristig speichern. Auf dieser Grundlage hätte also sehr wohl eine große vorspanische
Zivilisation ernährt werden können, und diese hervorragenden Eigenschaften der
schwarzen Erde machen sie auch für die Gegenwart interessant.
Biologen und Agrarwissenschaftler untersuchen die Terra Preta, die von Bolivien bis
nach Zentralbrasilien vorkommt, bereits seit einiger Zeit sehr genau, da sie sowohl
40 für traditionelle als auch für moderne Anbaumethoden weit besser geeignet zu sein
scheint als die tropischen Mangelböden. Mit der genauen Entstehung und Zusammensetzung der schwarzen Erde Amazoniens beschäftigen sich deshalb einige wisFachhochschule Aachen - Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang (DSH)
Modelltest 4: Leseverstehen (Text)
senschaftliche Forschungsprojekte rund um den Globus. Derzeitiger Forschungsstand ist, dass die Terra Preta kein natürliches, sondern ein von Menschen geschaf-
45 fenes Produkt ist. Wahrscheinlich wurde sie in vor-historischer Zeit im Rahmen von
Brandrodung gebildet. Beim Anlegen neuer Felder wurden Regenwaldgebiete abgebrannt und es entstanden Asche und Holzkohle. Wird aber der normale Urwaldboden
mit schwarzer Holzkohle und etwas Muschelkalk vermischt, entsteht die typische
schwarze Erde mit ihren hervorragenden Eigenschaften.
50 Auf einem Terra-Preta-Symposion im Sommer 2001 in Valencia (Spanien) berichteten Forscher u.a. davon, dass noch heute auf ca. 2000 Jahre alter Terra Preta
Früchte wie z.B. Mangos und Papayas dreimal schneller wachsen als auf benachbarten Feldern mit normalem Boden.
Inzwischen ist die Terra Preta aus Amazonien zu einer großen Hoffnung für die
55 Landwirtschaft Südamerikas geworden, aber auch andere Regionen mit ähnlichen
Bedingungen, z.B. in Westafrika, hoffen darauf, ihre Probleme im Agrarsektor mit ihrer Hilfe zu beheben. Sollten sich diese Hoffnungen erfüllen, dann wäre die Terra
Preta der wahre Schatz Amazoniens, denn sie könnte helfen, Ernährungsprobleme
in den ärmsten Regionen der Welt zu bekämpfen.
60 All dies ahnte Francisco de Orellana bei seiner Suche nach Gold natürlich nicht. Immerhin wurde sein lange Jahre für eine Lügengeschichte gehaltener Bericht durch
die internationale Expedition des Jahres 2002 zumindest teilweise rehabilitiert. Die
Archäologen, die die neu entdeckte Kultur Amazoniens untersuchen, fanden übrigens auch eine erschreckende Antwort auf die Frage, wie diese agrarische Hochkul-
65 tur verschwunden ist: Wahrscheinlich starb fast die gesamte Bevölkerung innerhalb
weniger Jahrzehnte durch von den Spaniern eingeschleppte Krankheiten wie Grippe,
Windpocken und Masern, auf die das Immunsystem der Einheimischen nicht eingestellt war. So ging das Wissen um die Terra Preta verloren und heutige Wissenschaftler müssen es mühsam wieder erarbeiten.
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Vokabeln
der Konquistador, -en Teilnehmer an der spanischen Eroberung Süd- und Mit-
telamerikas im 16. Jahrhundert
der Nährstoff, -e Stoff, der für Aufbau und Erhaltung von Organismen not-
wendig ist, für Pflanzen z. B. Stickstoff (N), Phosphor (P),
Kalium (K)
der Agrarwissenschaftler, = Wissenschaftler der Agrarwissenschaften
die Agrarwissenschaft, -en auch Agronomie oder Landwirtschaftswissenschaft, wissen-
schaftliche Lehre vom Ackerbau
die Brandrodung, -en das Roden durch Verbrennen von Bäumen
roden (rodete / hat gerodet) Land für die Landwirtschaft nutzbar machen, z. B. durch
das Fällen oder Verbrennen von Bäumen
der Muschelkalk hier: durch Zerstoßen der kalkhaltigen Muschelschalen gewonnener Rohstoff